In Russland nimmt der Druck auf Schwule und Lesben zu – aber auch der Widerstand gegen Diskriminierung und Übergriffe. Kriss Rudolph sprach mit Stephan Jäkel von der Schwulenberatung Berlin und Ludger Schmidt von der Deutschen AIDS-Hilfe, die kürzlich zum achten Geburtstag von „LaSky“ in Sankt Petersburg waren
Wie schwul darf man in der Fünf-Millionen-Metropole St. Petersburg sein?
Ludger: Petersburg ist die liberalste Stadt in Russland. Es gibt mehr Freiräume als anderswo, auch für Aktivisten. Hier sitzen die meisten und ältesten LGBT-Organisationen. Es kommen viele Menschen von weither aus den Regionen, weil sie in ihren Dörfern stigmatisiert werden. Dennoch ist es schwierig, besonders für HIV-Positive: Wer kein russischer Staatsbürger ist, bekommt keine medizinische Versorgung. Die Leute sterben dann dort. Oder sie werden abgeschoben, wenn ihr HIV-Status bekannt wird.
Stephan: Manche Aktivisten sagen, der derzeitige Kampf um die Menschenrechte in Russland finde in St. Petersburg statt und die LGBT-Community sei die größte Oppositionsbewegung des Landes. Aus dieser Stadt stammt allerdings auch der Politiker Witali Milonow, der die Anti-„Homo-Propaganda“-Gesetzgebung auf den Weg gebracht hat.
St. Petersburg ist die liberalste Stadt in Russland
Ludger, du warst vor neun Jahren zuletzt in St. Petersburg. Hat sich die Stadt seitdem verändert?
Ludger: Es ist bunter geworden, wirkt nicht mehr so uniform – in jeder Beziehung. Differenzen werden offener ausgetragen. Früher musste immer alles in der Familie bleiben – gerade Meinungsverschiedenheiten sollten nicht nach außen dringen, vor allem nicht gegenüber Ausländern. Das scheint jetzt anders zu sein.
Ein Widerspruch zu den schwulenfeindlichen Gesetzen, denen zufolge man in der Öffentlichkeit nicht über Homosexualität sprechen darf?
Ludger: Ich weiß nicht, wie die Entwicklung ohne dieses Gesetz gewesen wäre. Man leistet Widerstand gegen Versuche, das Rad zurückzudrehen, und in diesem Widerstand spiegelt sich die entstandene Vielfalt wider. Man trifft da heute auf eine neue Generation, die nicht mehr sowjetisch geprägt ist.
Stephan: Aktivisten und Vor-Ort-Berater sagten mir, dass die homofeindliche Gesetzgebung die Community politisiert hat. Da der Staat keinen Schutz bietet, kann ein Gefühl von Angst entstehen. Es gibt ja Berichte und Videos, in denen junge Schwule zu Dates gelockt und verprügelt werden. Bestimmt ziehen sich auch viele zurück, aber LGBT-Organisationen wie „Coming Out“ stellen fest, dass sie immer mehr Menschen mobilisieren können. Viele denken sich: Das ist unser Land, das wollen wir uns nicht wegnehmen lassen.
Wie riskant ist es, Demos durchzuführen?
Stephan: Größere Demos werden nicht von den LGBT-Organisationen selbst angemeldet. Es gibt einen losen Zusammenschluss von heterosexuellen Unterstützern – die melden die Demos als Privatpersonen an, um die LGBT-Organisationen zu schützen.
Ludger: Die öffentliche Präsenz von Aktivisten hat dazu geführt, dass der Umgang mit dem Thema in seriösen Medien mittlerweile ausgewogener ist – vor fünf Jahren hätte es das so nicht gegeben.
Mehr Ausgewogenheit, aber zugleich Hasskampagnen
Stephan: Es gab aber auch diesen Mann aus Samara, der nach St. Petersburg fliehen musste. Er hatte in Zentralrussland eine Aids-Gedenkveranstaltung durchgeführt – in zeitlicher Nähe zum Offiziellen Tag des Gedenkens an die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs und an einem Mahnmal. Gegen den Veranstalter gab es eine richtige Medien-Hasskampagne wegen angeblicher Verunglimpfung der Gefallenen.
Die Demos laufen oft nicht friedlich ab.
Stephan: Interessanterweise wissen die Rechten immer, wann sie stattfinden – vielleicht zapfen sie den Mailverkehr der LGBT-Organisationen an oder sie erfahren es von der Polizei. Oft sollen die Veranstalter nach zehn Minuten die Demo auflösen – entweder, weil sie gegen das Anti-Homo-Propaganda-Gesetz verstoßen oder mit der Begründung, die Polizei „könne“ sie nicht mehr beschützen. Wenn die Veranstalter weiterprotestieren, kommt es zu Festnahmen und Anklagen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Würden sie aufgrund des Anti-Homo-Propaganda-Gesetzes angeklagt, könnten sie sich durch die Distanzen bis hin zum EU-Menschenrechtsgerichtshof klagen. Sie vermuten, dass der Staat deshalb Anklagen wegen Homo-Propaganda vermeiden will.
Was passiert mit den Demonstranten nach der Verhaftung?
„Die Menschen sollen ständig Angst haben“
Ludger: Zum Prozess kommt es meist nicht. Sie werden bis zu 24 Stunden festgehalten und wieder laufen gelassen. Alles hat den Anschein von Willkür, wie in alten Sowjetzeiten. Die Menschen sollen ständig Angst haben und sich in der Norm bewegen – sonst wird man bestraft.
Stephan: Ein junger Aktivist sagte mir, er meidet Anti-Putin-Demos, auch wenn er gerne teilnehmen würde. Er geht nur zu LGBT-Demos, wo er für Menschenrechte und Versammlungsfreiheit demonstriert – nicht gegen die Staatsautorität an sich. Er verspricht sich davon einen gewissen Schutz.
Können russische LGBT-Organisationen noch normal arbeiten?
Ludger: Das LGBT-Filmfestival „Side by side“ und „Coming Out“ legen zum Beispiel ihren Fokus offensiv auf die Menschenrechte von LGBT und stehen daher unter besonderem Druck. Das Schwulen-Netzwerk „LaSky“, was im Russischen so viel bedeutet wie „sei zärtlich“, konzentriert sich auf das Thema Gesundheit mit Beratung, Prävention und Vor-Ort-Arbeit. Das gibt ihr einen gewissen Schutz vor staatlicher Verfolgung.
Erschwert das „Gesetz gegen Hochverrat“ ihre Arbeit zusätzlich?
Stephan: Damit soll „Geheimnisverrat“ bestraft werden, jeder Austausch mit ausländischen Organisationen, die dem Land schaden können. Auf Hochverrat stehen mehrere Jahre Lagerhaft. Bislang ist es offenbar gegen LGBT-Organisationen nicht angewendet worden. Sollte diese Drohgebärde Realität werden, könnte die politische Arbeit aus sein.
Ludger: Trotzdem ist im Moment die Arbeit in der Community von St. Petersburg lebendig, weil es bereits etablierte LGBT-Organisationen gibt. Aber man merkt gerade in Moskau: Die Gesetzgebung schafft große Hindernisse für jede Form von Selbstorganisation.
Welche Gesetze machen Schwulen und Lesben das Leben außerdem schwer?
Verlässliche Zahlen zu HIV gibt es nicht
Stephan: Eltern, die LGBT-Lebensweisen auch nur tolerieren, könnte das Sorgerecht entzogen werden, selbstredend „zum Schutz der Kinder“. Ein entsprechender Gesetzentwurf ist zwar vorerst zurückgezogen worden, aber laut einer Umfrage von „Coming Out“ spielen 300 Elternpaare, die sich LGBT zugehörig fühlen, mit Auswanderungsgedanken.
Wie geht vernünftige HIV-Prävention, wenn man nicht über Homosexualität sprechen darf?
Stephan: Da Menschen Nachteile fürchten müssen, wenn sie sich outen und auf die Straße gehen, erschwert das eine erfolgreiche Präventionsarbeit. Verlässliche Zahlen über HIV-Infektionen gibt es auch nicht – das ist eine der Hauptforderungen von „LaSky“. Offiziell ist von 55.000 Menschen mit HIV/Aids in St. Petersburg die Rede – das würde etwa 1 % der Bevölkerung entsprechen. Die inoffiziellen Schätzungen liegen aber deutlich höher. Zum Vergleich: In ganz Deutschland gab es Ende 2012 rund 78.000 Infizierte.
Ludger: Im Aids-Zentrum müssten schwule Männer beim Infektionsweg eigentlich „MSM“ angeben (Männer, die Sex mit Männern haben) – das kommt für viele aber nicht in Frage, weil die Konsequenzen unabsehbar sind. Eine berechtigte Furcht ist, dann eine schlechtere medizinische Versorgung zu bekommen. Das heißt aber auch, dass die Statistik nicht stimmt.
Was leistet das Aids-Zentrum in St. Petersburg?
Stephan: Es ist ein Teil einer Poliklinik, allerdings ohne Beratung oder psychosoziale Betreuung – das versucht „LaSky“ ansatzweise aufzufangen. Die vier Sozialarbeiter in der Klinik dürfen aber nicht zielgruppenspezifisch arbeiten, also etwa für Drogenkonsumenten, für Heteros oder für schwule Männer. Sie müssen alles mitbedienen – und nicht nur für den HIV-Bereich. So kann man nicht erfolgreich sein.
Ludger: Nur die Infektiologen dort haben Ahnung von HIV, andere Fachrichtungen oft überhaupt nicht. Das bereitet den Patienten große Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass der Gedanke der Patientenrechte dort nicht existiert.
Wie sieht das Szeneleben in St. Petersburg aus?
Ludger: Wir waren zur Geburtstagsparty von LaSky in einem Schwulenclub, in dem es wöchentliche Partys mit Dragqueenshow gibt. Das Publikum war sehr jung, der Laden war voll. Auch befreundete Hetero-Frauen und -Männer haben da mitgefeiert. Da gab es dann auch eine Show mit Safer-Sex-Botschaften, eine Art HIV-Präventionsshow.
Buntes Szeneleben als Beweis für Diskriminierungsfreiheit?
Stephan: Die Menschen vor Ort befürchten auf längere Sicht allerdings einen Zusammenbruch der kommerziellen Szene, weil die Leute wegbleiben oder die Künstler ins Ausland gehen.
Gibt es Razzien in Bars oder Clubs?
Stephan: Davon habe ich jetzt nichts gehört. Das „bunte Partyleben“ wurde im Sommer sogar vom Parlamentsvorsitzenden der Duma gerühmt – mit dem Hinweis, dass man Schwulen und Lesben ja nichts tue. Jeder könne sich davon in den Moskauer Clubs überzeugen, was die für ein „tolles Leben“ haben. Sehr sarkastisch. Die Clubs sind von außen auch gar nicht sichtbar.
Finden Schwule Rückhalt in ihren Familien?
Stephan: Ich habe Schwule getroffen, die am Tag ihres Coming-outs von den Eltern rausgeschmissen worden sind oder eine „Konversions-Therapie“ machen mussten. Manche arrangieren Ehen zwischen Schwulen und Lesben, damit die Familie nicht die finanzielle Unterstützung einstellt. Viele haben aber auch keine Diskriminierungserfahrungen. Immerhin gibt es mittlerweile bei „Coming Out“ eine Gruppe für Eltern – die nehmen das Beratungsangebot auch an. Das ist eine gute Entwicklung, finde ich.
Wie ist die Meinung der Petersburger Community zum Thema Olympia? Die Spiele von Sotschi boykottieren oder mitmachen?
Stephan: Die Leute sagen: Nutzt lieber die Öffentlichkeit! Wenn wenigstens einmal die Regenbogenflagge im Bild zu sehen ist, bringt das mehr, als wenn ein ganzes Land wegbleibt. Übrigens: Die Community kriegt den emotionalen Support aus dem Ausland deutlich mit. Sie fühlen sich im Land ausgestoßen, aber dass es in der Welt Menschen gibt, die sie verstehen und unterstützen – das ist ihnen ganz wichtig.
Die Unterstützung aus dem Ausland kommt an
Ludger: Wir dürfen nicht aufhören, über Russland zu sprechen. Die Leute sagen: Wir reden hier mit unseren Politikern, macht ihr Druck auf eure, damit sie das Thema ebenso immer wieder ansprechen Das ist wichtiger als Boykott.
Kann man mit Spenden helfen oder ist das wegen des Verbots von „Agententum“ kontraproduktiv?
Stephan: Das Gesetz greift nur bei Vereinen und deren Vertretern, die Geld aus dem Ausland bekommen. Da diese Organisationen aber für Menschenrechte kämpfen, die auch in der russischen Verfassung stehen, lehnen sie den Begriff „ausländischer Agent“ ab und nehmen natürlich finanzielle Unterstützung an. Geld aus dem Ausland ist wichtig, da es vom Staat keinen Rubel gibt.
Ludger: Wobei die Leute von „Side by Side“ ihre Prozesskosten allein mit Spendengeldern aus dem Inland begleichen konnten – zum ersten Mal in der russischen LGBT-Geschichte. Das war eine ganz wichtige Erfahrung: Man kann die eigenen Leute mobilisieren.
Die Hoffnung hat die Menschen in Russland also nicht verlassen.
Stephan: Ein russischer Aktivist hat bei Facebook gepostet: „Wir brauchen unser eigenes Stonewall – das ist unsere Aufgabe. Aber wir können den Erfolg und die Erfahrungen der anderen nutzen. Den Leuten von Stonewall ging es damals viel schlechter als uns. Wir haben die Unterstützung aus dem Ausland. In New York damals gab es keine Vorbilder.“
Weitere Informationen
Genug ist genug – Mund aufmachen! (DAH-Blog, 30.8.2013)
Homosexualität – eine Frage von nationaler Bedeutung (DAH-Blog, 18.5.2013)
Die Situation ist alarmierend, aber der Staat schweigt (DAH-Blog, 8.2.2012)