Visite mit Oberarzt. Oberarzt blättert die Akten durch, schweigt, blättert, blättert und schweigt.
Medizynicus und Schwester stehen daneben und gähnen.
Oberarzt schaut auf.
“Und?”
Für Medizynicus das Signal, die nächste Patientin vorzustellen.
“Ja, dann hätten wir die Frau Obermayer, neununddreißig Jahre, Aufnahme mit unklarem Abdomen…”
“Und?”
Oberarzt ist ungeduldig.
“Labor, Sonographie, Endoskopie… alles unauffällig…”
“Nichts gefunden?”
“Also, anamnestisch…”
Oberarzt lacht.
“Also eher…. überlagert?”
Das Wort “überlagert” gehört zu den wunderbar schrecklichen Sprachneuschöpfungen unserer Zunft. Eigentlich heißt es “psychisch überlagert”, aber den ersten Teil spart man sich meist damit zufällig mithörende Ohren – zum Beispiel die des Patienten – nicht merken, worum es geht.
Was bedeutet das?
Die Beschwerden des Patienten sind – naja, halt “eher psychisch”. Im chirurgischen oder internistischen Klinikalltag meint man damit meist: Bei all unseren Tests und Untersuchungen haben wir nichts gefunden, also hat der Patient sich seine Beschwerden nur eingebildet.
Man könnte es auch anders ausdrücken: Die Patientin ist durch Stress und psychische Erschöpfung krank geworden.
Die Frau Obermayer jedenfalls ist krank. Oder: Als sie vor ein paar Tagen mit dem Krankenwagen eingeliefert wurde, war sie krank.
Sie klagte über schwere Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Und abgesehen davon war sie ein heulendes Nervenbündel.
“Mein Mann ist weg!” schluchzte sie, “Gestern Abend hat er mir gesagt, daß er eine andere hat… ich habe ihn angefleht, er soll bleiben, ich verzeihe ihm, schon der Kinder wegen… aber er hat gelacht, hat mich zur Seite geschubst und ist einfach gegangen…”
Jetzt sitzt sie alleine da mit drei kleinen Kindern. Und alle im Dorf machen sich lustig über sie, denkt sie wenigstens. Jedenfalls weiß das ganze Dorf Bescheid.
Die Geschichte war ziemlich kompliziert und was sie mir dann noch alles erzählt hat, das war gar nicht schön. Die Ehe muss die Hölle gewesen sein, mit regelmäßigen Schlägen und Erniedrigungen aller Art. Und jetzt konnte sie einfach nicht mehr. Ist zu Hause zusammengebrochen und die Nachbarin hat den Krankenwagen geholt.
Das war vor einer Woche.
Jetzt kann sie wieder lachen.
“Geht schon wieder!” sagt sie, als wir ihr der Reihe nach die Hand geben.
“Wie geht’s den Kindern?” frage ich.
“Denen gehts gut, die sind bei den Großeltern. Aber ich würde trotzdem gern…”
“Alles klar, Sie können nach Hause!” sagt der Oberarzt und klappt die Akte zusammen.
Die Patientin strahlt.
Oberarzt dreht sich um und wir verlassen das Zimmer.
“Die hat doch wirklich nichts!” zischt mir der Oberarzt zu, “War doch alles nur psychisch bei der…”