Migrantinnen und Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus haben in Deutschland nur beschränkt Zugang zu medizinischer Versorgung. Oft gehen sie erst im äußersten Notfall zum Arzt und bekommen dann eine Behandlung zweiter Klasse – fatal gerade bei einer HIV-Infektion. Elène Misbach vom „Medibüro“ Berlin und Antje Sanogo von der Münchner Aids-Hilfe berichten über ihre Arbeit für eine menschenwürdige Versorgung. Von Lisa Paping
„Für eine reguläre Gesundheitsversorgung aller Menschen – unabhängig vom Aufenthaltsstatus!“ So lautet die Überschrift des Aufrufs, den das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin (kurz: Medibüro) am 7. April 2014 an das Gesundheitsministerium übergeben hat. Obwohl man denken könnte, dass alle in Deutschland lebenden Menschen das Grundrecht auf Gesundheit haben, zeigt ein Blick in die Materie das Gegenteil: Tatsächlich haben Migrantinnen und Migranten ohne gesichertes Aufenthaltsrecht einen sehr schlechten bis gar keinen Zugang zu ärztlicher Behandlung.
Ob eine Behandlung notwendig ist, entscheidet das Sozialamt, nicht medizinisches Fachpersonal
In Deutschland leben schätzungsweise 200.000 bis 500.000 Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus. Seit 1993 wird die Gesundheitsversorgung von Asylbewerbern und Menschen ohne Papiere durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) geregelt. Ihre medizinische Versorgung müssen demzufolge die Sozialämter finanzieren. Diese übernehmen aber nur die Kosten für reduzierte medizinische Leistungen. Was diese Leistungen umfassen und was nicht, ist immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen. Über die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung entscheidet dabei das Sozialamt – und nicht medizinisches Fachpersonal. Von Regelversorgung kann hier keine Rede sein.
Als öffentliche Stellen sind die Sozialämter laut § 87 AsylbLG außerdem verpflichtet, die Daten der Patientinnen und Patienten an die Ausländerbehörde weiterzugeben. Viele gehen deshalb gar nicht erst zum Arzt – aus Angst, nach der Behandlung abgeschoben zu werden.
Durch Spenden gedeckte kostenlose und anonyme Behandlung
Die Arbeit des Medibüros setzt genau bei diesen Defiziten in der Versorgung an. Die seit 1996 bestehende antirassistische Initiative vermittelt Patientinnen und Patienten ohne Papiere an Ärzte, Psychologen und andere Fachkräfte weiter. Alle Mitwirkenden des Netzwerks bieten kostenlose und anonyme Behandlungen an. Die anfallenden Material-, Labor- und Krankenhauskosten werden meist durch Spenden gedeckt. Dadurch erhalten Illegalisierte Zugang zur medizinischen Versorgung, ohne der Ausländerbehörde gemeldet zu werden.
Trotzdem bleibt die Situation prekär: Menschen ohne Papiere sind auf freie Kapazitäten der Ärztinnen und Ärzte, auf Sonderregelungen bei Krankenhausaufenthalten und auf Spendengelder angewiesen.
„Die meisten kommen erst zur Beratung, wenn Erkrankungen schon weit fortgeschritten sind. Prävention und ärztliche Regelversorgung bleiben so eine Wunschvorstellung“, sagt Elène Misbach vom Medibüro.
Im Vordergrund stehen erst mal ganz existenzielle Dinge
Besonders im Fall einer chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheit haben Menschen ohne regulären Status massive Probleme, ihre Rechte einzufordern, weiß Antje Sanogo, Beraterin für HIV-positive Migrantinnen und Migranten bei der Münchner Aids-Hilfe. Die meisten Flüchtlinge, die zu ihr in die Beratung kommen, wurden bei den systematischen HIV-Tests im Rahmen des Asylverfahrens positiv getestet.
„Das Hauptthema für diese Menschen sind erst mal ganz existenzielle Dinge: Kann ich in Deutschland bleiben? Woher bekomme ich Medikamente und eine HIV-Therapie? Was passiert, wenn ich abgeschoben werde?“, erzählt Sanogo.
Eine HIV-Therapie werde für Asylbewerber zwar immer finanziert, da es sich um eine tödliche Krankheit handele. Doch bei allen über das absolut Notwendige hinausgehenden Leistungen gebe es Schwierigkeiten. Einem durch die Immunschwäche an Hirnhautentzündung erkrankten HIV-Patienten werde zwar die Therapie bezahlt, nicht jedoch die Ausstattung mit Gehhilfen, falls die Krankheit eine Lähmung hervorruft. „Man fragt sich, inwieweit dieser doppelte Standard noch etwas mit Menschenwürde zu tun hat“, sagt Sanogo.
„Dieser doppelte Standard ist menschenunwürdig“
Die Münchner Aids-Hilfe könne zwar über Spendengelder zusätzlich anfallende Kosten übernehmen. Sie tue das jedoch widerwillig, denn eigentlich sollten ja die Sozialämter und Krankenkassen diese Leistungen tragen. „Es kann nicht sein“, so Sanogo, „dass wir staatliche Aufgaben mit Stiftungsgeldern übernehmen.“
HIV-positive Asylbewerberinnen und -bewerber versucht Sanogo in Flüchtlingsheimen in der Nähe von München unterzubringen, damit sie es nicht so weit zur Aidshilfe-Beratungsstelle und zu HIV-Schwerpunktpraxen haben. Doch durch die bürokratische Verteilung der Flüchtlinge und die wenigen freien Plätze in Flüchtlingsheimen kann auf besondere medizinische Bedürfnisse nur selten Rücksicht genommen werden.
Antje Sanogo sieht hier ganz klar ein Versagen der Politik. Trotz der seit Jahren steigenden Flüchtlingszahlen würden die Unterkünfte nicht ausgebaut. „Hier wird ein menschenunwürdiger Notstand erzeugt, indem man einfach nichts tut. Man lässt die Unterbringungskapazitäten so, wie sie für 10.000 Asylbewerber waren, und sagt, wir schaffen es nicht, die 30.000 unterzubringen.“
Bei HIV-Positiven ohne Papiere ist eine dem Standard entsprechende HIV-Therapie wegen der hohen Kosten überhaupt nicht möglich. Für diese Ratsuchenden versucht Sanogo daher, einen legalen Status zu erkämpfen.
HIV kann ein Grund für eine Aufenthaltserlaubnis sein
Dieser Prozess ist langwierig – er dauert im Schnitt zwei bis drei Jahre – und verlangt jedes Mal eine individuelle Abschiebungsprüfung. Das heißt, dass in jedem Einzelfall nachzuweisen ist, dass der oder die Betroffene im Herkunftsland keinen Zugang zu einer HIV-Therapie hätte und die Krankheit tödliche Folgen haben könnte.
Diesen arbeitsintensiven Prozess hat Sanogo bereits bei mehreren Menschen begleitet, und in jedem der Fälle ist es ihr gelungen, eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu erstreiten.
Die Bemühungen um mehr Rechte für Migranten und Menschen ohne Papiere bekommen derzeit gehörig Gegenwind durch die zunehmend populistische und ausländerfeindliche Debatte. Begriffe wie „Missbrauch des Sozialsystems“ oder „Armutseinwanderung“ dominieren den Mediendiskurs. „Es heißt, dass Flüchtlinge zurückgehen und nicht unseren Wohlstand rauben sollen – dabei wird nie reflektiert, dass die Gründe für Flucht auch sehr viel mit unserer Politik und Lebensweise zu tun haben“, kritisiert Sanogo.
Elène Misbach findet es problematisch, dass bei Migranten mit HIV und anderen Infektionen oft unsensibel von „Krankheitsüberträgern“ gesprochen werde – dies zeige den latenten Rassismus in der Flüchtlingsdebatte.
„Unsere Arbeit ist ein permanenter Widerspruch“
In dieser gesellschaftlichen Stimmung ist es schwierig, das Ziel der „gesundheitlichen Versorgung für alle“ von der Politik erfolgreich einzufordern. Auch die Forderung nach Abschaffung des AsylbLG halten Sanogo wie auch Misbach in nächster Zeit mangels politischer Mehrheiten für nicht erfüllbar. Doch aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts wird das AsylbLG gerade überarbeitet – ein guter Zeitpunkt, sich für eine Streichung unsinniger Regelungen einzusetzen, denn kurz- und mittelfristig können bereits kleinere Gesetzesänderungen die Situation von Menschen ohne Papiere deutlich verbessern.
Auf dem Forderungskatalog steht zum Beispiel die Abschaffung der Residenzpflicht, die es Asylbewerbern verbietet, den Bezirk ihres Asylheims zu verlassen – und folglich Arztbesuche bei Spezialisten erschwert. Auch die Abschaffung von § 87 zur Datenübermittlungspflicht könnte bewirken, dass Menschen ohne Papiere endlich von ihrem Rechtsanspruch auf medizinische Versorgung Gebrauch machen können, ohne an die Ausländerbehörde gemeldet zu werden.
Darüber hinaus gibt es einige praktische Lösungsansätze. Mit einem „anonymisierten Krankenschein“ könnten Illegalisierte vom Sozialamt die Kosten für den Arztbesuch erstattet bekommen, ohne dass ihre Daten aufgenommen werden.
Ein anderer Ansatz ist, Menschen im Asylverfahren eine Versichertenkarte auszugeben, mit der sie direkt zum Arzt gehen können, ohne sich vorher beim Sozialamt einen Krankenschein holen zu müssen. In Hamburg und Bremen läuft dieses Modell bereits, in Berlin versuchen Flüchtlingsrat und Medibüro, die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales dafür zu gewinnen. Die Verhandlungen mit der Politik seien aber zäh, betont Misbach. Viele solcher Reformen scheiterten letztendlich an den Kosten.
Die großen Ziele nicht aus dem Blick verlieren
Bei der Aushandlung kleiner Lösungen sei es gleichwohl wichtig, die großen Ziele nicht aus dem Blick zu verlieren. „Wir fordern, dass der Staat die ‚Gesundheitsversorgung für alle‘ übernimmt. Gleichzeitig bauen wir durch unsere Unterstützung ein Parallelsystem auf, das den Verantwortungsträgern den Druck nimmt, etwas zu verändern. Diesen Widerspruch müssen wir uns immer wieder bewusst machen und öffentlich thematisieren, um so den Druck auf die politisch Verantwortlichen zu erhöhen“, sagt Misbach.
Auch Sanogo frustriert diese Seite ihrer Arbeit, da es rechtlich fast keine Fortschritte gebe und man immer wieder dieselben Streitpunkte mit den Behörden ausfechte. „Aber ich sehe eher die positiven Aspekte: Ich lerne tolle, starke Menschen kennen, die eine wahnsinnig positive Lebenseinstellung haben. Es ist beeindruckend, wie viele Ressourcen sie auch in schlimmen Lebenslagen mobilisieren können. Das gibt einem ganz viel.“
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