In der Diskussion um die HIV-PrEP sieht sich Siegfried Schwarze „irgendwo dazwischen“ – er befürwortet sie nicht „für alle und jeden“, hält sie aber in Einzelfällen für eine geeignete Erweiterung der Präventions-Werkzeugkiste.
PrEP, die Prä-Expositions-Prophylaxe, von manchen auch liebevoll „Popp-ART“ genannt [ART steht für antiretrovirale = gegen HIV gerichtete Therapie; Anm. d. Red.], wird seit Langem kontrovers diskutiert. Für die einen zählt nur, dass in Studien durch die PrEP Infektionen verhindert werden konnten. Und da der Zweck scheinbar die Mittel heiligt, ist alles in Ordnung, was Infektionen verhindert. Kritiker der PrEP brandmarken die Anwender als „Truvada Whores“ (Truvada-Huren), da sie vermeintlich HIV-Medikamente „missbrauchen“, um ihrer Sexualität ungezügelt und hemmungslos frönen zu können.
PrEP: in Einzelfällen sicher geeignet
Ich oute mich an dieser Stelle gleich mal: Ich liege mit meiner Meinung irgendwo dazwischen. Zwar bin ich kein Befürworter der PrEP für alle und jeden, aber ich denke, diese Methode ist sicher in Einzelfällen geeignet, die Werkzeugkiste der Prävention zu ergänzen.
Doch der Reihe nach:
- Derzeit ist nur ein Präparat für die PrEP zugelassen (Truvada®), und das auch nur in den USA.
- Derzeit ist die PrEP eine Dauertherapie, das heißt, man nimmt die Tabletten jeden Tag – egal ob man Sex hat oder nicht. Studien zur episodischen PrEP laufen gerade erst, und die Ergebnisse liegen wohl erst 2017 vor.
- Nach neuesten Daten schützt die PrEP nur dann zuverlässig vor einer HIV-Infektion, wenn man mindestens vier Tabletten pro Woche (von den eigentlich geforderten sieben Tabletten) einnimmt. Selbst in Studien, an denen üblicherweise vor allem hoch motivierte Personen teilnehmen, gelingt es etwa einem Drittel nicht, diesen Grad der Einnahmetreue zu erreichen. Und selbst bei denen, die es schaffen, nimmt die Adhärenz im Laufe der Zeit ab (und damit steigt das Infektionsrisiko).
- Der Schutz in bisherigen Studien war durch die PrEP geringer als bei Behandlung des infizierten Partners. Man fragt sich automatisch, ob es nicht vielleicht sinnvoller wäre, die Pillen gleich dem HIV-Infizierten zu geben.
- Die PrEP ist teuer (derzeit ca. 820 Euro pro Monat) und wird wohl von den Krankenkassen auch nach einer eventuellen Zulassung nicht erstattet werden.
- Der Wirkstoff Tenofovir hat bei längerer Einnahme möglicherweise einen negativen Einfluss auf die Nierenfunktion und die Knochengesundheit. Dies mag bei Patienten mit nachgewiesener HIV-Infektion auf Grund des Nutzens des Medikaments tolerierbar sein. Bei einem Medikament, das Gesunden zur Prävention verabreicht wird, müssen aber strengere Ansprüche an die Sicherheit und Unbedenklichkeit gestellt werden.
- Es ist denkbar, dass es bei breitem Einsatz der Substanz längerfristig zur Entwicklung von Resistenzen kommt, sodass der Gebrauch von Truvada® zur Behandlung einer HIV-Infektion nur noch eingeschränkt wirksam wäre. Damit wäre das HIV-Medikament, das bis heute das „Rückgrat“ der meisten Behandlungspläne ist, durch die PrEP „verschossen“. Liegt eine Resistenz gegen Tenofovir und Emtricitabin (die Bestandteile von Truvada®) vor, gestaltet sich die Behandlung mit Erstlinien-Kombinationen sehr schwierig. Die Patienten hätten dann deutlich weniger Behandlungsoptionen.
Ich möchte versuchen, das Wesentliche der PrEP noch einmal in einem Satz zusammenzufassen:
Man schluckt täglich HIV-Medikamente, um eine HIV-Infektion zu verhindern, die dazu führen würde, dass man täglich HIV-Medikamente schlucken müsste.
Klingt ein bisschen nach Schildbürgerstreich. Außerdem ist es mit dem Pillenschlucken nicht getan. Wird eine PrEP ordnungsgemäß durchgeführt, ist einiges zu beachten:
Ein ähnliches Programm wie ein HIV-Infizierter
Vor Beginn der PrEP
- Überprüfung der allgemeinen Laborwerte (z.B. Leber- und Nierenfunktion)
- HIV-Test
- Hepatitis B-Test, ggf. Impfung (Truvada® ist auch gegen Hepatitis B wirksam, und eine Unterbrechung einer Hepatitis B-Therapie kann zu einem gefährlichen „Aufflammen“ der Infektion führen)
- Adhärenz-Schulung
- Aufklärung über andere sexuell übertragbare Infektionen (STIs), die durch die PrEP nicht verhindert werden
Regelmäßig (alle drei Monate):
- Allgemeines Labor, um sicherzugehen, dass die PrEP keine negativen Auswirkungen hat
- HIV-Test
- Tests auf weitere sexuell übertragbare Infektionen (STIs)
- „Therapietreue“-Training
Man hat also ein ganz ähnliches Programm zu absolvieren wie ein HIV-Infizierter.
Medikalisierung der Sexualität?
Hinzu kommt: Einige Experten sind überzeugt, dass die PrEP HIV-Infektionen gar nicht verhindert, sondern nur hinauszögert. Unter der Annahme, dass die meisten PrEP-Anwender eine nachlassende Einnahmetreue haben, wäre es plausibel, dass es irgendwann doch noch zu einer HIV-Infektion kommt. Da die meisten Studien aber einen Zeitraum von nur ein bis zwei Jahren erfassen, müsste man die Probanden deutlich länger nachbeobachten, um diesen Effekt zu erfassen.
Doch so weit muss man gar nicht gehen. Stellen wir uns ein paar realistische Szenarien vor:
„Wochenlang die teuren Pillen geschluckt, am Abend noch eine Viagra dazu, ausgegangen in die Bars – und dann ist wieder mal nix passiert … FRUST!“
„Na klar, die PrEP-Pillen brauch ich schon, aber dann natürlich auch Viagra, damit er auch steht, eine Ecstasy, damit ich etwas lockerer bin, zur Sicherheit noch ein Breitband-Antibiotikum gegen STIs und vielleicht auch noch was gegen Pilze … “
Wo soll das enden? Stichwort: Medikalisierung der Sexualität.
„Super! Die PrEP hat dafür gesorgt, dass ich ohne Angst vor HIV Sex haben kann. Dafür hatte ich dieses Jahr schon dreimal einen Tripper und zweimal eine Syphilis!“ Vielleicht wären Kondome für diese Person die geeignetere Präventionsmethode …
Zu guter Letzt ist es auch ein ethisches Problem: Vor dem Hintergrund, dass weltweit (und sogar in den entwickelten Ländern) bei Weitem nicht alle Menschen eine HIV-Behandlung erhalten, die sie eigentlich benötigen, ist die Verabreichung dieser Medikamente an nicht HIV-Infizierte zumindest fragwürdig. Die Industrie allerdings dürfte sich über diese „Marktausweitung“ freuen. Warum sich nur auf HIV-Infizierte als Zielgruppe beschränken? Die Zahl der Nichtinfizierten ist doch um so viel höher!
PrEP: In der jetzigen Form nicht massentauglich
Trotz aller Kritik sind Szenarien denkbar, in denen eine PrEP sinnvoll ist:
- Menschen mit HIV-infiziertem Partner, der sich nicht behandeln lässt und der keine Kondome verwenden will (eine Situation, die gar nicht so selten ist)
- Menschen, die mit Kondomen „nicht können“
- Prostituierte, die sich schützen wollen, auch wenn der Freier auf „blank“ besteht
- Schutz von Kindern infizierter unbehandelter Mütter während der Stillzeit
- …
Sicher sind noch weitere Szenarien denkbar, aber es dürfte auch klar sein, dass die PrEP, zumindest in ihrer derzeitigen Form, keine massentaugliche Präventionsmethode darstellt. Übrigens: Wegen des enormen finanziellen Aufwands wohl auch keine kassentaugliche Methode … Ein Arzt hat deshalb die Abkürzung PrEP mit „problem ridden expensive prophylaxis“ übersetzt [problembeladene teure Prophylaxe; Anm. d. Red.]. Ich finde, das beschreibt es recht treffend.
Siegfried Schwarze ist Mikrobiologe, HIV-Aktivist und Mitarbeiter bei Projekt Information e.V.
Bisher in dieser Reihe erschienen:
- HIV-PrEP: Einladung zur Diskussion (8.9.2014)
- HIV-PrEP: HIV-Medikamente für Negative zum Schutz vor einer Ansteckung (8.9.2014)
- Präser, Pillen, Lust und Stigma: Schwule und die HIV-PrEP (10.9.2014)
- IPERGAY: Studie zur HIV-PrEP bei schwulen Männern (11.9.2014)