Etwa jeder fünfte HIV-Positive hat in Arztpraxen, Kliniken oder Pflegeheimen schon Diskriminierung erlebt. Einige verlieren daher das Vertrauen oder gehen nicht mehr für nötige Behandlungen zum Arzt. Von Johanna Dielmann-von Berg*
Noch eine Stunde, bis der Patientin die Gebärmutter entfernt werden soll. Alles ist vorbereitet. Doch plötzlich entscheiden sich die Ärzte um. „Wir haben beraten und meinen, man sollte in ihrem Fall doch mit Hormonen arbeiten. Denn die OP ist eine sehr blutige Angelegenheit“, teilen sie der HIV-positiven Patientin mit. Ein Einzelfall?
„Jetzt müssen wir wegen Ihnen den ganzen Rettungswagen desinfizieren“, muss sich ein anderer Patient von einem Sanitäter anhören. Nicht selten wird auf der Akte „HIV+“ deutlich sichtbar vermerkt oder an Klinikzimmern von HIV-positiven Patienten ein Warnhinweis angebracht. Diskriminierung durch Ärzte, Pfleger oder Krankenschwestern ist für Menschen mit einer HIV-Infektion keine Seltenheit. Immer wieder werden Fälle wie diese an die lokalen Aidshilfen herangetragen, jedoch meist nicht den Ärztekammern oder Berufsgesellschaften gemeldet. Über das Ausmaß der Diskriminierung von Menschen mit HIV war daher bisher nur wenig bekannt.
Mit einer Umfrage unter rund 1150 HIV-Positiven, dem „PLHIV Stigma Index“, hat die Deutsche Aidshilfe 2012 Licht ins Dunkel gebracht: Jedem Fünften wurde im Jahr vor der Befragung eine Behandlung aufgrund der Erkrankung verweigert. Fälle von Diskriminierung seien vor allem bei Zahnärzten, Gynäkologen und Chirurgen vorgekommen, sagt Carolin Vierneisel, die das Projekt bei der DAH geleitet hat. Ähnliches zeigt jetzt eine Mitte Juni veröffentlichte qualitative Auswertung der DAH von 76 Diskriminierungsfällen.
An der Spitze liegen auch hier die Zahnärzte mit 39 Prozent der Fälle, dicht gefolgt von Kliniken mit 32 Prozent. Auf den Plätzen drei und vier rangieren mit großem Abstand Allgemeinmediziner (neun Prozent) und Gynäkologen (sieben Prozent). Am häufigsten kommt es dabei vor, dass den Betroffenen die Behandlung verweigert wird. Dies geschah in gut einem Drittel der 76 Fälle (rund 37 Prozent). So berichtet etwa eine Patientin, der Zahnarzt habe sie mit den Worten abgewiesen: „Ich muss Sie nicht behandeln!“
Viele Ärzte halten übertriebene Schutzmaßnahmen für nötig
Immerhin ein Viertel der Ärzte hielten übertriebene Schutzmaßnahmen für nötig, etwa demonstratives Desinfizieren oder das Tragen unüblicher Schutzkleidung. In knapp einem Fünftel der Fälle (17 Prozent) wurden sichtbare Warnhinweise auf Patientenakten oder am Krankenzimmer angebracht. Seltener kommt es vor, dass nur eine Behandlung zu bestimmten Zeiten angeboten wird, zum Beispiel abends, wenn alle nicht-positiven Patienten bereits behandelt worden sind.
Diskriminierung kann schwerwiegende Konsequenzen haben. So nehmen deutlich mehr Betroffene nötige Behandlungen nicht wahr, wenn Ärzte sie schon einmal zurückgewiesen haben. Dem Stigma Index zufolge lag der Anteil derjenigen, die auf einen nötigen Arztbesuch verzichtet haben, in der Gesamtgruppe bei zehn Prozent. Dieser Anteil steigt auf 18 Prozent in der Gruppe derjenigen, denen im Befragungszeitraum eine Behandlung verweigert worden ist.
„Die Zurückweisung vom Arzt ist für viele schwerer zu verkraften als etwa die Abneigung eines potenziellen Partners“, berichtet Gert Hartmann von der Münchner Aidshilfe. „Denn vom Arzt erwartet man gerade, dass er sich im Umgang mit HIV-Patienten auskennt.“ Was sind also die Ursachen für Diskriminierung?
Wenig Erfahrung und Angst vor Ansteckung
Durch die Empfehlungen der Berufsverbände oder anderer Institutionen lässt sich das Verhalten einiger Ärzte nicht erklären. Dem Robert-Koch-Institut (RKI) zufolge „genügen die routinemäßig erforderlichen Hygienemaßnahmen“ nach der Behandlung. So müssen patientennahe Flächen desinfiziert und verwendete Medizinprodukte sachgerecht aufbereitet werden. „Es ist weder ein eigener Behandlungsraum erforderlich noch ist es notwendig, solche Patienten am Ende eines Sprechtages zu behandeln“, schreibt das RKI in einem Ratgeber für Ärzte.
Selbst die Gruppe der Zahnärzte macht dabei keine Ausnahme. „Eine zahnärztliche Behandlung HIV- positiver Patienten erfordert in der Regel keine zusätzlichen Maßnahmen für Hygiene und Personalschutz. Der Zahnarzt muss bei jedem Patienten die erforderlichen Maßnahmen zur Hygiene sowie zur Infektionskontrolle durchführen“, schreibt die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und verweist auf den Musterhygieneplan. Aufgrund hygienischer Bedenken müssten daher auch keine Termine am Abend vergeben werden. Dass dies dennoch passiert führt die BZÄK darauf zurück, dass der Zahnarzt für eine umfangreichere Diagnostik oder Therapie von HIV-Patienten mehr Zeit einräumen will.
Die Ursache für Diskriminierung ist also anderer Natur. Experten machen zwei Gründe aus. Es handele sich meist um Ärzte, die wenig Erfahrung mit dem Krankheitsbild HIV/AIDS haben, erklärt Dr. Hans Jäger, der seit über 30 Jahren in München HIV-Patienten betreut. „Wir sehen auch, dass es bei Ärzten, die viel Erfahrung mit diesen Patienten haben, nicht zu Diskriminierung kommt.“ Der zweite Grund: Angst, sich selbst anzustecken. „Wir denken, dass vor allem die persönlichen Ängste ausschlaggebend sind, etwa dass das HI-Virus leicht übertragen werden könnte“, sagt Vierneisel von der Deutschen Aidshilfe. Dabei zählt HIV zu den schwer übertragbaren Infektionskrankheiten, leichter können sich Ärzte etwa mit Hepatitis infizieren. So gibt die Medizinische Hochschule Hannover an, die Übertragungsrate nach einer Nadelstichverletzung liege für Hepatitis B bei 300 von 1000 Fällen. Bei HIV komme es aber nur in drei von 1000 Fällen zur Übertragung.
Lernen, über Sexualität zu reden
Die Aidshilfen wollen Ärzte nun noch besser beraten, um die Diskriminierung einzudämmen. Seit drei Jahren bietet die DAH Fortbildungen zur „Kommunikation über Sexualität“ an, die von den Ärztekammern zertifiziert werden. Eine Evaluation hat ergeben, dass sich die rund 250 Teilnehmer Fallbeispiele und Informationen über Lebenswelten homosexueller Männer und über das Leben mit HIV wünschen.
Mit der Berliner Uniklinik Charité hat die DAH bereits ein eigenes Modul im Modellstudiengang Medizin entwickelt. Hier lernen die Studierenden in Rollenspielen, mit Patienten offen über Sexualität und sexuell übertragbare Erkrankungen zu sprechen.
Auch die Zahnärzte gehen in die Offensive. Mit der DAH erarbeitet die BZÄK ein Merkblatt und will zwischen lokalen Aidshilfen und Landeszahnärztekammern vermitteln. So sollen Fortbildungen zu Infektionskrankheiten künftig „HIV“ vermehrt thematisieren.
*Der Text erschien zuerst in der Ärzte Zeitung vom 25. Juni 2013. Herzlichen Dank an die Autorin und den Verlag für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung!