Integrative Medizin an Universitäten der USA und gesundheitspolitische Impulse in Deutschland


Eine spannende gesundheitspolitische Quizfrage anlässlich der Bundestagswahl: Was hat das US-amerikanische Consortium of Academic Health Centers for Integrative Medicine mit der Kleinen Anfrage Nr. 17/14262 der SPD an die Bundesregierung zur Komplementärmedizin, mit dem Wunsch der grünen Gesundheitspolitikerin MdB Birgitt Bender nach einer stärkeren Förderung der Versorgungsforschung und mit dem Anstieg von chronischen Erkrankungen zu tun, für die inzwischen rund 70 Prozent der Gesundheitsausgaben anfallen? „Deutschland solle sich ein Beispiel an den USA nehmen, deren National Institute of Health die komplementärmedizinische Forschung mit mindestens 120 Millionen Dollar jährlich fördere“, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen laut DAZ.online in einem Interview. – Wenn Ihnen die Antwort auf meine Frage nicht einfällt, dann könnte sich die Lektüre dieses Blogbeitrags für Sie lohnen. Es geht hier nämlich auch um „Ihre Gesundheit“ und darum, wie unser Gesundheitssystem bezahlbar bleibt. Beides ist eng mit der gesundheitspolitisch bedeutenden Frage verknüpft, wie wir zukünftig mit lang andauernden, chronischen Erkrankungen umgehen, die in hohem Maße durch Stress und Lebensstil beeinflusst werden. Der Lebensstil in einer überalternden Industriegesellschaft erfordert gänzlich andere gesundheitspolitische Antworten als nur bessere Pillen und Medizintechnik. Es benötigt qualifizierte Patienten, die sich krankheitsvermeidend und gesundheitsfördernd verhalten.
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Consortium of Academic Health Centers for Integrative Medizin
Abbildung: Universitätsnahe Zentren für Integrative Medizin sind in den USA weit verbreitet. In Deutschland wird hingegen noch gerätselt, was Integrative Medizin überhaupt ist. – Foto: © maglara – Fotolia.com
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Integrative Medizin an renommierten Universitäten der Vereinigten Staaten

Die Liste liest sich wie ein Who-is-Who namhafter US-amerikanischer Hochschulen: Die Stanford University hat eins. Die Universities of California in Irvine, Los Angeles, San Diego und San Francisco haben eins. Die Yale University, eine der renommiertesten Universitäten der Welt, hat ein universitätsnahes Zentrum für Integrative Medizin. Die private Johns Hopkins University in Baltimore hat eins. Boston University und Harvard haben auch eins. Die hoch angesehene Mayo-Clinic-Gruppe hat eins in Rochester (Minnesota), welches noch durch eine „Reserach Unit“ ergänzt wird. Die nicht weniger namhafte Columbia University in New York hat eins, ebenso die George Washington University. Ich könnte diese Aufzählung noch endlos weiterführen. Haben Universitäten in den Vereinigten Staaten eine medizinische Fakultät, so haben sie in der Regel auch ein hochschulnahes Zentrum für sogenannte Integrative Medizin.

Wie kommt es, dass Integrative Medizin in den USA so weit verbreitet und etabliert ist, während Deutschland auf diesem Gebiet nur sehr sehr wenige Institutionen hat, z. B. den Lehrstuhl der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung für Naturheilkunde und Integrative Medizin, der an der Universität Duisburg Essen angesiedelt ist oder die Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde (CHAMP) in Berlin. Wie kommt es, dass SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen sich in winzigen Schritten an die Thematik heranhangeln, die USA uns jedoch schon gefühlte 20 Jahre voraus sind?
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Die Heilkraft des „inneren Arztes“

So viel vorweg: Patienten müssen und können zukünftig mehr tun, damit Krankheiten gar nicht erst entstehen. Was wir selbst alles für unsere Gesundheit tun können, das vermitteln neuerdings z. B. Zentren für Integrative Medizin bzw. „Lebensstilmedizin“, deren Leistungsfähigkeit insbesondere mit dem Instrumentarium der sog. Versorgungsforschung wissenschaftlich untersucht wird. Die Vereinigten Staaten sind auf dem Gebiet der Integrativen Medizin Pioniere, von denen wir viel lernen können. Biggi Bender von den Grünen weiß das. SPD und auch die FDP setzen sich mit der Thematik inzwischen zaghaft auseinander. Bevor wir hierzulande jedoch das große Potenzial erschließen können, welches die Journalistin Sabine Goette in ihrem ARTE-Film „Die Heilkraft des inneren Arztes“ exzellent beschrieben hat, benötigt es wahrscheinlich noch einen Umdenkprozess – innerhalb der medizinischen Fakultäten unserer Universitäten und auch bei den Anhängern diverser komplementärer bzw. unkonventioneller Therapieverfahren, bei denen nicht immer auf den ersten Blick klar ist, was der Gesundheit dient und was der Ideologie oder dem Geschäft.

Sabine Goette: Die Heilkraft des inneren Arztes
Abbildung: Thomas Kausch: „Das Gehirn steuert Stress und Abwehr aber auch Heilung“. ARTE-Themenabend über „Die Heilkraft des inneren Arztes“. Links: zum Video und zum Buch.
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Voraussetzung: Umdenken und „Ent-Ideologisierung“
Medizinische Fakultäten müssen stärker als bisher zur Kenntnis nehmen, was Neurobiologie, Stressforschung, Psychoneuroimmunologie, komplementärmedizinische und Placeboforschung in den letzten Jahren an wertvollen Erkenntnissen ans Tageslicht gebracht haben und erkennen, dass „bessere Pillen“ und „bessere Medizintechnik“ alleine eine sehr kostspielige, ineffektive und wenig nachhaltige Antwort auf den rasanten Anstieg chronischer Erkrankungen sind. Die Repräsentanten komplementärer Therapieverfahren wiederum sollten akzeptieren, dass der Zugang zu Hochschulen zunächst eine „Ent-Ideologisierung“ als Vorleistung erfordert. Mit „Master Degree“ in „Quantenhomöopathie“Dr. Gutenbergs Abnehm-Globuli oder anthroposophischem Ringelpiez mit Anfassen lassen sich an Hochschulen keine Blumentöpfe gewinnen – mit einer unbestritten hochgradig effektiven Arzt-Patient-Interaktion im Rahmen ärztlicher Homöopathie und der Betonung psychosomatischer Aspekte von Gesundheit und Krankheit, wie sie uns beispielsweise die moderne Anthroposophische Medizin oder die Mind-Body-Medizin zeigen, sollten Universitäten eigentlich sehr gut klar kommen. Das EU-Projekt CAMbrella bestätigte jüngst, dass und warum auf diesem Gebiet Handlungsbedarf besteht.

„Des Pudels Kern“
Arzt-Patient-Interaktion und psychosomatische Aspekte von Gesundheit und Krankheit sind nicht einfach nur Schnickschnack, zusätzlich zur „wirksamen“ konventionellen Medizin. Es ist vielmehr die Essenz, die im Kontext chronischer Erkrankungen von zentraler Bedeutung ist und die der konventionellen symptom- und organfokussierten Medizin fast vollständig fehlt. Emotionaler, mentaler und körperlicher Stress fördert chronische Erkrankungen. Über welche neurobiologischen und physiologischen Prozesse z. B. lang anhaltender emotionaler Stress zu ganzen Kaskaden von körperlichen Erkrankungen führen kann, das hat Dr. med. Jan D. Hahn-Godeffroy, Facharzt für Innere Medizin und Pharmakologie aus Hamburg, soeben in einem Beitrag dieses Blogs erläutert. Integrative Medizin oder auch „Lebensstilmedizin“ zeigt uns neue Wege, wie wir diesem Stress den Wind aus den Segeln nehmen können, um unseren Körper zu schonen und körpereigene Ressourcen zu stärken. Dazu benötigt es nicht mehr Pillen und Medizintechnik sondern zunächst einmal Qualifikation, Eigeninitiative, Motivation und Verhaltensänderungen auf Seiten der Patienten.
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Sabine Goette, Buch und DVD
Abbildung: Buch und DVD zur TV-Dokumentation von Sabine Goette
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Suche nach den eigenen Kräften

„Was kann ich selbst für mich tun, um wieder gesund zu werden oder zumindest Linderung herbeizuführen“. Diese scheinbar simple Frage bewegt Millionen Menschen. In der Regel wird sie weder von Ärztinnen und Ärzten noch von Krankenhäusern oder in der Schule beantwortet. Auch Akupunkteure, Homöopathinnen oder Yogalehrer beantworten diese wichtige Frage gewöhnlich nicht. Sie praktizieren Akupunktur, Homöopathie und Yoga – lehren jedoch nicht, was ich selbst als chronisch kranker Mensch tun kann, um wieder gesund zu werden oder zumindest Linderung herbeizuführen. Die Journalistin Sabine Goette hat eine der wichtigsten Fragen chronisch kranker Menschen zum Anlass genommen, einen ARTE-Dokumentarfilm zu produzieren und ist damit auf sehr große Resonanz gestoßen. Ihr Buch zum Film, „Die Heilkraft des inneren Arztes – Wie jeder seine Selbstheilungskräfte wecken kann“, eine Art Patientenratgeber für chronisch Kranke, bewegt sich jenseits ausgetretener Pfade. Es geht nicht um neueste Errungenschaften aus Pharmakologie und Biotechnologie. Es geht auch nicht um Globuli und Energiemeridiane. Stattdessen geht es um neueste Erkenntnisse aus Stress-, Placebo- und Hirnforschung sowie um einzelne Menschen, die schwer krank waren, wieder gesund wurden oder zumindest nachhaltig Linderung gefunden haben und die zu ihrer Heilung selbst beigetragen haben.

Von medizinischem Paternalismus zu mehr Eigenverantwortung
Solche wie Prof. Gerd Nagel, der einst Chefarzt einer deutschen Universitätsklinik und Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft war und dessen medizinisches Weltbild sich grundlegend wandelte, als er an einer Form der Leukämie erkrankte, die damals als praktisch unheilbar galt. Prof. Gerd Nagel unterzog sich einer Chemotherapie, war jedoch von Anfang an der Überzeugung, dass diese alleine nicht ausreichen könnte, um zu überleben und dauerhaft zu heilen. Er fragte sich: „Was kann ich denn selbst dazu beitragen, die Krankheit zu überwinden … Was sind denn meine eigenen Kräfte?“ Eine Quintessenz des Buches von Sabine Goette ist gleichzeitig auch eine zentrale Erkenntnis der Integrativen Medizin. Sie lautet:

„Patienten werden besser gesund, haben bessere Erfolge in der Therapie, haben eine höhere Lebensqualität und günstigere Heilungschancen, wenn sie sich selbst als kompetente Patienten mit ihren Kräften in den Heilungsprozess einbringen. Und nicht aufgeben und alles der Medizin überlassen.“
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Gesundheitspolitischer Reformbedarf

Kommen wir zurück zu meiner gesundheitspolitischen Quizfrage: Was hat das US-amerikanische Consortium of Academic Health Centers for Integrative Medicine mit der Kleinen Anfrage Nr. 17/14262 der SPD an die Bundesregierung zur Komplementärmedizin, mit dem Wunsch der grünen Gesundheitspolitikerin MdB Birgitt Bender nach einer stärkeren Förderung der Versorgungsforschung und mit dem Anstieg von chronischen Erkrankungen zu tun, für die inzwischen rund 70 Prozent der Gesundheitsausgaben anfallen? Hier nun die Antwort:

Wir benötigen Patientenkompetenz und „Lebensstilmedizin“
Der erschreckende Anstieg chronischer, lang anhaltender Erkrankungen ist weder auf Zufall noch auf geheimnisvolle neue Krankheitserreger zurückzuführen. Chronische Erkrankungen sind vielmehr eine simple „körperliche Antwort“ auf den typischen Lebensstil und emotionalen, mentalen und körperlichen Dauerstress in einer Industriegesellschaft. Wir bewegen uns zu wenig oder ungünstig, nehmen über unsere Nahrung zu viel Energie auf, werden beispielsweise über neue Medien permanent mit Reizen überflutet, stehen dank Globalisierung permanent unter starkem Leistungsdruck, auch emotional und mit existenziellen Ängsten verbundenen. Universitätsnahe Zentren für Integrative Medizin, die Patientinnen und Patienten im Umgang mit chronischem Stress und Leistungsdruck helfen, ihnen zeigen, was sie selbst aktiv für ihre Heilung und Gesundung tun können und deren „medizinischer Outcome“ im Rahmen von mehr staatlich geförderter Versorgungsforschung untersucht wird, wären eine sinnvolle gesundheitspolitische Antwort, um die Lebensqualität von chronisch kranken Menschen nachhaltig zu verbessern und mittel- und langfristig Gesundheitskosten zu senken.
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Yale, Stanford, Columbia University & Co. zeigen uns mit ihren hochschulnahen Zentren für Integrative Medizin, in welche Richtung auch wir uns bewegen könnten. Politische Parteien finden hier ein Terrain, auf dem sie nur gewinnen können. Der politisch zu gehende Weg ähnelt dem, den wir in den letzten 20 Jahren in der Energiepolitik zurückgelegt haben. Kernkraft und Kohle führen nicht in die Zukunft. Es benötigt Diversifikation, Energiesparen, Dezentralisierung und mehr regenerative Energien. In der Gesundheitspolitik haben wir es mit anderen Begriffen zu tun. Die Prinzipien, Probleme und Lösungswege ähneln sich jedoch erstaunlich. Effektiv ist z. B. das, was Energie spart (Energiepolitik) oder Krankheiten gar nicht erst enstehen lässt (Gesundheitspolitik).
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Links zum Thema:

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Prof. Harald Walach: „Wer hätte das gedacht? Die Politik kümmert sich um die Komplementärmedizin!“
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CAM Media.Watch: SPD befragte die Bundesregierung zur Komplementärmedizin. Wann ist ein Thema für unsere Medien relevant?

Neuraltherapie.Blog: Forschungslage: Placebo in der Medizin. Experten raten, den Placeboeffekt stärker für die Therapie zu nutzen.
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