Menschen mit HIV sind sexuell nicht mehr infektiös. Diese Erkenntnis rührt an eherne Gewissheiten der Aidspolitik. Experten reagieren ignorant und Positive ungläubig. Dabei wäre es an der Zeit, einander mehr Vertrauen zu schenken. Ein Kommentar von Rainer Hörmann
Veränderungen fallen dann besonders schwer, wenn man dafür ein lang gepflegtes Selbstbild aufgeben muss. Niemand lässt leicht von liebgewonnenen „Wahrheiten“, wenn er im unsicheren Terrain des „Neuen“ um seine Bedeutung fürchten muss. Im Nachdenken über das vor fünf Jahren veröffentlichte EKAF-Statement scheint es mir, als markiere es eine Zäsur. 2008 haben die Schweizer mutig ausgesprochen, was viele längst wussten: HIV-Positive in Therapie sind sexuell nicht mehr infektiös. Die Reaktionen waren – gelinde gesagt – skeptisch. Vor einem „Persilschein der Nichtinfektiosität“ wurde gewarnt. Könnte es sein, dass die folgende Debatte an überholten Selbstbildern gekratzt hat? An einem Selbstbild von Medizin und Expertentum: hier die Fachleute, da die (stets dummen) Betroffenen, die außer Kontrolle geraten, wenn man die Zügel lockert?
Aufklärung ist kein Geistesblitz im Elfenbeinturm, sondern ein Dialog.
Aufklärung ist nicht nur Wissenstransfer (und darin enthalten: Verhaltensregeln). Sie dient auch dazu, Menschen zu ermächtigen, sich aufgrund von Wissen eine eigene Meinung zu bilden und danach zu handeln. Aufklärung ist nicht ein einmaliges Geschehen, sondern ein kontinuierlicher Prozess! Aufklärung ist auch kein Geistesblitz im Elfenbeinturm, sondern ein Dialog.
Über Jahre hinweg hat sich ein Sprechen über HIV/Aids verselbstständigt, das so tut, als gäbe es auf der einen Seite die Wissenden (oder: die Aufgeklärten) und auf der anderen Seite die – gefühlt – riesige Masse der Unwissenden, die es aufzuklären gilt. Mehr als 30 Jahre nach Ausbruch der Aidsepidemie hält sich diese Grenzziehung hartnäckig – und geht völlig an der Realität vorbei. Menschen mit einer HIV-Infektion sind längst gut organisiert und besitzen sehr viel Wissen über sich und die Erkrankung. Die Kritik am EKAF-Statement ließ eine gewisse Überheblichkeit auf Seiten der „Experten“ aufblitzen, die dieses geballte Wissen ignorierten und die Lebenswelt der Betroffenen nicht als gleichwertig, sondern bestenfalls als zweitrangig wahrzunehmen vermochten.
Mit dem EKAF-Disput kehrten aber auch Muster und Bilder wieder, die die Anfangszeit der Aidsdebatte prägten. Wie funktioniert Aidsaufklärung? Welches Verhalten ist korrekt und muss moralisch, notfalls mit dem Strafrecht, eingefordert werden? Es gehört zu den Erfolgsgeschichten, dass die Aidshilfen nach Ausbruch der Epidemie sehr schnell eine alltagstaugliche Praxis des Safer Sex vorschlugen, ohne die Lust auf die Lust zu verteufeln.
Es wurde suggeriert, mit EKAF würde der Teufel erneut aus der Flasche gelassen
Der „Teufel“ begann freilich ein mediales Eigenleben zu führen: in Gestalt der tickenden Zeitbombe, der Aidsmonster, die durch die Welt ziehen und nichts anderes im Sinn haben, als Unschuldige (!) anzustecken. In den ersten Reaktionen auf das EKAF-Statement konnte man sich an dieses Schreckensbild erinnert fühlen: Es wurde suggeriert, mit einer solchen Einschätzung würde der Teufel erneut aus der Flasche gelassen: Leichtsinnig und leichtgläubig ist, wer auf das EKAF-Statement hereinfällt! Und HIV-Positive, die gerade gehofft hatten, das Bild des Teufels hinter sich lassen zu können, sahen sich unversehens wieder in der Rolle des Sündenbocks. Ihnen hatte man erfolgreich die Alleinverantwortung für die Aidsprävention aufgebürdet, um alle anderen zu entlasten. Und die sollten sie nicht so einfach wieder loswerden.
Den HIV-Positiven – wie den Schwulen wohl generell – wird eine Verführbarkeit attestiert, eine liederliche Verantwortungslosigkeit, die einige Experten allein durch rigide Verhaltensvorschriften im Zaum gehalten sehen. Wehret den Anfängen – unter dieses Motto lässt sich die Kritik an EKAF zusammenfassen. Eine Kritik, die weitaus mehr auf moralischen Ansichten denn auf wissenschaftlichen Studien und Fakten beruhte.
Dem Gegenüber Freiheiten einzuräumen, gehört nicht zu den Stärken einer Expertenkultur
Sowenig wie einst der Teufel in Gestalt lebender HIV-Terroristen um die Ecke schlich, so wenig muss man heute HIV-Positiven, deren Virenlast seit Monaten unter der Nachweisgrenze ist, einreden, es stecke (immer noch) der Teufel in ihnen – er zeige sich nur nicht. Es mag schon sein, dass die Virenzahl bei Abbruch der notwendigen Therapie wieder ansteigt. Dann greifen all die Regeln und Empfehlungen, die vor der EKAF-Erklärung galten und heute noch immer gelten.
Die EKAF-Debatte war also möglicherweise weniger eine Debatte um medizinische Fakten als darum, wie weit man HIV-Infizierten bereits trauen darf. Denn aus dem Misstrauen in die Verantwortung des anderen erwächst auch eine wohlige Lust, ihn zu kontrollieren und zu bevormunden. Eine Lust, die sich aus einem tradierten Experten-Selbstbild speist, das im Gegenüber stets ein Objekt sieht, das es zu lenken und vor sich selbst zu schützen gilt.
Das Gegenüber ernst zu nehmen, ihm Freiheiten einzuräumen, gehört nicht zu den Stärken einer – nebenbei bemerkt: männlich dominierten – Expertenkultur. Es doch zu tun, heißt Abschied vom eigenen Selbstbild zu nehmen. Und von jenem behaglichen Gefühl des Besserwissens, das einem auch heute noch in mancher Arztpraxis und in so mancher gut gemeinten „Aufklärungskampagne“ unangenehm aufstößt.
Menschen mit HIV brauchen gute Medizin, keine Teufelsaustreibung
Und auf Seiten der Betroffenen? Dort herrscht keine Lust auf Bevormundung. Eher doch Unglaube. Bin ich wirklich nicht mehr ansteckend? Vorsichtig regt sich ein neues Selbstbewusstsein, ein Aufbegehren gegen eine scheinbar fest zementierte Rolle im System der Verantwortlichkeiten. War es nicht so: Positive haben eine besondere (!) Verantwortung? Das EKAF-Statement ist also auch hier weniger eine Kenntnisnahme medizinischer Infos, als vielmehr der Versuch, Handlungsmacht wiederzuerlangen – sowohl im Aufklärungsdiskurs als auch ganz konkret im täglichen Leben. Die tradierte Rolle des auf ewig infektiösen Teufels wird endlich ad acta gelegt.
Menschen mit HIV brauchen gute Medizin, keine Teufelsaustreibung. Sie brauchen gut und sorgfältig aufbereitetes Wissen. Zum Beispiel darüber, unter welchen Umständen ihre Viruslast wieder ansteigen könnte. „Positive“ – sofern der Begriff noch sinnvoll ist – brauchen keine in Stein gemeißelten Vorschriften. Angesichts des medizinischen Fortschritts, angesichts eines veränderten gesellschaftlichen Klimas, ist genug Raum, Empfehlungen zu entwickeln, zu debattieren, zu verändern und den Gegebenheiten anzupassen. Das verlangt viel von den Betroffenen, es verlangt vielleicht zu viel von den Experten. Es verlangt die Stärke und die Fähigkeit, Konzepte miteinander zu erarbeiten, und die Fähigkeit, Ansichten zu hinterfragen und im Austausch mit Betroffenen zu verändern. Diese Stärke wird vermutlich von vielen immer noch als Schwäche angesehen, als – um in den oben bemühten Bildern zu bleiben – ein Abfall vom Glauben, der einen doch so lange vor dem Teufel Aids geschützt hat.
Rainer Hörmann ist Journalist, Buchautor und Blogger. Auf „Samstag ist ein guter Tag“ schreibt er regelmäßig über Ereignisse der schwulen Welt. Sein Coming-out Mitte der 1980er Jahre verband sich gleich mit drei Jahren Engagement in der damals gerade gegründeten Aidshilfe Tübingen-Reutlingen. In der Rückschau erscheinen sie ihm als gute Lehrjahre – vor allem in Sachen Solidarität und Zusammenhalt in Zeiten, da keiner wusste, was kommen würde. Seit 1989 lebt Rainer Hörmann in Berlin.
Weitere Beiträge in dieser Serie:
HIV-positiv + behandelt = nicht ansteckend! Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 1
Gar keine Angst mehr – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 2
Effektiver Schutz mit Imageproblem – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 3
Taugt die HIV-Therapie zur HIV-Prävention? Ein Expertenstreit – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 4
Gesundes Volksempfinden – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 5
Es geht um Menschen, nicht nur um Laborwerte – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 6
Ein wichtiges Signal für das Zusammenleben – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 7
Die Lust, anderen etwas vorzuschreiben – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 8