Am 26. März 2013 feiert der Sozialwissenschaftler Michael Bochow seinen 65. Geburtstag. Viele kennen ihn von den „Bochow-Studien“ zu Lebensstilen, Sex-, Schutz- und Risikoverhalten schwuler Männer, die seit Ende der 1980er Jahre Daten und Empfehlungen für die Präventionsarbeit mit schwulen und bisexuellen Männern liefern. Im Dezember 2012 ist der Bericht zur neunten Befragung erschienen, die 2010 in Zusammenarbeit mit dem European MSM Internet Survey durchgeführt wurde und an der weit über 50.000 Männer teilgenommen haben. Dirk Sander, Schwulenreferent der Deutschen AIDS-Hilfe, sprach mit ihm über die Anfänge und die Erfolge der empirischen Präventionsforschung in Deutschland.
Wie ist es eigentlich damals zu der ersten Studie „Schwule Männer und Aids“ unter deiner Federführung gekommen?
Das war alles eine glückliche Fügung. In den 1980er Jahren habe ich mir häufig im Buchladen Prinz Eisenherz die französische Schwulenzeitschrift „Gai Pied“ gekauft. Erst mal, weil mir das Französische lag, aber ich fand die auch anspruchsvoller als so manches deutsche Blättchen damals, so in der Preisklasse von „Du und dein Glied“. Und im Gai Pied war 1985 der erste Fragebogen von Michael Pollak und Marie-Ange Schiltz zu schwulen Männern und Aids eingeheftet. Das hat mich interessiert, so etwas gab es in Deutschland noch gar nicht.
Warum lag dir das Französische denn so?
Ich war fünf Jahre in Ägypten auf einer französischen Schule und habe die Sprache auch während meines Politologie-Studiums in Hamburg und Berlin gepflegt. Und während meiner Assistentenzeit am Institut für Soziologie der FU Berlin und meiner Projektzeit am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung war die französische Soziologie für mich auch bedeutsam.
Und nach deiner Entdeckung im Gay Pied hast du gedacht, so eine Studie wäre auch hier sinnvoll?
Das kam später. Der Lebensgefährte von Christa Brunswicker, die in der Deutschen AIDS-Hilfe für Öffentlichkeitsarbeit zuständig war, war Bibliothekar im Max-Planck-Institut. Er kam auf mich zu und sagte, dass die DAH einen Soziologen für eine Medienakzeptanzanalyse suche, dem man nicht erklären müsse, was eine Klappe ist [öffentliche Toilette, die von Männern aufgesucht wird, um dort Sex mit Männern zu haben, d. Red.]. Das war sehr vornehm gesagt, aber natürlich haben die mich gemeint. Sie fragten: Kennst du jemanden? Ich habe gesagt: Yes, myself. Und so nahm das Unglück seinen Lauf.
Eine Medienakzeptanzanalyse?
Na ja, die DAH war damals noch ganz jung, blauäugig, und hatte wohl einige Projekte, in die sie für damalige Verhältnisse einiges an Geld investiert hatte, in den Sand gesetzt. Das wollten sie in Zukunft vermeiden. Und mich fanden sie seriös. Ich habe dann vorgeschlagen, dass man diese Medienakzeptanzanalyse ja etwas erweitern könnte. „Liebe Leute“, habe ich gesagt, „ich frage gerne nach den Medien und ob die Farbe euer Faltblättchen konveniert, aber mich interessieren viel mehr die Lebenswelten der Schwulen. Ich schlage vor, wie die Franzosen vorzugehen und vier Seiten Fragebogen in der Siegessäule und ähnlichen westdeutschen Schwulenmagazinen abzudrucken. In Frankreich haben 2000 Leute den Fragebogen ausgefüllt, das hat sich bewährt, lasst uns das mal in Deutschland versuchen.“
Mich interessieren die Lebenswelten der Schwulen
Ich habe dann einen Brief an Michael Pollak geschrieben – auf Französisch – und ihn gefragt, ob ich seinen Fragebogen für eine deutsche Erhebung bearbeiten dürfe. Ich wusste nicht, dass er Österreicher ist, seine zustimmende Antwort erhielt ich auf Deutsch. Michael Pollack hat mir später erzählt, er sei ganz gerührt gewesen, dass ich überhaupt seine Erlaubnis eingeholt habe – andere haben das einfach geklaut. Aber diese Nachfrage war ein Glücksfall, weil sich darüber eine Freundschaft mit ihm und dann mit seiner Kollegin Marie-Ange Schiltz entwickelt hat. Hinzu kamen in den folgenden Jahren auch die englischen Kollegen von einem Vorläufer von Sigma Research. Es bildete sich ein regelrechtes Forschungsnetzwerk, und ohne dieses Unterstützungsnetzwerk wäre vieles sicher nicht so gut gelaufen.
Es gab ja vorher nur die Studie von Dannecker und Reiche „Der gewöhnliche Homosexuelle“ aus den Siebzigern, aber da spielte ja Aids noch keine Rolle.
Richtig. Martin Dannecker war parallel, 1987, vom Bundesministerium für Gesundheit beauftragt worden, diese Studie zu wiederholen, diesmal aber unter Berücksichtigung von HIV/Aids. Das gab allerdings reichlich Probleme. Der Bundesverband Homosexualität (BVH) verhängte einen Boykott über Danneckers Befragung: Er forsche im Auftrag einer reaktionären Bundesregierung die Schwulen aus. Es war damals die Zeit des Volkszählungsboykotts. Der vom BVH proklamierte Boykott hatte, wie sich später zeigen sollte, aber kaum Auswirkungen auf seinen Rücklauf. Ich konnte relativ unbehelligt für die DAH die erste Befragung durchführen. Für den BVH war die DAH ja ein schwuler Laden, da trauten sie sich nicht, offen zum Boykott aufzurufen.
Und Martin konnte seine Studie auch durchführen?
Ja, ja, es gab dann halt zwei Studien. Wir hatten im ersten Anlauf 900 auswertbare Fragebögen bekommen, Martin etwas über 1000. Und er hat dann einen dicken Bericht geschrieben, während von mir erwartet wurde, einen schnellen Bericht abzuliefern. Das habe ich dann auch getan. Martin hat mich damals doch etwas misstrauisch beäugt: Was will denn dieser hergelaufene Soziologe auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft? Aber letztendlich war das, um aus „Casablanca“ zu zitieren, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Wie kam deine erste Erhebung in der DAH und in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) an?
Die fanden das ausgesprochen hilfreich. 1988 kam dann schon die zweite Studie, 1991 die dritte. Bei der ersten hatten wir wie gesagt 900 ausgefüllte Fragebögen, das fanden wir damals sensationell vor dem Hintergrund des Volkszählungsboykotts und des Boykotts gegen Martin Dannecker. In der zweiten Erhebung waren es dann so 1200, und in der dritten waren es schon über 3000 Befragte. Das war ja alles mit Fragebogenbeilagen in den schwulen Magazinen, online gab es da noch nicht. Bei der zweiten Befragung gab es aber noch eine unschöne Mitgliederversammlung der Deutschen AIDS-Hilfe: Die Erhebung war schon gelaufen, da beschloss die Mitgliederversammlung, dass die Fragebögen nicht eingegeben und auch nicht ausgewertet werden dürfen. Da war ich nun Gott sei Dank aber schon selbstbewusst genug, dass ich gesagt habe: Liebe Leute, ihr könnt sonst was beschließen; hier sind öffentliche Gelder eingesetzt worden, ich habe einen Vertrag abgeschlossen und ich schreibe einen Bericht! Und wenn ihr den nicht wollt, schicke ich den eben an die BZgA. Hilfreich für mich dabei war auch mein europäisches Netzwerk von Kollegen in Frankreich, England und den Niederlanden, die mich moralisch unterstützt haben. Dieses Netz besteht in modifizierter Form bis heute.
Das kann man ja zeithistorisch verstehen: ein sehr ungutes Gefühl, dass der Staat mehr über das Sexleben der Schwulen weiß als die Schwulen selber. Diese Bedenken hört man auch heute noch vereinzelt. Die Masse der Schwulen scheint das aber locker zu sehen, die Rücklaufquoten konnten von Erhebung zu Erhebung gesteigert werden. Vermutlich hat auch das Internet da eine gewisse Sicherheit bzw. Anonymität vermittelt.
In den Studien ging es ja nicht nur um die HIV-Übertragungswege und das Sexleben der Schwulen, sondern auch um deren Lebenswelten. Ich habe zum Beispiel Anfang der neunziger Jahre Fragen zur Gewalt gegen Schwule in den Fragebogen aufgenommen. Es gab viele Annahmen dazu, aber kein deutschlandweites Erhebungsinstrument, welches Gewalterfahrungen als Indikator des sozialen Klimas erfasst hat. Nimmt Gewalt zu, oder wird sie nur sichtbarer, weil mehr darüber berichtet wird? Und dann haben wir das in den Fragebogen aufgenommen, mit dem Ergebnis, dass die Gewalterfahrungen über die Zeit recht stabil sind.
Antischwule Gewalt – ein deutsches Problem?
Die französische Kollegin fand das damals auch interessant, und sie teilte ihrem schwulen Beraterkreis mit, dass Bochow nach antischwuler Gewalt frage. Sollen wir das in Frankreich auch machen? Und weißt du, was die gesagt haben? „C’est un problème allemand!“, das ist ein deutsches Problem. Marie-Ange Schiltz hat mir zuliebe die Frage trotzdem bei ihrer nächsten Erhebung gestellt. Und siehe da, die physische Gewalt war gleich hoch in Frankreich, und die symbolische Gewalt, also Beschimpfungen und Beleidigungen, war sogar noch leicht höher als in Deutschland. Von wegen „C’est un problème allemand“!
Wann hast du die erste Befragung übers Internet gemacht?
Das ging so nach und nach. Hier kommt Michael T. Wright ins Spiel, mit dem ich ab 2002 eng zusammen gearbeitet habe. Ich habe in der Zeit auch angefangen, qualitative Studien durchzuführen, eine willkommene Abwechslung. Ein erster Auftrag kam aus Niedersachsen, eine qualitative Studie über das Leben älterer Schwuler. Der BZgA-Auftrag ging dann ans Wissenschaftszentrum Berlin, Forschungsgruppe Public Health unter der Leitung von Rolf Rosenbrock. Da war ich dann in der Folge auch angesiedelt und habe dort bis 2012 gearbeitet, bis die Forschungsgruppe eingestampft wurde, was forschungspolitisch ein Skandal ist. Die Erhebungen haben wir erst nach und nach auf das Internet ausgedehnt. 2007 kamen schon drei Viertel des Rücklaufs von 8000 Fragebogen über das Internet; diese Befragung habe ich übrigens mit Axel J. Schmidt durchgeführt. Wir konnten schon 2007 viel mehr jüngere Schwule erreichen und auch auf dem Land lebende schwule und bisexuelle Männer.
Wie wurden die Studienergebnisse von den europäischen Kollegen wahrgenommen? Es gibt doch einen Dialog, der weit über den Vergleich der Zahlen hinausgeht.
Ja, das war aber schon von Beginn an so. Erst mit den Franzosen, dann im Trio mit der Schweiz. In den Diskussionen ging und geht es bis heute um die Weiterentwicklung präventionspolitischer Strategien. Ich habe mich in Anlehnung an die (west-)deutschen Debatten gegen einen rein behavioristischen Ansatz in der Prävention eingesetzt. Auf der Internationalen AIDS-Konferenz in Amsterdam 1992 konnte ich einen langen Vortrag vor 4000 Leuten halten und habe hervorgehoben, dass die Versuche, die Schwulen zu konditionieren, nicht funktionieren. Vielen Australiern und Briten habe ich damals aus dem Herzen gesprochen. Deren Präventionsansätze kamen dem der DAH sehr nahe.
Prävention ist mehr als verhaltensempfehlende Ansagen
Mittlerweile werden diese Diskurse immer mehr US-amerikanisch dominiert, und differenziertere, nichtbehavioristische Positionen sind an den Rand gedrängt, wenn sie überhaupt zu Worte kommen. Dabei sollte doch klar sein, dass es in der Prävention um viel mehr geht als verhaltensempfehlende Ansagen. Die Erfolge des deutschen Ansatzes in der Prävention und deren Gründe werden jedenfalls in den USA nicht wahrgenommen. Und ich finde es präventionspolitisch und im Grunde auch wissenschaftspolitisch fatal, dass das alles auf internationaler Ebene seit Jahren so US-dominiert wird. Auch deshalb muss die Zusammenarbeit in Europa weiter ausgebaut werden. Die läuft ja eher gut, obwohl ich auch die Entwicklungen bei unseren britischen Kollegen im Moment kritisch sehe. Das habe ich ja auch in der aktuellen Studie hervorgehoben. Eine Prävention, die sich auf Wissensvermittlung und auf die Verminderung von Partnerzahlen und Analverkehr konzentriert, blendet die Dimension des sexuellen Begehrens aus. Dennoch: Die europäische Zusammenarbeit ist auf einem guten Weg, und man muss ja nicht immer einer Meinung sein. Nur eine offene und kritische Auseinandersetzung kann uns in der Prävention weiterbringen.
Du hast dich mit dem gerade erschienenen Bericht zur neunten Erhebung in den verdienten Ruhestand begeben. Ziehst du dich jetzt zurück?
Nein, überhaupt nicht. Natürlich genieße ich die neuen Annehmlichkeiten, frei von täglichen Projektzwängen meine Sachen zu machen. Aber es gibt schon eine Menge Anfragen, zurzeit reise ich viel zu Vorträgen, war gerade in Paris bei französischen Kollegen. Außerdem wurde ich gerade in eine Expertengruppe des European Center for Disease Prevention and Control eingeladen. Und die BZgA hat großes Interesse an einer Weiterführung der Erhebungen – die könnte ich mit Kommentaren aus dem Off begleiten …
Weitere Informationen
Nachruf von Pierre Bourdieu und Marie-Ange Schiltz auf Michael Pollak, in: Gai Pied Hebdo, #525, 18.6.1992