Am 16. Januar 2013 ist Rainer Schilling, eine prägende Gestalt der Schwulen- und Aidshilfebewegung, 70 geworden. Sein Freund und Weggefährte Bernd Aretz widmet ihm einen sehr persönlichen Geburtstagsgruß:
Rainer Schilling, das ist (auch) diese schillernde Persönlichkeit, die des Öfteren stilvoll angefummelt im Jackenkostüm mit Brille Tresendienste bei den Faschingsfesten des Vereins für Sexuelle Gleichberechtigung (VSG) in München ableistete. Die Dame war so überzeugend, dass selbst ihr fester Freund sie nicht erkannte. Wenn Rainer diese kleine Begebenheit erzählt, schimmert in seinen Augen die diebische Freude an der Zweitpersönlichkeit wieder auf, die sogar den Lebensabschnittsgefährten foppen konnte. Diese Momente, in denen man nicht über notwendige Veränderungen im schwulen Leben oder rund um HIV reden muss, sind mal ganz ernsthaft, mal ganz heiter. Und sein Anteilnehmen und seine Hilfestellungen strafen Rainer Lügen, wenn er behauptet, ihn hätten immer nur die Strukturen interessiert, nicht das individuelle Elend – er war vielleicht nicht auf der Suche danach, aber er hatte immer schon sehr viel Verständnis dafür.
Ethik in den zwischenmenschlichen Beziehungen
Claus-Wilhelm Klinker hat das in einem Beitrag zu Rainers 65. Geburtstag so gewürdigt: „Hast du womöglich ein dickes Fell? Nein, das hast du nicht, Rainer. Du bist ziemlich schmerzempfindlich. Auch wenn deine Schmerzen dich nur selten am aufrechten Gang gehindert haben. Nein, Dein Erfolgsgeheimnis ist viel einfacher. Es ist die Liebe zu den gewöhnlichen schwulen Menschen. Und wer von uns schwulen Menschen ist denn bitte NICHT gewöhnlich? Du magst sie einfach, das ganze schwule Haus mit all seinen Nischen, Verliesen, Balkonen, Kellern und Abgründen. Und weil du die Schwulen magst und so nimmst, wie sie nun mal geworden sind, willst du erstens, dass sie überleben. Zweitens, dass es ihnen gut geht. Drittens, dass es auch Ethik gibt, in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Egal, welchen Lebensstil sie haben. Denn Mensch ist Mensch. Und Ethik macht den Menschen zum Menschen.“
Eine andere Erinnerung: HOMOLULU im Sommer 1979 in Frankfurt, ein Kongress für queeres Leben mit eigener Tageszeitung, Theater, Kunst, Musik und Möglichkeiten zur Begegnung „frei vom Zwang, sich gegen heterosexuelle Normen abzugrenzen“. Am 24. Juli berichtete die Redaktion in der ersten Nummer von „HOMOLULU – schwule tageszeitung“ unter „soeben eingetroffen“: „Der Reigen fängt an sich zu schließen. Es trafen im Laufe des Tages folgende Persönlichkeiten in HOMOLULU ein: Rosa von Praunheim, Manfred Herzer, Rainer Schilling, …“. Rainer konnte sich als intellektueller Kulturmensch an Artikeln erfreuen wie „Hungersnot auf Homolulu – oder ‚Das Essen‘, Tragödie in mehreren Akten“. Insgesamt aber fand er die Veranstaltung „merkwürdig“, wie er mir gegenüber einmal sagte: „Ich war wohl schon zu alt, und die meisten Teilnehmer waren da, um Sex zu haben. Das war aber nicht mein Bestreben. Deswegen reagiere ich immer so allergisch, wenn die Bewegung die kommerziellen Orte so abwehrt, selbst aber im Grunde nichts anderes macht. Gespräche waren kaum möglich. Homolulu wurde abgefeiert, als ob man die Utopie hätte, aber es war offensichtlich, dass man auch im Umgang der Teilnehmer untereinander weit davon entfernt war. Die Berichterstattung war grottenschlecht.“
Die Kunst des gepflegten Halbsatzes
Wichtiger als die kleinen Selbstbekenntnisse, großen Rechtfertigungen und die Strategiepläne waren ihm da wahrscheinlich die Übersetzungen schweinischer Ausdrücke und Anfragen vom Deutschen ins Niederländische. Damit konnte man zumindest etwas anfangen, und Kommunikation zu fördern, war ihm immer schon ein Anliegen.
Wer Rainer kennt und seinen – gemeinsam mit ihm geglätteten – Kommentar zu Homolulu liest, vermisst vielleicht die Schillingschen Halbsätze, die mythenmetzschen Abschweifungen über den Sinn der Schwulenehe oder die Frage „Sind wir dafür auf die Straße gegangen?“. Michael Bochow kommentiert Rainers unnachahmliche Sprechweise wie folgt: „In einem frühen Leben war Rainer ebenfalls Germanist. Deshalb seine Vorliebe, Präventionsbotschaften fein ziseliert auf die Goldwaage zu legen. … Rainer entwickelte Immunisierungsstrategien gegen ungerechtfertigte, bisweilen bösartige Kritik. Zu seinen rhetorischen Kampfinstrumenten gehörte auch die Kunst des unvollendeten Satzes, frei nach der Devise: Sollen die anderen doch erst mal zeigen, dass sie es besser wissen Auf diese Weise Kontrahenten auszuhebeln, funktionierte oft besser als Judo.“
Zur Zeit von Homolulu 1979 war Rainer schon 36 Jahre alt. Seine Zeiten als bisexuelle studentische Randfigur der Münchener Schickeria lagen weit zurück, die ersten schwulenpolitischen Meriten waren verdient. Er war über die Liebe zu einem Mann zum Chefdenker des Vereins für sexuelle … Gleichgültigkeit, oder wie hieß der noch? … na ja, auf jeden Fall VSG, avanciert. Er prägte die Zeitschrift Emanzipation in München und engagierte sich dann bei Torso, dessen Layout und Ästhetik meinen Hund Holmes veranlasste, ganz gegen seine Gewohnheit das Heft zu abonnieren. Das Layout von „Schwul – na und?“, des „Torso“, der Stadtführer „München von hinten“ und „Berlin von hinten“ und die Materialen, deren Herstellung er für die DAH zu verantworten hatte, dürften die Sichtweise auf schwule Ästhetik in Deutschlands Fotokunst geändert haben.
Selbstverständlich gab es im Adressteil der Stadtführer die Ansprechpartner für sexuell übertragbare Infektionen. Er bot der Szene, auch als Schwulenreferent der Deutschen AIDS-Hilfe, Praktisches, Nützliches, Geschichte und Gegenwart, Literatur, Poesie, Fotografie und Grafik. Er pflegte, wo immer möglich, den Kontakt zu Autoren, Fotografen, Künstlern. Viele, die einen großen Namen haben, zum Beispiel Detlev Meyer und Ralf König, waren vertreten, und auch die Protagonisten der Sexualforschung wie Magnus Hirschfeld kamen nicht zu kurz. Vom großen Namen allein aber kann man nicht leben. Ich fand immer wieder bemerkenswert, wie fair Rainer Schilling mit den Künstlern umging und juristische Knebelparagrafen entschieden ablehnte.
Kommunikation zu fördern ist ihm ein Anliegen
Spannend und fruchtbar waren die inhaltlichen Diskussionen mit Rainer. Wir hatten im DAH-Vorstand, dem ich seit 1990 angehörte, den Wunsch, die schwule Vielfalt abzubilden. Rainer hat das um die schwule Solidarität ergänzt und ein ganzes Tableau schwuler Lebenswelten angeboten, von Hans Peter Hauschild im Lederdress bis zu Charlotte von Mahlsdorf. Das war kongenial umgesetzt. Die Plakate der „Ära Schilling“ hingen in den Kneipen und Schlafzimmern, in Saunen und Cafés, gingen auf internationalen Kongressen weg wie warme Semmeln und haben längst Eingang in Kunstausstellungen und Sammlungen gefunden.
Hin und wieder hatte er sogar – was für und nicht gegen ihn spricht – Ärger mit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Er bestritt aber, Pornografie hergestellt zu haben, und berief sich immer erfolgreich auf einen Aufklärungsvorbehalt. Heute, mit einigem Abstand, kann man sehen, dass auch der Kunstvorbehalt eine Indizierung nicht zugelassen hätte. Die Zensur war trotzdem erfolgreich, weil nach solchen Verfahren einfach der Nachdruck durch den Kostenträger verweigert wurde.
Wer über Rainers Privatleben etwas erfahren möchte, das ja auch immer politisch ist, nehme einfach am Berliner schwulen Leben teil oder gehe Samstagmittags in seinem Kiez am Nollendorfplatz ins Café Reza. Dort wird er Rainer mit hoher Wahrscheinlichkeit begegnen und selber fragen können, was ihn heute so umtreibt – die Freude an Oper und Konzert, die Sorge um seine Kusine Ellinor in München, um manche Freunde, die über die ganze Republik verteilt leben, Kulinarisches und die neuesten hypochondrischen Erkrankungen.
Unterm Strich ist mir Rainer ein ganz wichtiger Freund geworden, weil er ist, wie er ist, sensibel bis chaotisch, und die anderen annimmt, wie sie sind. Es ist gut, dass es ihn gibt.
Links
„Die Haut ist dünner geworden; das bleibt“: Bernd Aretz im Gespräch mit Rainer Schilling, veröffentlicht in HIV & more, Sonderausgabe 2011
„Rainer Schilling geht in Rente“: Beitrag von Bernd Aretz, veröffentlich in der Ausgabe März/April 2008 von posT, Magazin der Hessischen AIDS-Hilfen und der Hannöverschen AIDS-Hilfe, S. 41 ff. (PDF-Datei auf ondamaris.de)
„Heiße Lava“: Artikel zu Homolulu, veröffentlicht im „Spiegel“ vom 16.07.1979