Das Eurasian Harm Reduction Network (EHRN) hat 2014 eine dreijährige Kampagne mit dem Titel „Frauen gegen Gewalt“gestartet. Wir haben Erika Matuizaite, Kommunikationsbeauftragte und Referentin des EHRN, dazu befragt.
In Mittel- und Osteuropa sowie Zentralasien ist Polizeigewalt gegenüber Drogen gebrauchenden Frauen weit verbreitet. Frauen fühlen sich machtlos und schutzlos, während die Polizei unerlaubte Gewalt gegen sie ausübt. In der Region sind rund 20 % der Drogen injizierenden Menschen Frauen, in einigen Ländern ist ihr Anteil noch höher: In der Russischen Föderation liegt er bei 30 %, in der Ukraine bei 26 %. Daten aus ganz Europa lassen darauf schließen, dass bei diesen Frauen die HIV-Infektionsrate um 50 % höher sein könnte als bei Männern, die sich Drogen spritzen. Das Eurasische Netzwerk zur Schadensminderung will für Drogen Gebrauchende einen verbesserten Zugang zur medizinischen Versorgung erreichen. Außerdem setzt es sich für die Menschenrechte und mehr Mitspracherechte für Drogen Gebrauchende ein.
Frau Matuizaite, wie ist es zu der Kampagne „Frauen gegen Gewalt“ gekommen, und welches sind ihre Ziele?
Beim allerersten Forum für Drogen Gebrauchende in Kiew diskutierten wir über die Schwierigkeiten, mit denen diese Gruppe konfrontiert ist. Das war auch das erste Mal, dass an einer Konferenz, die politischen Einfluss hat, Drogenkonsumenten selbst beteiligt waren. Durch ihre Vorträge haben wir verstanden, was das Kernproblem ist: Sie bemühen sich um einen besseren Zugang zur medizinischen Behandlung, aber gleichzeitig werden sie durch Polizeigewalt erniedrigt.
Fälle erlittener Polizeigewalt sollen öffentlich gemacht werden
Die Polizeigewalt wurde denn auch zum Hauptthema der Konferenz. Bei den Diskussionen kristallisierte sich heraus, dass in erster Linie diese Gewalt beendet werden muss. Und das war dann der Beginn unserer Kampagne. Drogen gebrauchende Frauen wissen in der Regel nicht, wie sie sich vor Polizeigewalt schützen können. Sie fühlen sich macht- und schutzlos. Unsere Kampagne soll diese Frauen stärken, damit sie Fälle erlittener Polizeigewalt öffentlich machen. Und sie soll Anstöße für die Prävention solcher Gewalt geben.
Wie kam das Projekt dann ins Rollen?
Bevor das Projekt startete, organisierten wir eine Umfrage in über 70 Mitgliedsorganisationen unseres Netzwerks, um herauszufinden, was Drogen gebrauchende Frauen von unserer Idee halten und – weil Gewalt gegen Frauen ein sehr sensibles Thema ist – wie wir mit ihnen zusammenarbeiten können. Über die Umfrage wollten wir nicht zuletzt auch Belege für diese Form der Gewalt erhalten, denn nur mit Belegen kann man die Situation ändern.
Wir bekamen schnell positives Feedback, und das war der Startschuss für die Kampagne. Sie basiert auf einem Dreijahreskonzept und wird in sieben Ländern – Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Moldawien, Russland und Ukraine – durchgeführt. Derzeit sind 18 Organisationen in 17 Städten beteiligt. Die Partnerorganisationen haben für ihre Beteiligung an der Kampagne eine Verpflichtungserklärung unterzeichnet.
Was passiert nun im ersten Jahr der Kampagne?
Wir haben uns fürs erste Jahr zum Ziel gesetzt, das Schweigen zu brechen, indem wir den Frauen eine Stimme geben. Den Strafverfolgungsbehörden und anderen Entscheidungsträgern soll bewusst werden, dass es polizeiliche Gewalt gegen Frauen gibt.
Die Fauen haben Angst vor negativen Folgen, wenn sie von Gewalt berichten
Im diesem ersten Kampagnenjahr erfassen die Streetworker der Partnerorganisationen in den teilnehmenden Ländern Fälle von Polizeigewalt. Sie sind mit Handzetteln ausgestattet, die über die Kontaktdaten der ortsansässigen Organisation informieren und auf denen man in eine Maske einträgt, an welchem Ort man Polizeigewalt erlebt hat und in welcher Form diese ausgeübt wurde. Gewalt haben wir dabei in folgende Kategorien unterteilt: körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt, Verfälschung von Tatsachen, Drohungen und Einschüchterungen, illegales Verhör, Erpressung, ungerechtfertigte Verhaftung, erzwungene Zusammenarbeit, Misshandlung und unerlaubte Durchsuchung. Die Angaben erfolgen anonym. Die fertig ausgefüllten Handzettel werden dann den Streetworkern ausgehändigt, die die berichteten Fälle anschließend in eine speziell eingerichtete Online-Plattform einpflegen. Wer Gewalt erfahren hat, kann das Erlebte aber auch selbst in die Plattform eintragen. Bis Oktober 2014 sind dort mehr als 600 Berichte eingegangen.
Allerdings vertrauen nicht alle Frauen unserer Kampagne oder den Streetworkern – sie haben Angst, es könnte negative Folgen für sie haben, wenn sie von Gewalt berichten. Die Kampagne hat aber auch einen positiven Nebeneffekt: Manche Frauen kontaktieren die auf dem Handzettel vermerkte Organisation, um sich über Behandlungsmöglichkeiten oder andere Hilfsangebote zu informieren.
Was planen Sie für die folgenden zwei Jahre?
Im nächsten Jahr werden wir auf der Grundlage der gesammelten Daten Gespräche und Diskussionen mit politischen Entscheidungsträgern, mit Menschenrechtsorganisationen und anderen relevanten Institutionen führen. Zum Beispiel wollen wir Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die Kontakt zur Polizei haben, dazu auffordern, sich mit der Polizei über die Situation auszutauschen und über Lösungen nachzudenken. Und wir werden Kontakt zu verschiedenen Hilfseinrichtungen aufnehmen, an die man Drogengebraucherinnen weiterverweisen kann. Im dritten Kampagnenjahr werden wir beobachten, was die Polizei zur Lösung des Gewaltproblems unternimmt und inwieweit die staatlichen Akteure ihren Verpflichtungserklärungen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Drogengebraucherinnen Taten folgen lassen.
Erfolg hat im Polizeisystem, wer korrupt ist, Gewalt anwendet und Menschen erniedrigt
Welche Erfahrungen haben Sie in der Kampagne bisher gemacht?
Drogen gebrauchende Frauen fühlen sich macht- und schutzlos. Sie haben Angst, sich über Polizeigewaltzu äußern. Um die Gewalt zu beenden, gilt es zuerst einmal, das Schweigen zu brechen und den Frauen einen geschützten Raum zu bieten, damit sie von ihren persönlichen Erfahrungen mit Polizeigewalt berichten können. Wir wollen diesen Frauen eine Stimme geben und sie zu Wort kommen lassen.
Unsere Partnerorganisationen, mit denen wir Skype-Konferenzen veranstalten, berichten uns, dass die Frauen, nachdem sie das Projekt kennengelernt haben, den Streetworkern und dem Projekt allmählich vertrauen. Und in Kasachstan und Moldawien fragen bereits Angestellte der Polizei bei uns an, ob eine Zusammenarbeit möglich ist. Vor einer solchen Kooperation müssen wir allerdings erst einmal prüfen, ob für die betroffenen Frauen Sicherheit gewährleistet ist. Das Problem ist ja nicht der einzelne Polizist, der Gewalt ausübt. Es ist das Polizeisystem, in dem diejenigen Erfolg haben, die korrupt sind, Gewalt anwenden und Menschen erniedrigen.
Interview: Ljuba Böttger