„Nocebo“ ist lateinisch und bedeutet: „Ich werde Dir schaden!“. Ein Nocebo wirkt ähnlich wie der Placebo -Effekt, nur mit anderem, negativen Vorzeichen.
Ein Nocebo-Effekt tritt bei vielen Medikamenten, Behandlungen und vor allem nach ärztlichen Gesprächen auf, oft ohne dass die Beteiligten – Arzt und Patient – sich dessen bewusst werden.
Der Nocebo-Effekt ist schlecht erforscht. Dies hat im wesentlichen zwei Gründe: Zum einen erscheint es vielen Ärzten nicht plausibel, dass Erwartungshaltungen, also seelische Phänomene, körperliche Auswirkungen bis hin zum Tod haben sollen. Zum anderen werden an klinische Studien heute (zum Glück) hohe ethische Anforderungen gestellt – die vorsätzliche Schädigung von Versuchspersonen erscheint nicht akzeptabel.
Es gibt aber eine Reihe von klinischen Versuchen, die teilweise schon lange zurückliegen, die den Nocebo-Effekt eindrücklich belegen.
34 Collegestudenten wurde erzählt, dass elektrische Ströme Kopfschmerzen erzeugen können. Anschließend wurden Elektroden an ihrem Kopf angebracht und angeblich Kopfschmerz erzeugender Strom durch ihr Gehirn geleitet. Zwei Drittel der Studenten klagten anschließend tatsächlich über Kopfweh, obwohl in Wirklichkeit gar kein Strom geflossen war.
In der Framingham Herzstudie, eine der umfassendsten und längsten Studie über die Risikofaktoren von Herzinfarkt und Schlaganfall, zeigte sich, dass der Herztod auch von der persönlichen Erwartung abhängt. Frauen, die von sich selber glaubten, anfällig für Herzerkrankungen zu sein, starben vier mal häufiger an Herzerkrankungen als andere, vergleichbare Teilnehmerinnen, die diesen Glauben nicht teilten. Eine viermal höhere Sterblichkeit an Herzleiden und dieses nur wegen des persönlichen Glaubens!
Noch ein drittes Beispiel: Asthmapatienten inhalierten eine Kochsalzlösung. Ihnen wurde erzählt, es handele sich dabei um eine Mischung aus Allergenen und chemischen Substanzen, die einen schädlichen Effekt auf die Bronchien ausüben. Tatsächlich entwickelte jeder zweite Patient Luftnot. Sofort setzte die Behandlung mit einer vermeintlich die Bronchien erweiternden Lösung ein, die auch bei den meisten sofortige Besserung erbrachte. Bei der hilfreichen Inhalation handelte es sich jedoch um die gleiche Kochsalzlösung, die vorher so massive Beschwerden verursachte!
Der Beipackzettel als Nocebo
Meine Patientin nimmt seit vielen Jahren zeitweilig Hustentropfen mit dem Wirkstoff Noscapin ein. Noscapin wirkt ähnlich wie Codein, es dämpft den Hustenreiz, soll aber nicht die Atmung dämpfen und erweitert die Bronchien. Meine Patientin vertrug dieses Mittel immer gut bis zu dem Tag, an dem die Hustentropfen einen neuen Beipackzettel verpasst bekamen.
Ich konnte es kaum glauben, aber die Patientin belehrte mich eines besseren. Bis vor einigen Wochen noch führte der Beipackzettel keine Nebenwirkungen auf, jetzt stand da klar und deutlich: Die Hustentropfen können krampfartige Oberbauchbeschwerden auslösen. Und unter genau diesen Oberbauchbeschwerden litt jetzt meine Patientin. Ich solle ihr doch bitte wieder die alten Tropfen aufschreiben!
Den Gefallen konnte ich ihr aber beim besten Willen nicht tun. Die Firma hatte gewechselt, vermutlich war die alte Firma aufgekauft worden, und die altbewährten, gut verträglichen Hustentropfen hatten jetzt eine frische Verpackung und einen außerordentlich schädlichen Beipackzettel erhalten.
Alle meine Versicherungen, dass die vermeintlich andersartigen Tropfen identisch mit dem alten Medikament sind, ja sogar vermutlich von den gleichen Menschen in der gleichen Fabrik hergestellt wurden, konnten meine Patientin nicht umstimmen. Diese neuen Tropfen machen Bauchschmerzen und die alten nicht, ich könne es ja selber nachlesen!
Vorfälle dieser Art sind nicht selten in einer durchschnittlichen Allgemeinarztpraxis. Beipackzettel führen Nebenwirkungen auf, ohne dass irgend wie bewiesen oder auch nur anzunehmen ist, dass das Medikament die Ursache ist.
Es reicht, wenn diese „Nebenwirkung“ bei der klinischen Erprobung von einer gewissen Zahl von Versuchspersonen gemeldet wurde.
Vor mehr als zwanzig Jahren wurde in dem USA eine Studie zu Aspirin durchgeführt. An drei Herzzentren wollte man die Schutzwirkung des Aspirins vor einem Herzinfarkt erforschen. Ein Ergebnis dieser Studie war sehr verblüffend: In einem Zentrum äußerten die Teilnehmer der Studie drei mal so viel Magenbeschwerden nach Aspirin als in den anderen beiden Krankenhäusern. Das Rätsel war schnell aufgeklärt: In dem Krankenhaus, in dem Aspirin so ungewöhnlich schlecht vertragen wurde, waren die Probanden zuvor über mögliche Nebenwirkungen am Magen informiert worden, in den beiden anderen hatte man dies unterlassen.
Wenn Worte töten
Bernhard Lown ist ein berühmter amerikanischer Kardiologe, als Erfinder der elektrischen Defibrillation hat er sicherlich Tausenden von Menschen das Leben gerettet. Lown erzählt in seinem Buch: Die verlorene Kunst des Heilens von einer denkwürdigen Begebenheit aus seiner Zeit als Krankenhausarzt.
Der Chefarzt hatte auf der Visite nach der Untersuchung der Patientin beiläufig die Bemerkung fallen lassen: „Klarer Fall von TS“. Er meinte damit: „Trikuspidalstenose“, eine Veränderung an einer Herzklappe, die keineswegs unmittelbar und zwingend zum Tode führt. Die Patientin legte „TS“ aber als Kürzel für „Terminale Situation“ aus und war überzeugt davon, dass sie bald sterben müsse. Lown konnte sie von ihrem Irrglauben nicht abbringen. Der Chef, den Lown schließlich hinzu gebeten hatte, kam zu spät, um die Patientin von ihrem Irrtum abzubringen. Plötzlich und unerwartet war sie an einem Herzversagen gestorben.
„Ein Arzt, der schwarzen Trauerflor aushängt, ist entweder ein Handelsvertreter oder ein Scharlatan, der niemals seinen infantilen Wunsch überwunden hat, den lieben Gott zu spielen“, so charakterisiert Lown diejenigen unter seinen Kollegen, die alle Krankheiten dramatisieren müssen, um sich selbst zu überhöhen.
Natürlich kann ein Arzt nicht alles schön reden, er muss stets bei der Wahrheit bleiben. Nur: Vorsätzliche oder unbedachte Äußerungen des Arztes, die eine Krankheit unnötig dramatisieren, wirken als mächtiges Nocebo, im schlimmsten Fall sind sie unmittelbar tödlich, wie das Beispiel der Patientin mit dem Herzklappenfehler deutlich zeigt.
Quellen
„The Nocebo Effect: Placebo’s Evil Twin“, The Washington Post, 30.4.2002
Family Practice & Pediatrics of Celebration: “ Nocebo Effect’ May Explain Some Drug Side Effects“
JAMA: „Nonspecific Medication Side Effects and the Nocebo Phenomenon“ (2002;287:622-627. )
Süddeutsche Zeitung; „Der Schaden ist enorm“
The Straight Dope: „Is there an „anti-placebo“ effect?“
B. Lown: „DIe verlorene Kunst des Heilens“, Kapitel: „Worte die vernichtend sein können“