Eine wahre Geschichte aus dem Alltag einer Röntgenabteilung in einer Kinderklinik.
Es ist zwar schon ein paar Jahre her, dass sich folgendes zutrug, doch manches vergisst man nie:
Ankündigung:
Durchleuchtung: Ösophagus Darstellung
Patient: 6 Jahre jung
Indikation: Zustand nach massiver Verätzung mit unbekannter Flüssigkeit im Heimatland und nachfolgender Behandlung dort. Status?!
Soviel konnte ich der Anforderung auf diesem Stück Papier entnehmen. Mehr nicht. “Heimatland” ?! Welches Land?! Ist er schon hier?! Ich durchsuchte die Stationslisten: Nichts. Kein Kind mit diesem so ungewöhnlichen, hochwohlgeboren klingendem afrikanischen Namen. Also machte ich mich auf die Suche nach dem Arzt, der allgemein für Kinder die aus dem Ausland bei uns umsonst behandelt werden, zuständig ist. Er konnte mir sagen, dass das Kind aus Ostafrika kommend, in Frankfurt gelandet sei und sich bereits auf dem Weg zu uns befindet. Sein Zustand wäre schlecht, weshalb wir diesmal auf die übliche Eingewöhnungszeit in die fremde Umgebung und Kultur verzichten müssten. Wir brauchten den Status sehr schnell um schnell handeln zu können. Darum würde er ohne Umschweife nach seiner Ankunft sofort untersucht werden müssen.
Ich überlegte und stellte mir vor, wie das nach seiner Ankunft bei uns alles auf ihn wirkt: Von seiner Heimat weg: Von Mama und Papa: Ganz alleine: Die Sprache nicht verstehen, den langen Flug hinter sich: In einer für ihn total unbekannten, sterilen Welt ankommend. Sicher hatte er in seiner Heimat schon vieles hinter sich, denn er war dort schon länger in einem Krankenhaus. Nur helfen konnte man ihm dort nicht mehr. Ich überlegte, ob er wohl auch dort schon Kontrastmittel schluckten musste, bestimmt, und welche es da wohl gab, wie die wohl schmeckten und wie er diesen Schluckakt für sich, vielleicht als sehr schmerzvoll, oder eklig, oder beides empfand. Vielleicht gab es danach OPs, danach Schmerzen, keine gute Schmerztherapie vielleicht und er würde das alles verbinden und nichts als weinen und schreien ?! Er tat mir schon leid. Unsere Kontrastmittel schmecken zuckersüß. Aber das würde ich ihm nicht mal verständlich machen können. Klar: Mit lächelnden* jamm jamm* Geräuschen, aber Kinder sind nicht blöd! Ich machte mir Sorgen.
Mehr Gedanken konnte ich mir nicht machen, denn das Tagesgeschäft läuft weiter.
Etwa zwei Stunden später erhielt ich die Nachricht: Durchleuchtung in 10 Minuten. Er war angekommen J Vorbereitet war schon alles und ich war sehr gespannt auf den kleinen Burschen. Dann trat er durch die Tür: Ich weiß nicht warum, ich hatte erwartet, er wäre im Bett liegend in unsere Abteilung gefahren worden: Nein! Da schritt ein kleiner Mensch, hocherhobenen Hauptes durch diese Tür. So voller Stolz. Als ich ihn sah, erinnerte er mich sofort an Häuptlinge aus uralten Filmen: Stolz. Unendlich stolz J Diese Haltung J Dieser Gesichtsausdruck J Nicht wie ein Kind und doch ein Kind. Ich musste ihn wirklich dreimal anschauen. Dieses kranke Kind. Ich verspürte Respekt.
Ganz großen Respekt.
Und ich wusste: Das wird heute anders. Und es wurde anders.
Kein Schreien. Kein sich auf den Boden werfen. Kein nach Mama rufen. auch nicht nach Allah, was es auch oft gibt: Keine Fluchtversuche. Keine Diskussionen. Keine stundenlangen beruhigenden Worte: Nichts. Anders.
Nachdem er durch die Türe geschritten war, erforschten seine Augen ganz kurz und präzise den Raum. Sein Haupt hocherhoben. Keine Mimik. Er wusste wo er sich hinstellen sollte. Die Durchleuchtung war aufgestellt und er schritt unaufgefordert auf dessen Fußteil und positionierte sich korrekt. Kerzengerade. Ohne Mimik. Sooooo stolz. Ohne dass ihn jemand hätte auffordern müssen.
Nachdem ich ihn so beobachtet hatte, war mir klar, dass er wusste, dass man ihm nun einen Becher reichen würde. Ich sah es an seiner kurzen Augenbewegung Richtung Equipment. Ich sah ihn mir näher an. Sein Blick ging schon wieder stolz geradeaus. Der Kopf hoch. Den Körper in stolzer Spannung aufgerichtet, in einer Haltung, die hier kaum ein Kind aufweist.
Ich gebe zu, ich war fasziniert.
Der Oberarzt saß mittlerweile am Durchleuchtungspult und gab den Startschuss. Er sagte, wir würden nur einen kurzen Versuch haben, der unbedingt glücken müsste. Nur ein kurzes, gutes Bild. Auch er hatte Bedenken, dass der kleine Häuptling nur ein einziges Mal, wenn überhaupt schlucken würde. Also los:
Wie immer. Routiniert.
Ich nahm den Becher KM in die Hand um ihn dem kleinen Burschen zu reichen. Er blieb so stehen wie er stand. Keine Reaktion. Ich berührte seine Hand damit. Keine Reaktion. Ich führte ihm den Becher zum Mund. Er blickte weiter geradeaus und rührte sich nicht. Ich versuchte seine Hand zu nehmen und zum Becher zu führen. Sein Arm war wie versteinert und wollte sich nicht bewegen. Wieder führte ich den Becher an seine Lippen um ihm zu deuten, dass er trinken solle und redete sanft auf ihn ein. Seine Lippen spannten sich . Sein Blick sagte: Nichts. Er nahm seinen Kopf noch höher. So als wollte er mir sagen: Mit mir nicht! Kein Wort kam über seine Lippen, auch nicht wie oft bei anderen in seiner Muttersprache. Nichts als Stolz.
Ich wandte mich an den Oberarzt:
Ich fragte ihn, ob er weiß, ob und was das Kind noch zu sich nehmen konnte, auf dem Flug oder auf der Fahrt oder schon bei uns angekommen. Das Kind hatte keinen Tropf. Eine Schwester die anwesend war antwortete, dass sie gehört habe, dass er sich als er ankam, krampfhaft an einem kleinen gelben Tetrapack mit Banaen drauf, mit Strohhalm drin festgehalten hatte, das er wohl aus seiner Heimat mitgebracht hatte. Ich fragte ob das Getränk noch da sei. Sie wusste es nicht.
Ich wandte mich dem Oberarzt zu und tat ihm meine Gedanken kund: Dass ich nicht glaube, dass dieses Kind, das wie ein Häuptling dort kerzengerade und voller Stolz steht auch nur einmal die Lippen öffnen wird, wenn man ihm schon wieder einen Becher reicht. Dass ich glaube, dass man ihn aber überlisten könnte. Dass das Kind aber dafür kurz den Raum verlassen muss, weil es zu klug ist-Man sah es ihm an. Er verstand zwar unsere Sprache nicht, aber jede Änderung unseres Tonfalls, unseres Gesichtsausdruckes, kam bei ihm an. Das Besondere war an ihm, das man es nur spürte. Seine Haltung, sein Ausdruck, sein Blick blieben nichts als stolz. Nicht wie ein Kind. Gerade deshalb. Ich gebe zu ich sagte wörtlich: “DEN! Kann man nicht verarschen!” Denn ich hatte etwas vor. Und das hätte er sofort durchschaut. Nur mit einem kurzen Seitenblick!
Also führte die Schwester ihn hinaus durch die Türe: Ohne dass er auch nur einmal KM schlucken musste: Auf den Flur zurück. Ich bemerkte in seinem Gesicht, dass er irritiert war. Das kannte er nicht. Gut J Keine negativen Assoziationen. Kein Zwang. Konnte nur gut sein.
Ich hatte die Schwester angewiesen, diesen gewissen Tetrapack zu suchen. Sie fand ihn tatsächlich: Er war noch da – und kam damit zurück. Alle vermuteten, dass ich nun einen Teil des Inhalts in den Becher mit KM schütten würde, um die Farbe und den Geschmack zu imitieren. Meine Gedanken waren aber so, dass ich ganz weg von einer KM Durchleuchtungs Erinnerung wollte und deshalb das KM mit einer Spitze in den Tetrapack füllte, dessen ursprünglicher Inhalt sowieso nur noch dürftig war. Ich war nicht sicher, ob diese Mischung vielleicht Bläschen bildet und/ oder eine nicht brauchbare Verbindung, die kein verwertbares Bild erzeugen würde, teilte meine Zweifel auch dem Oberarzt mit. Wir beide waren uns aber einig: Einen Versuch ist es wert: Der Häuptling wird sowieso nicht aus dem Becher trinken und aus dem Tetra auch nur solange, wie es nach dem eigentlichen Inhalt schmeckt, weil er unendlichen Durst hat, aber nicht nach KM. Wir hatten also auch so nur einen Versuch, bei diesem schlauen, gebrandmarktem Kind, das so tat, als wäre es nie krank gewesen. Wir alle hatten uns geeinigt, dass wir lachen, schwätzen, rumlaufen, komische Sachen machen, bis auf den Doc am Pult natürlich und hofften, dass wir den kleinen Häuptling so überlisten. Neue Situation für ihn die wir nutzen wollten: Mit NUR einem Schluck von ihm : Hoffentlich. Der würde uns reichen.
Dann kam er wieder rein.
Ich steckte frohgemut einen neuen Strohhalm in den Tetra.
Wieder schritt er stolz und erhaben unaufgefordert an seinen Platz. Wartete offensichtlich auf den berühmten Becher, der nicht kam. J
Dann ging ich auf ihn zu. Den Tetrapack nebenbei in meiner Hand, ihm reichend mit den Worten : Komm trink erst mal was, Du wirst ja schrecklichen Durst haben nach der langen Reise, Durst und dann machen wir weiter. Wusste dass er mich nicht versteht, redete weiter….mit dem Herzen….denn Kinder verstehen das Herz J Tat so, als wäre mir etwas runtergefallen und bückte mich dabei. Er griff dabei nach dem Tetra. Sein Kopf und seine Haltung blieben dabei aufrecht und stolz. Unglaublich. Sein Blick ging kurz zur Seite: Die Schwester spielte mit ihren Haaren 😉 Der OA hatte die Beine gelangweilt auf dem Pult: Also alles so, als gelte der Moment gerade nicht dem Patienten: Außer dass er seinen Durst stillen darf:
Und das tat er nun ))))))))))))))
Juchuuuuuuuu J))))))
Er tat es ))))))))))
Mein Herz hüpfte )))))) Er soooooooooog an dem Strohhalm J Wie ein Ertrinkender.
Der Doc immer noch mit einem Bein auf dem Pult, mit dem andren aufs DL Pedal getreten:
Und wir hatte unsere Bilder ))))))))
Keine Bläschen. Gute Bilder.
Die Schwester hörte auf an ihren Haaren zu spielen.
Nur zweimal hat unser Häuptling tief am Strohhalm gesogen. Das war ja klar.
Aber das reichte!
Danach konnte er erfolgreich behandelt werden. Zwar über lange, lange Zeit, bis er endlich zurück in seine Heimat durfte, aber heute ist alles gut.