„Kopf und Bauch werden sich einpendeln”

Foucaultsches Pendel

Zwischen Gefühl und Verstand: Schutz durch HIV-Therapie (Foto: Cornelia Menichelli, pixelio.de)

Als Sven*, 32, den zwei Jahre jüngeren Steffen* kennenlernt, weiß er bereits, dass Steffen HIV-positiv ist. Mittlerweile sind sie seit acht Jahren ein Paar, seit zwei Jahren auch verpartnert. Axel Schock fragte die beiden, wie sie’s mit der Botschaft halten, dass eine funktinonierende HIV-Therapie genauso gut vor einer Übertragung schützt wie Kondome

Wie habt ihr davon erfahren, dass ein erfolgreich behandelter HIV-Positiver beim Sex mit einem HIV-Negativen nicht mehr zwingend ein Kondom benutzen muss?

Steffen: Ich kann das gar nicht mehr so genau sagen. Das war schon sehr früh, gleich als die Schweizer das Papier dazu veröffentlicht hatten.

Das Statement der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) von 2008.

Steffen: Genau. Ein Freund von uns, der beruflich mit HIV-Medizin zu tun hat, hatte uns darauf hingewiesen und einen Link geschickt. Ich habe dem damals aber überraschenderweise wenig Bedeutung geschenkt.

„Vielleicht war mir das alles zu suspekt”

Warum?

Steffen: Vielleicht, weil man schon so viele seltsame Dinge und vermeintlich sensationelle Meldungen über HIV und Aids gelesen hatte, die dann doch wieder verpufften. Vielleicht war mir das auch alles noch zu suspekt. Wär’s wirklich eine glaubwürdige Sensation, hätte man davon doch in den Zeitungen gelesen. So dachte ich damals zumindest. Die Diskussion darüber entflammte bei uns ja erst vor ein, zwei Jahren, und da fing’s dann auch bei mir an zu arbeiten.

War die Erkenntnis, dass Safer Sex auch ohne Gummi möglich ist, für dich eine Erleichterung?

Steffen: Sie hat mich zunächst einmal ordentlich durcheinander gebracht.

Sven: Es wurden dadurch feste Gewissheiten auf den Kopf gestellt. Uns wurde mehr als das halbe Leben lang der Slogan „Kondome schützen“ eingehämmert, die Safer-Sex-Regeln konnte man selbst im Halbschlaf herunterbeten wie das ABC. Und dann das!

HIV+ ist nicht gleich ansteckend

Erfolgreich behandelte HIV-Positive sind sexuell nicht ansteckend

Habt ihr es als eine Art Befreiung erlebt?

Sven: Es mag sich vielleicht etwas seltsam anhören, aber mir wurde dadurch erst bewusst, wie selbstverständlich für mich die Verbindung von Sex und Kondom war. Safer-Sex-Präventionisten werden sich sicherlich freuen, das zu hören. Bei mir hatte diese Konditionierung perfekt funktioniert. Ich habe das Gummi nie als Einschränkung erlebt und es bis dahin auch nie in Frage gestellt.

Steffen: Bei mir war das schon ein wenig anders. Ich bin ja zu meinem Virus nicht gekommen wie die Jungfrau zum Kind, sondern weil ich mich eben mindestens einmal nicht an die Safer-Sex-Regeln gehalten habe. Danach war das Kondom für mich immer eine Grundvoraussetzung, auch beim Sex mit anderen Positiven. Es erinnerte mich aber auch immer daran, DASS ich positiv und damit für andere Sexpartner potenziell gefährlich war. Und eben auch für meinen Liebsten. Dieser Gedanke hat mich nicht völlig aus der Bahn geworfen, aber er war doch latent immer vorhanden. Das wurde mir dann noch einmal so richtig klar, als ich las, dass ich mit meinen guten Viruslast-Werten zu jenem Kreis der Auserwählten gehören müsste, die guten Gewissens auf das Gummi verzichten können.

„Sex und Kondom gehörten für mich zusammen”

Was löste dies bei dir aus?

Steffen: Einerseits fiel eine große Last von mir ab, andererseits war ich wütend und traurig darüber, was mir durch das Virus in den ganzen Jahren meiner Infektion womöglich entgangen ist. Nicht, dass ich mit Kondom unbedingt schlechteren Sex gehabt hätte, aber vielleicht wäre er um einiges unbeschwerter und mit Sven auch intimer gewesen. Man hat nun mal die Phantasie mit seinem Partner, den man liebt, in jeder Hinsicht zu verschmelzen – auch wenn das jetzt ein wenig abgegriffen klingt. Das Gummi, so dünn es auch sein mag, bleibt da ein zumindest sichtbares, lästiges Hindernis.

Sven: Ich konnte das anfangs nur schwer nachvollziehen, weil ich in all den Jahren das Kondom nie als Einschränkung oder Belastung beim Sex miteinander erlebt hatte. Daher erlebte ich Steffens Stimmungswandel als einen sehr überraschenden emotionalen Ausbruch, bei dem noch einmal ganz viel hochgespült wurde.

Steffen: Es war selbstverständlich vor allem eine große Befreiung und Erleichterung, vielleicht noch mehr als damals, als meine Viruslast erstmals unter die Nachweisgrenze gesunken war.

Immer Kondome benutzen: einfacher gesagt als getan  (Foto: DAH)

Immer Kondome benutzen: einfacher gesagt als getan (Foto: DAH)

Was machte den Unterschied aus?

Steffen: Nun war das Restrisiko, gewissermaßen auch amtlich bestätigt, schlimmstenfalls so hoch wie bei Sex mit Kondom. Bis das in meinem Kopf richtig ankam, hatte es eine Weile gebraucht, und nach und nach wuchs dann auch der Wunsch, auf das Gummi in unserer Beziehung zu verzichten.

Wie lange hat es gedauert, bis ihr diesen Wunsch auch in die Tat umgesetzt habt?

Sven: Wir haben über mehrere Monate immer wieder mal darüber geredet; mal intensiver, mal nur beiläufig. Für mich war dies kein wirklich drängender Wunsch. Ich fand das Gummi ja immer ganz ok und zudem eine saubere Sache. Ich konnte mich mit der Zeit aber auch ganz gut in Steffen hineindenken und wusste daher, warum ihm das so wichtig war.

Wie seid ihr dann vorgegangen?

Steffen: Wir haben uns zunächst zusammen von seinem HIV-Schwerpunktarzt beraten lassen. Der hat im Grunde nur noch einmal die bereits bekannten Fakten bestätigt, aber es war gut, es auch noch einmal aus seinem Munde zu hören. Wir hofften dann vielleicht Erfahrungsberichte von Paaren zu finden, die das Prinzip „Schutz durch Therapie“ bereits praktizieren, aber wir sind da nicht unbedingt fündig geworden.

Sven: Ich fand das schon sehr überraschend, und ich kam mir vor, als würden wir als erste in völlig unbekanntes, neues Terrain vorstoßen. Ich fühlte mich dadurch schon ein bisschen allein mit den Überlegungen und der anstehenden Entscheidung. Aber wir haben sie dann doch getroffen.

„Sex ohne Kondom, das war für mich ein Vertrauensbeweis”

Steffen: Und ich bin dir dafür heute noch von ganzem Herzen dankbar! Blutwerte hin und Studienergebnisse her: Das war trotz allem ein großer Vertrauensbeweis. Gerade auch, weil ich wusste, dass für dich die Sache mit dem Gummi nicht so belastend und belastet war wie für mich. Ich muss allerdings zugeben, dass ich beim das erste Mal mindestens so aufgeregt war wie bei meinem allerersten Sex überhaupt.

Sven: Das ging mir nicht anders. Wobei das wahrscheinlich vor allem ein Kopfding war, warum es nun für immer dieses ganz besondere „erste Mal“ für mich, für uns bleiben wird. Ich kam mir hinterher vor, als hätte ich meinen ersten Marathon oder eine Abi-Klausur geschafft.

Hattet ihr bestimmte Absprachen getroffen, wie ihr den Kondomverzicht handhaben wollt?

Sven: Es galt, was auch vorher schon gegolten hatte: Sollten wir außerhalb der Beziehung Sex haben, dann nur mit Gummi. Und wir hatten uns vorgenommen, dass wir auch innerhalb der Beziehung wieder Kondome verwenden würden, wenn sich einer von uns ohne unwohl fühlen sollte.

Steffen: Diese Rückversicherung war mir sehr wichtig, und zwar für uns beide. Ich wollte vermeiden, dass sich Sven unter Druck gesetzt fühlt oder enttäuscht ist, falls ich eines Tages Muffensausen bekommen sollte. Denn, wie Sven schon sagte, wir fühlten uns bei der Entscheidung recht allein. Natürlich hätte die uns niemand abnehmen können, aber wir konnten auch mit niemandem so recht darüber reden.

Abgelehnt

Safer Sex ohne Kondom? Viele lehnen das ab (Foto: Thorben Wengert, pixelio.de)

Sven: Wir hatten bei Freunden ein paar Mal das Gespräch auf die EKAF-Statement gebracht, nachdem dann auch die DAH und einige schwule Medien das Thema endlich aufgegriffen hatten. Die Reaktionen allerdings waren eher niederschmetternd. Einige fanden es verantwortungslos, den Weg zum „Sex ohne Kondom“ einfach so freizugeben. Sie waren der Ansicht, dass dies von vielen sicher völlig missverstanden werde, weil die das Kleingedruckte, also die genauen Rahmenbedingungen für den „Schutz durch Therapie“, überlesen würden.

Steffen: Wir haben schnell festgestellt, dass uns da unsere Freunde nicht weiterhelfen können. Wir haben uns dann aber auch nicht getraut, uns ihnen gegenüber zu outen. Spätestens dann, als einer von ihnen sagte, dass das Ganze nichts anderes als russisches Roulette sei, weil man wegen des Restrisikos eine Infektion nie ausschließen könne.

Hat das eure Entscheidung beeinflusst?

Sven: Wir hatten uns da eigentlich längst schon entschieden, aber ich habe mich in vielen dieser Äußerungen natürlich auch selbst gespiegelt gesehen. Es gibt eben immer noch diesen Unterschied zwischen Kopf- und Bauchgefühl. Mein Kopf sagte: „Es ist alles sicher. Da kann nichts schiefgehen“. Mein Bauch aber war manchmal doch etwas unsicher. Unterschwellig arbeitete da was in mir. Da konnte ich mir noch so viele Fakten um die Ohren hauen.

Du hast eure Entscheidung dann bereut?

Sven: Nein, so kann ich das nicht sagen. Das wäre wirklich hart. Es war subtiler.

„Unterschwellig arbeitete da was in mir”

Steffen: Mir war irgendwann aufgefallen, dass Sven beim Sex eigentlich nur noch der aktive [eindringende, d. Red.] Part sein wollte. Zuvor war das immer recht ausgewogen gewesen. Ich habe ihn dann mal darauf angesprochen, ahnte aber schon den Grund dafür.

Sven: Wir haben dann darüber geredet. Zum Glück haben wir in unsere Beziehung eine sehr offene Gesprächskultur eingeübt, sodass ich auch ganz frei über mein schwelendes Unbehagen sprechen konnte, ohne Angst zu haben, Steffen zu verletzen. Enttäuscht warst du sicherlich, oder?

Steffen: Nicht enttäuscht, sondern eher etwas überfordert. Weil für diesen Moment klar war: Hier geht’s nicht um Vorurteile, mangelnde oder falsche Informationen, sondern um ein Bauchding. Aber wir waren uns sofort einig, dass wir ab sofort wieder Kondome verwenden werden.

Herz-Schloss

Schutz durch HIV-Therapie: Komplex für Herz, Hirn, Hormone (Foto: Instinktknipser, pixelio.de)

Ist das Experiment also gescheitert?

Sven: Nein, so würde ich das keineswegs formulieren. Zum einen: Das war kein Experiment, sondern ein erster Versuch, und ich habe gemerkt, dass ich dafür wohl doch nicht richtig bereit war. Wir haben die Sache damit nicht beendet, sondern allenfalls ausgesetzt. Es ist ja keineswegs so, dass ich Steffen nicht grundsätzlich vertrauen würde oder ich den wissenschaftlichen Studien und Statements und Empfehlungen der Ärzte skeptisch gegenüberstünde. Diese Sache ist aber weitaus komplexer für Herz, Hirn und Hormone, als dass man das übers Knie brechen sollte. Zumindest ist es nicht ganz so einfach wie die klassischen Safer-Sex-Regeln „Ficken nur mit Kondom“ und „Raus bevor’s kommt“.

Hat sich euer Sexleben dadurch verändert?

Steffen: Nein. Ich empfinde nun nicht einen großen Verlust, so nach dem Motto „Wie gewonnen, so zerronnnen“. Natürlich ist es schade, aber ich respektiere Svens Gefühle und weiß auch, dass dies ein langsamer, aber fortschreitender Prozess sein wird.

Sven: Ich kann mir sehr gut vorstellen, das heißt ich bin mir sogar sehr sicher, dass sich in naher Zukunft Kopf und Bauch aufeinander einpendeln werden. Bis dahin habe ich nun doppelt sicheren Sex: Auch wenn das Gummi platzen oder abrutschen sollte, wird mir nichts passieren.

* Namen von der Redaktion geändert

 

Weitere Informationen

Safer Sex geht auch anders: Interview mit einem heterosexuellen serodifferenten Paar

Ein ungeheurer Fortschritt für Menschen mit HIV: Dossier zum Jahr fünf nach EKAF  (Meldung auf aidshilfe.de vom 30.1.2013)

Dossier zum Thema „Schutz durch Therapie“ im DAH-Blog


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