Das Gesundheitswesen im Spannungsfeld zwischen Normierung und Wettbewerb – Die evidenzbasierte Medizin als Grundlage von Patienteninformationen

Gesundheit

Bildnachweis: Gerd Altmann / pixelio.de

Wie passen diese beiden Themen zusammen? Das erste Thema ist auf die Gesundheitspolitik bezogen; das zweite Thema ist eher wissenschaftlich ausgerichtet. Mein Vortrag auf der Jahrestagung der Stiftung Gesundheit sollte die Verbindung zwischen beiden Themen herstellen und daraus auch notwendige Konsequenzen ableiten:

A. Politisches Ziel der Gesundheitspolitik ist parteiübergreifend nach allen Bekundungen, eine für alle Bürger zugängige nach dem gesicherten Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse notwendige medizinische Versorgung unter Berücksichtigung der demographischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts. Aus der Koalitionsvereinbarung der großen Koalition lassen sich daraus grundsätzliche Folgerungen ableiten:

1. Zur Finanzierung ihrer Leistungserbringung an die Versicherten erhalten die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds gleiche morbiditätsgewichtete Zuteilungen an Beitragsmitteln je Versicherten (Gleichstellung auf der Einnahmenseite). Der politisch gewünschte Vertragswettbewerb der Krankenkassen soll dadurch auf die Ausgabenseite zur Verbesserung der Effizienz der Versorgung gelenkt werden (Vermeidung oder Senkung eines allein von den Versicherten zu tragender Zusatzbeitrags);

2. Notwendig ist dafür aber zunächst die Stärkung der normativen Gestaltungsmacht des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als dafür zuständigem obersten Organ der Gemeinsamen Selbstverwaltung zur Gewährleistung einheitlicher Rahmenbedingungen der Regelversorgung als Bedingung für diesen Vertragswettbewerb. Der Gesunde wählt die Krankenkasse, der Kranke benötigt aber die zur Behandlung seiner Erkrankung notwendige medizinische Behandlung. Dies erfordert die Gewährleistung eines kassenübergreifende Leistungskataloges und qualitativer Mindestbedingungen, auf die jeder Versicherte losgelöst von seiner Kassenzugehörigkeit zunächst Anspruch haben muss, bevor er Entscheidungen zur Teilnahme an wettbewerblich ausgerichteten Versorgungsangeboten seiner Krankenkasse trifft.

3. Auf dieser normativen Grundlage soll aber die wettbewerbliche Gestaltungsmacht der einzelnen Krankenkassen zur vertraglichen Steuerung der Versorgung ihrer Versicherten gestärkt werden. Dies betrifft insbesondere das für die hausarztzentrierte Versorgung verpflichtende, für facharztzentrierte oder übergreifen integrierte Versorgung selbst gewählte Angebot der Krankenkassen an ihre Versicherten für Wahltarife außerhalb der Regelversorgung, Rabattvereinbarungen mit Arzneimittelherstellern und Satzungsleistungen für vom Pflichtleistungskatalog der GKV nicht erfasste Leistungsbereiche.

B. Der Gemeinsame Bundesausschuss trifft seine Entscheidungen zum Leistungskatalog und zu den Anforderungen an die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Leistungserbringung auf der Grundlage der evidenzbasierten Medizin. Zwei unabhängige wissenschaftliche Institute liefern dafür die wissenschaftliche Grundlage. Patientenvertreter sind an diesen Entscheidungsprozessen maßgeblich beteiligt, wenn auch ohne Stimmrecht aber mit Antragsrecht. Die Richtlinien des G-BA sind für alle im GKV-System tätigen Leistungserbringer (Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser etc.) und Krankenkassen für die Regelversorgung unmittelbar rechtlich verbindlich. Insoweit besteht daher ein einheitlicher in seinen Grundlagen transparenter Rechtsanspruch auf Leistungserbringung gegenüber allen Krankenkassen.

C. Unterhalb dieser normativen Ebene findet aber ein Vertragswettbewerb unter den noch bestehenden 132 Krankenkassen statt, der für jede einzelne Krankenkasse – insoweit als Wirtschaftsunternehmen – auf unternehmerischen Entscheidungen basiert, die deswegen auch als Betriebsgeheimnis gehütet werden. Es gibt daher im deutschen Gesundheitswesen eine Vielzahl vertraglich mit einzelnen Krankenkassen und Leistungserbringer-Gemeinschaften vereinbarte Versorgungsangebote an die Versicherten neben der Regelversorgung, die aber aus den genannten Gründen nicht extern durch unabhängige wissenschaftliche Institute in ihrer Effizienz evaluierbar sind. Für die ambulante spezialfachärztliche Versorgung ist jetzt noch ein besonderer, spezialisierten Fachärzten und Krankenhäusern offen stehender Leistungsbereich geschaffen worden, der, politisch gewollt, einen Qualitätswettbewerb eröffnen soll, wahrscheinlich in den ersten fünf Jahren aber auch keiner externen Evaluation zugeführt werden kann.

D. Vertragswettbewerb der Krankenkassen im Deutschen Gesundheitssystem ist daher leider kein wissenschaftlich begleiteter Suchprozess nach der effizientesten Versorgungsform, die dann aus Gründen der Gleichbehandlung selbstverständlich in die Regelversorgung überführt werden müsste. Der Wettbewerb unterschiedlicher Strukturen der Leistungserbringung (z.B. hausärztlich – hausarztzentriert) ist vielmehr zum Strukturelement der GKV geworden, ohne dass die jeweiligen Ergebnisse extern evaluiert werden können.

E. Unser Gesundheitssystem, dem wir alle ein gute Qualität bescheinigen, weist aber auch in der Regelversorgung einige Schwächen auf, zu deren Beseitigung in der Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition teils normativ (Aufkauf von nicht bedarfsgerechten Arztsitzen) teils wettbewerblich (Qualitätsoffensive der Krankenhäuser) ausgerichtete Maßnahmen vorgesehen sind. Es handelt sich um Versorgungsengpässe in der hausärztlichen Versorgung, eine zu hohe Bettendichte in der stationären Behandlung, Qualitätsdefizite im Übergang zwischen den sektorenbegrenzten Versorgungsbereichen und erhebliche Überkapazitäten in der fachärztlichen Versorgung, insbesondere in der invasiven Diagnostik und Behandlung. Unter anderem daraus resultiert eine wachsende Unzufriedenheit insbesondere chronischer Patienten mit der Qualität ihrer Behandlung. Massive Anstrengungen zur Förderung der hausärztlichen Versorgung, die Bewältigung zu langer Wartezeiten und die leistungsrechtliche Absicherung einer Zweitmeinung zur Sicherung der Indikation für einen invasiven Eingriff zeigen, dass auch diese Probleme in der Koalitionsvereinbarung aufgegriffen worden sind.

F. Wenn 80 v.H der Leistungsausgaben der Krankenkassen jeweils von nur 20 v. H. der Versicherten ausgelöst werden, ist davon auszugehen, dass unter diesen Versicherten ein große Zahl schwerwiegend chronisch Kranker sein muss. Es würde sich deswegen anbieten, unter Einbeziehung der bereits bestehenden Disease-Management-Programme (DMP) in Versorgungsanalysen und Versorgungskonzepten die Versorgungsprobleme dieser schwer kranken Patienten festzustellen und dafür – sektorenübergreifend – Lösungen anzubieten. Der G-BA mit zwei von ihm getragenen wissenschaftlichen Instituten wäre in Zusammenarbeit mit seinen Trägerorganisationen und deren Instituten in der Lage, derartige Analysen durchzuführen und die vielfältige Richtlinienkompetenz zu sektorenübergreifenden Lösungen zu nutzen.

Damit schließt sich das Spannungsfeld zwischen Normierung und Wettbewerb zugunsten einer notwendigen Einbeziehung der normativen Ebene in die Lösung grundlegender Versorgungsprobleme, die der Wettbewerb – wie die bisherigen Erfahrungen zeigen – nicht zu bewältigen vermag. Die normative Lösung kann dabei auch auf der regionalen Ebene im Rahmen der Bedarfsplanung und der Vergütungsvereinbarungen erfolgen.

G. Aus dem Vorstehenden wird aber auch der Bezug zur evidenzbasierten Medizin als Grundlage der Patienteninformation hergestellt. Wenn das konkrete Versorgungsangebot der Krankenkassen an ihre Versicherten im Vertragswettbewerb so vielgestaltig und in seiner Effizienz zu wenig gesichert ist, muss dem versicherten Patienten diejenige Information zur Verfügung gestellt werden, die ihm eine „aufgeklärte“ Wahlentscheidung zwischen der Regelversorgung und angebotener Wahltarife oder Satzungsleistungen seiner Krankenkasse ermöglichen. Dazu gehören neben einer individuellen Aufklärung über das konkrete Versorgungsangebot

  • transparent aufbereitete Informationen über den gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie sie das IQWiG anbietet;
  • ein evidenzbasierter Nutzenbeleg solidarisch finanzierter Leistungen und ein deutlicher Hinweis darauf, dass für in Wahltarifen oder der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung anbietbaren „Innovationen“ ein solcher Beleg fehlt;
  • eine patientengerecht aufbereitete Transparenz der Ergebnisse der Qualitätssicherung anhand dafür definierter Indikatoren, die in Zukunft auch den Vergleich zwischen den Ergebnissen der Regelversorgung und eines Wahltarifes oder einer Satzungsleistung umfasst;
  • eine IT-Plattform auf der Grundlage der elektronischen Gesundheitskarte und der Health-Professionel-Card, die dem Versicherten den Zugriff zur elektronischen Patientenakte und von ihm verursachte Leistungen und Kosten ermöglicht.

Im Spannungsfeld zwischen Normierung und Wettbewerb muss der Informationsanspruch des Patienten einen gesicherten Stellenwert erhalten.

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