Ein Bericht von Elisabeth Rolfes über ihren Einsatz in Kalkutta, Indien
Rund 200 Augenpaare schauen uns interessiert, aufmerksam, erwartungsvoll entgegen. Ich lächele erst noch vorsichtig und verhalten in die Runde… und bekomme von allen ein strahlendes Lächeln zurück!
So ging es mir vor sechs Wochen, als ich das erste Mal morgens nach einer einstündigen Autofahrt durch den Verkehrsdschungel Kalkuttas vor einer unserer mobilen Ambulanzen stand. Und genau dieses Phänomen hat mich in den vergangenen sechs Wochen meines Aufenthalts in Kalkutta immer wieder fasziniert – die Menschen leben unter verheerenden Bedingungen in Dreck und Elend, verharren bis zu zehn Stunden trotz Monsunregen oder brütender Hitze in der Warteschlange… und lächeln mich an!
Die letzten sechs Wochen haben mich fasziniert und in den Bann gezogen, für Indien und seine Bewohner begeistert und mich mehr als einmal traurig und wütend gemacht über diese ungerechten und gnadenlosen Verhältnisse, in denen manche Kinder aufwachsen müssen.
So sahen wir beispielsweise mit (un-)schöner Regelmäßigkeit völlig unterernährte Kinder. Kinder, die mit zwei Jahren so schwer waren wie bei uns ein Säugling mit zwei Monaten, die trockene struppige Haare hatten, eingefallene Haut wie ein alter Greis und einen dicken (Hunger-)Bauch. Und dabei auf den ersten Blick noch erstaunlich fit! Ein kleiner Zwerg namens Milas, dessen Eltern die Aufnahme auf die Krankenstation ablehnten, schaffte es tatsächlich als einer der ganz wenigen Kinder, sich aus dem Arm der Mutter zu kämpfen, um dann schreiend vor der Spritze unserer Impfschwester davonzulaufen und sich in die nahestehenden Häuser zu flüchten! Da war ich schon etwas weniger besorgt, als die Eltern ihn „für eine Woche“ wieder mit nach Hause nahmen.
Das ist leider oft der Fall: Wir empfehlen eine stationäre Aufnahme, sei es ins Krankenhaus oder auf unsere Kinderstation, und Patient oder Angehörige wollen nicht. Gerade wenn es um kleine Kinder ging, musste ich mich immer wieder selbst ermahnen, mich nicht über die Eltern zu ärgern, sondern eine möglichst gute ambulante Therapie einzuleiten, eine kurze und knappe Ernährungsberatung durchzuführen und die Eltern genau zu instruieren, auf welche Alarmzeichen sie bei den Kindern achten müssen. Und tatsächlich kamen in diesem Fall des kleinen Milas die Eltern eine Woche später wieder, sie hatten die Probleme mit der Versorgung der anderen Kinder geklärt und willigten in die Aufnahme auf die Kinderstation ein, wo ihr kleiner Sohn dann aufgepäppelt werden konnte.
Aber wenn es auch faszinierend ist, wie zäh die Kinder körperlich oft sind, muss man sich immer wieder vor Augen führen, dass unterernährte Kinder vor allem in den ersten zwei Lebensjahren auch geistig völlig verkümmern – und das kann man leider auch durch noch so gute Feeding-Programme nicht wieder rückgängig machen.
Ein anderes Mal sah ich einen dreijährigen Jungen, der ebenfalls nur gut sechs Kilogramm wog – und von diesem Gewicht war sicherlich ein Viertel nur der Kopf: Der Kleine hatte einen Hydrocephalus (Wasserkopf), eine Erkrankung, bei der das Hirnwasser nicht abfliessen kann und das sich anstauende Hirnwasser langsam mehr und mehr das umgebende Gehirn schädigt. Eine Operation, bei der ein kleiner Shunt das Hirnwasser in den Bauchraum ableitet, war geplant gewesen, die Eltern hatten sie sich aber nicht leisten können.
Sehr beeindruckt hat mich auch ein Hausbesuch bei Familien mit Tuberkulose-Patienten, die in der Regel mindestens zweimal während einer sechsmonatigen Therapie von unseren Mitarbeitern besucht werden. Die Menschen wohnen dort in winzigen Zimmerchen in mehrstöckigen Häusern, dazwischen enge Häuserschluchten, wo nie die Sonne hinkommt, haben ein zehn-Quadratmeter-Zimmer zu viert bis zehnt; essen, schlafen und kochen dort auf und unter einem großen Bett, das meistens den Raum schon ausfüllt und teilen sich ein Gemeinschaftsklo mit Hunderten anderer Menschen zusammen.
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