Ich muss so zehn oder elf Jahre alt gewesen sein. Ja stimmt, der nächste Umzug stand bevor und da kam ich nach dem Sommer in die weiterführende Schule. Meine Mutter dachte sich wohl, es sei mal wieder an der Zeit, dass ihr Sohn einen Check-up beim Arzt brauche. Aber vielleicht auch nicht: Hat man damals so etwas überhaupt gekannt? Vielleicht war ich auch zu dünn (auf den Fotos von damals halte ich mich eher für pummelig – mit der jetzigen Pädiater-Brille), vielleicht hatte ich auch zwei Erkältungen zuviel gehabt in der Saison. Vielleicht hatte auch die Schwiegermutter was gesagt – die lebte damals ein paar Strassenzüge weiter. “Der Kleine, dem kann man ja das Vaterunser durch die Rippen blasen.”
Jedenfalls schleifte sie mich zur Kinderärztin am Ort. Das war irgendwo weiter hinten im Alten Ortskern, gleich nebem dem Bäcker mit den Milchbrötchen zum Sonntag und rechts neben “Lebensmittel-Wurtz”, aus dem später ein LIDL und noch später ein leeres Ladengeschäft wurde. Am Ende durfte ich mir bei Herrn Wurtz ein Wassereis holen, diese grüne Chemie in Plastik, die einem entweder über die Hände oder das Kinn lief, aber ungemein lecker nach künstlichem Waldmeister schmeckte.
Alles war weiß gekachelt. Der Boden, die Wände, im Hintergrund sah ich ein Fenster ohne Vorhänge, das auf den Hinterhof ging, da bellte ein Hund. Frau Doktor trug auch gekachelt. Und hatte einen Dutt. Und eine goldgewirkte Kette, die ihre Brille am Hals führte. Später beim Rezepterausschreiben hat sie sie aufgesetzt und trotzdem über den Brillenrand geschielt. Fielmann war noch nicht erfunden. An ihre Stimme kann ich mich nicht erinnern, sie sprach wohl auch nur mit meiner Mutter und nicht mit ihrem Patienten.
Ihr Stethoskop war kalt – das war da tatsächlich noch so, es waren die Zeiten, in denen sich das “kalte Stethoskop” ins kollektive Gedächtnis aller heutigen Eltern einbrannte – und ihre Hände auch. Ich saß auf einer dunkelgrünen Liege, die komische Geräusche von sich gab, wenn die Haut meiner Oberschenkel sich beim Lagewechsel abklebten. Am ätzendsten war das In-Den-Hals-Schauen, das machte sie mit einem Kaffeelöffel, ich musste würgen und meine Augen schossen voll mit Tränen. Später im HNO-Praktikum werde ich mich bei meinem Kommilitonen entschuldigen, dass er von meiner Uvula nicht viel zu sehen bekommt, weil sich mein Körper vehement gegen das Zungehalten und Spatelgestochere wehrt.
Das Ergebnis der Komplettuntersuchung war ein Konsil beim örtlichen Zahnarzt mit nachfolgend sicherlich wöchentlichen Zahnfüllungen (ohne Betäubung, auch nach dem Umzug) und einer Verordnung über Krankengymnastik wegen einer “linkskonvexen Skoliose” (sicherlich mein erster medizinscher Begriff, den ich aussprach ohne zu wissen, was er bedeutet). Es folgte ein Rumliegen auf nach Fahrradgummi und Schweiss riechenden Matten in einer Gruppe anderer Skoliotiker, für die das wichtigste war, den Katzenbuckel formvollend zu bewegen. Meine Spezialturnübung war die Kerze.Ich war der Kleinste im Kurs. Die anderen hatten schon Pickel.
Beide Therapien wurden von späteren Kollegen als insuffizient eingestuft – der Zahnarzt hatte finanzielle Interessen gehabt, und die Gymnastik brachte einmal pro Woche auch keinen großen Benefit. Immerhin durfte ich zu letzterem alleine gehen, die physiotherapeutische Praxis lag zwei Straßen weiter von zu Hause – ich durfte sogar auf dem Rezept unterschreiben, wenn ich da war. Das bedeutete so etwas wie Erwachsensein.
Frau Doktor ist dann bald in Rente gegangen und wir sind umgezogen. Glücklicherweise war ich nie wirklich schwer krank, abgesehen von einer Lungenentzündung mit zwölf und einem Pfeifferschen Drüsenfieber mit Sweet Little Sixteen (zwei Wochen nach meiner damaligen Flamme). Eine Arztpraxis sah ich erst wieder als Zivi. Für eine Krankschreibung.
Meine Mutter – Kinderkrankenschwester aus den Fünfziger/Sechziger Jahren – hatte wohl beschlossen, es geht auch ohne … solche … Ärzte.