Wer in Kenntnis seiner HIV-Infektion ungeschützten Sex mit einer HIV-negativen Person hat, ohne diese vorher über den HIV-Status aufgeklärt zu haben, macht sich in Deutschland strafbar – auch dann, wenn das Virus nicht übertragen wurde. Wie die strafrechtliche Situation in England und Wales aussieht und wie Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Justiz es gemeinsam schafften, Richtlinien zum Umgang mit HIV-Übertragungen zu entwickeln, berichtet Yusef Azad vom National AIDS Trust. Ein Interview von Nicholas Feustel
Herr Azad, wie ist die Rechtslage in Großbritannien in Sachen Nichtoffenlegung der HIV-Infektion, Risikoexposition und Übertragung?
In Großbritannien – England, Schottland, Wales und Nordirland – ist die Rechtsprechung nicht überall gleich. In England und Wales kann die sexuelle Übertragung einer Infektion als „Angriff“ im Sinne einer fahrlässigen oder beabsichtigten Verursachung ernsthafter Schäden strafrechtlich verfolgt werden. Das hier angewandte Gesetz heißt „Offences Against The Person Act“ [Anm.d.Red.: Gesetz über Straftaten gegen die Person] und stammt aus dem Jahr 1861. Und offensichtlich haben die Gerichte entschieden, dass es sich bei HIV – und ebenso bei Hepatitis B und Herpes – um einen ernsthaften Schaden handelt, der in den Bereich fahrlässiger Übertragung fällt.
„Für die Gerichte handelt es sich bei HIV um einen ernsthaften Schaden“
Die Nichtoffenlegung der HIV-Infektion gilt nicht als Straftat. Umgekehrt gilt es als Verteidigungsgrund, wenn die Person, auf die eine Krankheit übertragen wurde, dem Risiko zugestimmt hat – und Zustimmung gründet auf der Tatsache, dass man von der Infektion des Gegenübers wusste, und das heißt fast immer, dass der oder die Infizierte die Infektion offengelegt hat.
Jemanden einfach einem Infektionsrisiko auszusetzen, ist keine Straftat. Es sei denn, es handelt sich um eine absichtliche Übertragung, weswegen bisher aber noch niemand verurteilt wurde. Doch theoretisch ist es möglich. Eine Straftat wäre ebenso der fehlgeschlagene Versuch einer absichtlichen Infizierung. Dieses Delikt fiele unter ein anderes Gesetz namens „Criminal Attempts Act“ [Anm.d.Red.: Gesetz über versuchte Straftaten].
Gibt es im englischen Recht so etwas wie „versuchte Fahrlässigkeit“?
Nein, so etwas gibt es nicht. Fahrlässigkeit setzt ja voraus, dass ein Schaden eingetreten ist.
Heißt das, dass Fälle von Risikoexposition – anders als in Deutschland – nicht vor Gericht kommen?
Richtig. Manche dieser Kläger sind schockiert, weil der Sexualpartner sie getäuscht und seinen HIV-Status nicht offengelegt hat. Und manchmal sind sie bestürzt, dass das nicht als Straftat gilt. Mitunter versuchen daher Kläger oder die Polizei, eine „absichtlich versuchte Übertragung“ zu konstruieren. Aber so etwas führt zu nichts.
Seit wann beschäftigen sich der National AIDS Trust und der Terrence Higgings Trust – beides Nichtregierungsorganisationen – mit dem Thema?
2003 kam es in England und Wales zum ersten Mal zu einer gerichtlichen Verurteilung aufgrund einer HIV-Übertragung – für uns ein Zeichen dafür, dass sich in der Gesellschaft die Einstellung hierzu geändert hat. Es handelte sich schlicht um ein Gerichtsurteil und basierte nicht auf detailliert ausgearbeiteten Rechtsvorschriften zur Krankheitsübertragung.
„Was das Gesetz von Menschen mit HIV verlangte, war unklar“
Was das Gesetz von Menschen mit HIV verlangte, war unklar: Was bedeutete „riskanter Sex“? Wie riskant musste er denn sein? Musste man immer ein Kondom benutzen? War man gesetzlich zur Offenlegung der Infektion verpflichtet? Im Juli 2004 luden wir deshalb Wissenschaftler, Ärzte, Ehrenamtliche und Juristen zu einer Tagung ein, um unsere Sichtweisen zur strafrechtlichen Verfolgung der HIV-Übertragung und mögliche Strategien als Reaktion auf die veränderte Situation zu diskutieren.
Zu welchen Ergebnissen führte diese Tagung?
Die Vertreter aus dem HIV-Bereich lehnten eine Strafverfolgung einhellig ab, auch wenn es zum Beispiel bei der Frage, wie im Falle einer absichtlichen HIV-Übertragung verfahren werden sollte, unterschiedliche Meinungen gab. Insgesamt aber war man alarmiert und betroffen. Diese rechtliche Entwicklung war ja nicht Folge eines im Parlament geprüften Gesetzes oder einer politischen Diskussion. Die Regierung äußerte sich hierzu nicht und hat das zum Teil bis heute nicht getan. Vielmehr hatten die Gerichte ein Rechtsprinzip, das sie in einem Gesetz aus dem 19. Jahrhundert entdeckt hatten, erweitert und auf neue Gegebenheiten angewandt – eine sehr traditionelle Form englischer Rechtspraxis.
„Zur Anwendung kam ein Rechtsprinzip aus dem 19. Jahrhundert“
Auf welchem Weg eine Veränderung der aktuellen Politik erreicht werden konnte, erwies sich indes als schwierige Frage. Man konnte sich ans Parlament wenden und ein neues Gesetz fordern, das die Rechtsprechung korrigieren würde. Aber eine Entkriminalisierung der fahrlässigen HIV-Übertragung zu fordern, wurde für tollkühn und riskant gehalten, denn das konnte die Situation durchaus weiter verschlechtern. Und nichts sprach dafür, dass das Parlament – damals wie heute – liberal und gegen Kriminalisierung eingestellt sein würde.
Uns blieb also nur, die von den Gerichten verursachten Schäden zu minimieren und Kontakt zum CPS, dem Crown Prosecution Service [Anm.d.Red.: Strafverfolgungsdienst der Krone] aufzunehmen. Diese staatliche Institution hatte die Strafverfolgung in diesem ersten Fall beschlossen und würde für alle künftigen Fälle dieser Art verantwortlich sein. Wir mussten herausfinden, was sie für strafbar hielten, wie sie damit umgingen und wie sie sicherstellten, nicht zu diskriminieren. Und wir wollten Klarheit über ihre Regeln bekommen und dafür sorgen, dass sie HIV wirklich begreifen.
„Wir wollten dafür sorgen, dass sie HIV wirklich begreifen“
Ergebnis der Tagung war also eine gemeinsame politische Sichtweise, aber auch die Auffassung, durch Anfechtung der jeweiligen Rechtsanwendung werde man kurz- und mittelfristig mehr Erfolg haben, als wenn man dem Gesetz selbst den Kampf ansagte.
Wie gingen Sie schließlich vor?
Die Geschäftsführer unserer beiden Organisationen verfassten einen gemeinsamen Brief an den Direktor der Staatsanwalt, den Leiter der gesamten Abteilung. Zu jenem Zeitpunkt lagen drei Anklagen vor – alle drei gegen schwarzafrikanische Migranten.
Der CPS als öffentliche Einrichtung ist gesetzlich zur Förderung der ethnischen Gleichheit verpflichtet. Deshalb wiesen wir in dem Brief darauf hin, dass die HIV-Infektion als Behinderung anerkannt ist, vor allem schwule Männer und schwarze Afrikaner betrifft und alle bisherigen Anklagen nur gegen Schwarzafrikaner gerichtet waren, was der CPS nicht ignorieren könne. Er müsse dokumentieren, was er tue, und dafür sorgen, dass sein Handeln nicht gegen das Prinzip von Gleichheit und Nichtdiskriminierung verstößt.
„Alle Anklagen richteten sich gegen Schwarzafrikaner“
Und das funktionierte: Innerhalb einer Woche hatten wir ein Meeting und ein Arbeitsverfahren sowie die Entwicklung von Richtlinien für die Strafverfolgung vereinbart.
Worum ging es bei diesem ersten Meeting?
Der CPS installierte eine Arbeitsgruppe, in der er selbst, die Polizei, das Innen- und Gesundheitsministerium, der Verband der HIV-Ärzte, unsere beiden Organisationen sowie weitere HIV-Netzwerke vertreten waren. Das Ziel war, nach eingehender Diskussion und Klärung der Sachlage die Richtlinien zu entwerfen.
Zunächst ließ der CPS einige der von uns eingebrachten medizinwissenschaftlichen Aspekte durch die Aids-Expertengruppe EAGA – sie berät die Oberste Gesundheitsbehörde – auf ihre Richtigkeit überprüfen. Als festgestellt wurde, dass wir und der Terrence Higgins Trust richtig lagen, ging es an den letzten Entwurf und die Veröffentlichung.
Was sollte denn zum Beispiel noch geprüft werden?
Unter anderem ging es um ein gemeinsam mit einer Virologin erstelltes Papier, in dem wir betonten, dass man die phylogenetische Analyse bei diesen ersten Fällen missbraucht hatte, um Leute für schuldig zu erklären, die es gar nicht waren.
Man hatte damals von den Klägern und den Angeklagten HI-Viren entnommen, sie analysiert und festgestellt, dass sie zueinander passten. Für die Staatsanwaltschaft stand damit fest, dass der Angeklagte die verantwortliche Person sei. Doch die Übereinstimmung der Viren konnte ja genauso gut bedeuten, dass es umgekehrt war und der Kläger den Angeklagten infiziert hat: Sie sagt ja nichts darüber aus, in welche Richtung die Viren übertragen worden sind. Möglich war außerdem, dass eine dritte Person den Kläger wie auch den Angeklagten angesteckt hat.
„Die phylogenetische Analyse liefert keinen hinreichenden Beweis“
Die phylogenetische Analyse weist also nur auf eine mögliche Übertragung zwischen zwei Personen hin, beweist dies aber nicht hinreichend, sodass weitere Beweise gebraucht werden.
Wie wichtig die vom HIV-Bereich eingebrachte wissenschaftliche Beratung sein kann, hat sich auch beim Thema „Schutz durch Therapie“ gezeigt. Dazu gab es in den CPS-Richtlinien kürzlich den Nachtrag, dass eine nicht nachweisbare oder sehr geringe Virusmenge genauso schützen kann wie das Kondom und dass die Strafverfolgungsbehörden diesen Sachverhalt anerkennen sollten. Das ist beispielsweise in Schottland relevant, wo die Exposition strafrechtlich verfolgt werden kann. Die Behörden dort sollten niemanden mit niedriger Viruslast wegen „Risikoexposition“ belangen, weil diese Person niemanden einem Risiko aussetzt.
Bei deutschen Gerichten ist immer noch strittig, ob „Schutz durch Therapie“ genauso Safer Sex ist wie der Kondomgebrauch. Ist das in England und Wales heute Konsens?
Ja. Und das ist ein weiterer, recht interessanter Aspekt unserer Strategie. Wir hatten unter anderem empfohlen, dass die beiden wichtigsten klinischen Gremien in England und Wales, BHIVA und EAGA, gemeinsam ein Konsens-Papier zum „Schutz durch Therapie“ erstellen sollten – wir hatten nämlich das Schweizer Statement gelesen [Anm. d. Red.: in Deutschland als „EKAF-Statement“ bekannt]. In Großbritannien gab es zwar Papiere, Konferenzen und Debatten dazu, aber kein verbindliches Statement der klinischen Community, das klarstellte, wie „Schutz durch Therapie“ funktioniert. Ohne ein solches Papier war es schwierig, die Strafverfolgungsbehörden auf die Sache festzunageln.
In England und Wales Konsens: Schutz durch Therapie = Safer Sex
Zunächst also organisierte der NAT ein Expertenseminar zum Thema und schrieb einen Bericht darüber. Danach nervten wir die beiden Gremien so lange mit der Bitte, dieses Statement zu verfassen, bis sie es schließlich taten und das Ergebnis auf ihre Website stellten. Mit diesem Papier können wir jetzt erneut an den CPS herantreten und sagen: Das ist also nichts, was wir uns ausgedacht haben, sondern das ist der klinische Konsens zum Thema.
Und wo sie nun fertig und veröffentlicht sind: was steht denn in den Richtlinien?
Nun, die Richtlinien sind nicht HIV-spezifisch, sondern befassen sich mit der sexuellen Übertragung von Krankheiten allgemein, obwohl es bis zu ihrer Veröffentlichung nur wegen HIV Fälle strafrechtlicher Verfolgung gegeben hatte. Wir betonten damals, dass ein HIV-spezifisches Recht diskriminierend wäre, und dem stimmte der CPS zu. Wir werden die Richtlinien überarbeiten und Anhänge oder ergänzende Materialien hinzufügen müssen, die sich auf spezielle Infektionen beziehen, denn inzwischen hat es auch Anklagen wegen Hepatitis B und Herpes gegeben.
„So etwas wie ‚versuchte Fahrlässigkeit‘ gibt es nicht“
Die Richtlinien besagen, dass es so etwas wie „versuchte Fahrlässigkeit“ nicht gibt und die Nichtoffenlegung des Serostatus beim Sex keine Vergewaltigung ist. Ebenso, dass es sich um einen sensiblen Rechtsbereich handelt, diese Fälle schwer zu beweisen sind und nicht mit vielen Fällen zu rechnen ist.
Dokumentiert ist auch, dass es als Verteidigungsgrund zu gelten hat, wenn eine Person in ein ihr bekanntes Risiko eingewilligt hat: Wenn man also von der HIV-Infektion des Partners weiß und mit ihm ungeschützten Sex hat, nimmt man das Infektionsrisiko in Kauf, was der Partner zu seiner Entlastung anführen könnte. Ein anderer wichtiger Punkt der Richtlinien lautet, dass fahrlässig nur handeln kann, wer von seiner Infektion weiß, was im Regelfall nur mittels Diagnose möglich ist. Außerdem muss man über die Übertragungswege und über Safer Sex beraten worden sein.
Auch die Unterlagen zu den Grenzen der phylogenetischen Analyse sind enthalten. Zugleich wird angeführt, dass bei jeder HIV-Beschuldigung eine solche Analyse durchzuführen ist, und zwar als Teil der Beweismittelführung. Durch unsere Präsentation hat der CPS nämlich verstanden, dass es sich hier um ungewöhnliche Fälle handelt, weil die Beschuldigten ja nicht automatisch wissen, ob sie schuldig sind oder nicht.
„Eine angemessene Schutzmaßnahme muss nicht zu 100 % effektiv sein“
Betont wird außerdem, dass die Verwendung „angemessener Schutzvorkehrungen“ zur Verteidigung angeführt werden kann. Die Verfasser der Richtlinien dachten dabei wahrscheinlich an Kondome, aber meines Erachtens gehört heute auch der Schutz durch Therapie dazu. Sehr hilfreich ist auch die Feststellung, dass eine angemessene Schutzmaßnahme nicht zu hundert Prozent effektiv sein muss. Kondome schützen zwar nicht hundertprozentig, sind aber angemessen. Und wenn nun das Kondom platzt und der Sexpartner sich infiziert, dann hat man keine Straftat begangen: Man hat ja getan, was als angemessen gilt, um die Weiterverbreitung von HIV zu verhindern.
Zugleich geht aus den Richtlinien hervor, dass es nicht Sache der Gerichte oder Verfolgungsbehörden ist, zu bestimmen, was angemessene Schutzvorkehrungen sind. Die Gerichte werden sich vielmehr am klinischen Konsens orientieren, was im Sinne von Safer Sex als adäquat anzusehen ist. Das steht im Gegensatz zu Ländern wie etwa Kanada, wo die Gerichte selbst entscheiden, was angemessener Safer Sex ist und was nicht.
Sind Sie mit den Richtlinien insgesamt zufrieden?
Im Rahmen dessen, was wir erreichen konnten, sind sie ziemlich gut. Wir konnten ja die Gesetze nicht ändern, und das mussten wir jedem klarmachen, der an dem Prozess beteiligt war.
Was würden Sie Menschen raten, die gegen die HIV-Kriminalisierung in ihrem Land vorgehen wollen? Was also funktioniert und was nicht?
Was bei uns funktioniert hat, war einfach das Einbringen wissenschaftlicher Belege – ob es nun um die Häufigkeit der HIV-Übertragungen durch Nichtdiagnostizierte ging, um die phylogenetische Analyse oder um die Schutzwirkung der HIV-Therapie oder des Kondoms.
Wichtig: wissenschaftliche Belege und Bündnispartner
Günstig war ebenso, dass es im HIV-Bereich ein sehr einheitliches Bündnis von Menschen gab, die ihre Besorgnis äußerten. Dazu gehörten auch HIV-Positive, und zwar nicht nur Schwule, sondern auch Afrikaner oder Frauen, und natürlich Ärzte und Wissenschaftler. Wir alle zusammen waren einfach sehr schlagkräftig.
Für uns war wichtig, auf zwei Ebenen aktiv zu sein und diese beiden Ebenen klar voneinander zu trennen. Da war einerseits die grundsätzliche Opposition zur Politik – wir erhalten sie weiter aufrecht und entwickeln dazu unsere Visionen und Positionen. Und andererseits ging es um praktisch-strategische Schadensminimierung, wo wir mit Strafverfolgungsbehörden und später mit der Polizei kooperierten, um entsprechende Regeln und Verfahrensweisen zu finden.
Aber wir sind nie Kompromisse eingegangen, was unsere grundsätzliche Ablehnung der strafrechtlichen Verfolgungen angeht.
Weitere Informationen:
Wie die CPS-Richtlinien zum Umgang mit HIV-Übertragungen entstanden sind, zeigt die englischsprachige Videodokumentation „Doing HIV Justice“. Zu Wort kommen neben Yusef Azad auch Lisa Power vom Terrence Higgins Trust und Arwel Jones vom Crown Prosecution Service.
Originalwortlaut der CPS-Richtlinien
Aktualisiertes Positionspapier zu „Schutz durch Therapie“ von BHIVA und EAGA (Stand: Januar 2013)