Am 30. Mai 2013 starb der Dichter Mario Wirz. Kurz vor seinem Tod gab er Rosa von Praunheim ein letztes Interview, das nun als Film vorliegt. Marios Mann André J. Walther und DAH-Pressesprecher Holger Wicht würdigten Mario in der Paulskirche.
Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie erinnern wir uns an Menschen, die etwas im Umfeld von HIV und Aids bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Diese und andere Fragen zum Gedenken stehen in unserer Reihe mit Porträts von Verstorbenen.
Drei Jahrzehnte lebte der Dichter Mario Wirz mit HIV und schrieb über die großen Fragen: Wie können wir leben angesichts des Todes? Wie geht Mut, wenn man vor Angst schlottert, und Selbstbewusstsein, wenn man gebrochen ist? „Es ist spät, ich kann nicht atmen“ hieß sein erstes Buch über Aids in den 90ern, „Unwiderruflich glücklich“ sein letztes Prosa-Werk. Kurz nach seinem Tod erschien der Lyrikband „Jetzt ist ein ganzes Leben“.
Dem Filmemacher Rosa von Praunheim, mit dem er befreundet war, gab Mario Wirz kurz vor seinem Tod am 30. Mai 2013 ein letztes Interview, das nun als Film vorliegt. Bei all der unübersehbaren körperlichen Schwäche kommen darin Marios außergewöhnliche Kraft und die ungebrochene Lebensfreude zum Ausdruck, die er sich in den Jahren zurückerobert hatte: „Gestern zum Beispiel war ich einfach nur glücklich. Es reduziert sich das Leben am Ende, aber das heißt nicht, dass am Ende kein Leben ist.“
Am Welt-Aids-Tag 2013 würdigten André Walther, Marios Mann, und Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen AIDS-Hilfe, Mario Wirz gemeinsam mit einer Rede in der Frankfurter Paulskirche, die wir hier in memoriam dokumentieren.
Abwechselnd sprachen André J. Walther (A) und Holger Wicht (H):
A: Der Poet und Schriftsteller Mario Wirz ist tot.
Wir berichten euch vom Leben und Tod dieses zeitlebens sehnenden und liebenden Dichters.
H: Mario starb in diesem Jahr im Mai,
A: vor sechs Monaten,
H: in seinem 57. Lebensjahr in Berlin.
„Wie können wir leben angesichts des Todes?“
A: Heute hier im Namen von Mario Wirz sprechen zu dürfen, dafür danke ich – danken wir – euch. Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen AIDS-Hilfe.
H: André Walther, Marios Mann – seit 31 Jahren.
Ich kannte Mario – fast zwei Jahrzehnte. Wir fühlten uns verbunden. Ich durfte von ihm lernen – bis heute. Unser letztes Gespräch drehte sich um die große Frage seines Lebens, die große Frage überhaupt: Wie können wir leben angesichts des Todes?
1985, im dritten Jahr eurer Beziehung, wurde Mario positiv. Sein Buch „Es ist spät, ich kann nicht atmen. Ein nächtlicher Bericht“ las ich als junger Schwuler selbst fast atemlos. Was für ein Mut im Unglück! Der nächtliche Bericht war Marios gnadenlose Auseinandersetzung mit HIV und Aids, seiner – und nicht nur seiner – Verzweiflung und Sehnsucht …
A: Ein Paukenschlag dröhnte im Dunkel der damals so angstbesetzten Zeit. Mario sah das Schreiben immer als Not-Wendigkeit, als Mittel gegen das eigene Verschwinden, gegen Verzweiflung und Verstummen, und seine Gedichte – als Bannspruch.
„Sehnsucht, Hoffnung, Liebe, Leben. Und das zeitlebens“
H: In der größten Angst schrieb Mario unerschrocken über seine Abgründe. Seine Hilflosigkeit. Seine Schwäche. Genau daraus erwuchs Stärke: Dass einer nichts zurückhielt. Dass alles sein durfte. Schwules Selbstbewusstsein, hat Mario mir einmal gesagt, kann auch dazu führen, dass wir unsere Verletzlichkeit, Düsternis und Ambivalenz ausblenden – Mario hat das nicht zugelassen.
A: In unseren ersten Tagen 1982 kam „Traum zerzaust Dein Haar“ heraus, schmales Lyrikbändchen, heute antiquarisch. Hier schon setzt Mario seine vier Pfeiler in den Sprach- und Empfindungsboden, die das lyrische Haus tragen sollten: Sehnsucht, Hoffnung, Liebe, Leben. Und das zeitlebens.
H: Nach seinen Lesungen traf ich Mario die ersten Male am Kneipentisch: Großes Theater! Mario, gelernter Schauspieler, er liebte es, die Szene zu beherrschen. Im Mittelpunkt zu stehen hieß Zuwendung und Schutz zugleich erfahren. In dieser Tragikomödie mochte es vielleicht kein Happy End geben, doch eine gelungene Pointe über sein Leben im tristen Berliner Neukölln – damals gänzlich unangesagt – konnte hier den Tod in die Flucht schlagen.
A: Mario mit seinem kleinen, schwarzen Notizbüchlein, einmal steht er still inmitten des einsetzenden Schneefalls, winterlicher Spaziergang auf unserer Insel Rügen, schaut weit in das milchige Weiß dieses Tages, seine Lippen bewegen sich, er schreibt, klappt das Büchlein nach einer Weile zu, blickt mich an, so entfernt und liebend nah.
Die 90er: Berlin-Neukölln, Hinterhof, Ofenheizung
H: Mario, der Dichter, der Inneres nach außen kehrt: im Gedicht.
Bloße Innerlichkeit? Privatheit, wo Stigmatisierung und Ausgrenzung nach Protest, nach Öffentlichkeit schrien? Zur gleichen Zeit veranstalten Menschen Die-Ins, lassen sich kreuzigen in Innenstädten, besetzen den Dom von Fulda. Mario bleibt zu Hause.
A: Marios Apathie, die sich in jenen Tagen der frühen 90er-Jahre auf Handeln und Schreiben legte, Mario in der Altenbraker Straße in Berlin, Hinterhof, Ofenheizung –
H: – „mein Knast“, „meine Zelle“ nennt Mario die enge Wohnung in „Es ist spät, ich kann nicht atmen“. Später wird – freundlicher – seine „Zimmerschachtel“ daraus
A: – auch unsere erste „Höhle“: Ich schleppe Briketts, Studentenzeit, wir beide in langen Nachtgesprächen.
Unsere Zeit, die so unendlich endlich vor uns lag. Damals schon fürchtend, was jetzt uns geschah, was schon seit Monaten vorbei und doch erst begonnen hat: Die Zeit ohne dich, unendlich endlos, leer. Unsere Lebensbaumjahresringe, die ich mit klammen Fingern immer wieder abzähle, die mageren und die sanften, die guten Jahre bis zum Kern, immer wieder zurück bis zu jener ersten Nacht.
H: Mit Rosa von Praunheim liefert sich Mario 1994/95 einen wütenden Briefwechsel: „Liebstes Rosaungeheuer …“ Rosas Botschaft: Werde aktiv! Mach dich sichtbar! Mario widersprach – und machte sich sichtbar, auf seine Art. Jetzt saß er in Talkshows – als einer mit HIV. Er betrat Bühnen und las und sprach, so offen und schonungslos, wie er schrieb
A: – mit eigener Lesungsdynamik und Wucht. Oh ja, Mario hat seine Botschaften, seine Lebensphilosophie auf beredte Art weitergegeben. Er: sich selbst Zirkuspferd für die Manege. Oder er liest „monolithisch“, Wort für Wort in die Stille gestanzt. Er liest, unbeirrt auch nach Chemo und Radio-Behandlung, unmittelbar danach. Marios ganz individuelle Therapie.
„Selbst in den traurigsten Worten lag etwas Versöhnliches“
H: Ihr habt euch begleitet, über mehr als drei Jahrzehnte. Seid eure beiden Lebenswege gemeinsam gegangen
A: – verschlungen, verzweigt, nie geradeaus, lust- und freudvoll oder in Furcht und Angst. In wachsendem Schmerz zum Ende hin. Ihn halten. Und er schreibt: „Aufruhr und Stille/ ich nehme sie an/ alle Zeichen/ auch auf den letzten Atemzug will ich springen/ gläubig/ ein Reisender/ immer.“
H: Das ist es! Marios Mysterium: Warum zog er Menschen in seinen Bann? Warum haben wir so sehr geliebt, ihm zuzuhören? „Gläubig, ein Reisender, immer“ – bei aller Verzweiflung: Hingabe, Vertrauen, Lebensmut. Selbst in den traurigsten Worten lag etwas Versöhnliches, wenn er sie aussprach. Mit ihm in den Abgrund schauend hatte ich oft das Gefühl, wir könnten im entscheidenden Moment vielleicht doch fliegen. Und immer zu spüren: Seine Liebe, sein Mut zur Wahrheit, seine Nachsicht mit sich selbst und anderen. Was uns doch immer wieder fehlt – er konnte es verschenken.
A: Uns passten die Hemden, die Schuhe, Jacken und Mäntel. Wir kleideten uns gemeinsam in unsere Tage, Wochen, Monate. Wir stürzten aus den frühen Jahren der Angst in die Hoffnung auf ein Weiter-Leben, die Monate zu überleben und dieses Jahr noch, bitte noch das nächste, immer wieder.
Und es kriecht eine Kälte den Nacken hoch bei jedem Fieber, das uns nicht tanzen lässt, und es ist Mario, der über-lebt, sich aufrichtet, abgemagert nach jeder Tumortherapie, immer wieder, so in drei quälenden Wiederholungen in Jahresabständen!
„Es ist nicht wichtig, etwas festzuhalten – aber, dass man es erfahren hat“
H: Die Medizin macht Fortschritte. Gevatter Tod muss zurück auf Los – es gibt wieder Hoffnung. Marios Ärzte unterstützen ihn freundschaftlich mit buchstäblich allen Mitteln. Die Kasse zahlt die HIV-Medikamente, seine Infusionen und andere Präparate nicht. Überleben scheint plötzlich unbezahlbar für ihn – für euch. Freunde bilden ein Netz, das ihn auffängt, über viele Jahre. Und Mario gibt mit vollen Händen – packt Lyrik- und Prosa -Päckchen, widmet Gedichte.
A: Er schreibt, und dichtet, verdichtet sich in seinen Worten, verdichtet sein, unser Leben in helle, leichte, dunkle Sprachfarben, dann wieder mischt er übermütig Heiterkeit, ist so „Vorübergehend unsterblich“, wie er den Lyrikband von 2010 betitelt, „und glüht/ mit jedem Atemzug/ für dieses Leben“. Sein letzter Gedichtband erscheint: einen Tag nach seinem Tod, überbracht von der langjährigen Lektorin und Freundin aus dem Aufbau-Verlag.
Marios Hände ruhen auf dem Band. Mario lebte den Moment achtsam, mit einer sinnlichen Genauigkeit nahm er wahr – das, was sich zwischen den Zeilen ausdrückte. Er lässt sich fallen in unser beider Mitte, gleichsam ängstlich sorgend, behütend. Eine Geste, ein Blick, das Wissen um den anderen in dieser gemeinsamen Zeit, aus der ich nun gefallen – und falle noch. „Es ist nicht wichtig, etwas festzuhalten“, sagt Mario, „aber, dass man es erfahren hat“. „Jetzt/ ist ein ganzes Leben/ hätte es nur uns/ und diese Stunde/ im Aufflug/ gegeben/ wäre jetzt/ genug“
H: Unser letztes Interview: „Ich habe gelernt, das Leben zu lieben, ohne Bedingungen zu stellen oder Wünsche ins Universum zu seufzen, die das Leben und das Glück überfordern“, sagt Mario. „Ich bin dankbar, noch am Leben zu sein. Ich fände es ungerecht, jetzt das Schicksal zu beschimpfen.“
„Lass uns nicht furchtsam sein“
Woher kam die Kraft zu dieser Weisheit nach 28 Jahren mit HIV und Krebs und allen assoziierten Katastrophen, Tag für Tag? Wie bleibt man ungebrochen bis zum Schluss? Ich besuchte ihn in seiner neuen, hellen Wohnung in Berlin-Steglitz, und er ließ Worten Torten folgen, Endstation Neukölln, das war einmal. Was war geschehen? Ihr wart segeln gegangen
A: – Mario und ich segeln auf dem Meer zu allen Jahreszeiten, in allen körperlichen und seelischen Zuständen, den Kopf im Wind, gesund, dort. Fernab bedrängender Realitäten.
H: „Ich, der ich seit Jahrhunderten die verkörperte Unsportlichkeit bin.“ Auf dem Wasser hatte er festgestellt: „So mimosenhaft bist du ja gar nicht.“ Und ihn ergriff der „Optimismus des Vorschotmannes“.
A: Was uns beide leben ließ: Unsere sich immer wieder erneuernde Beziehung, beleben, was es bedeutet, zu „lieben“ – was andere mit einbezog. Das so erbarmungslos beschworene Glück, es zeigt sich leicht. Im Leid, dem Aushalten, wenn die Lebensbejahung nicht vergeht. Wir im Einklang und Einverständnis mit dem, was uns umgab, uns herausforderte: Vor der OP, in der Natur, unsere unverbrüchliche Zweisamkeit: Ich sagte Mario immer wieder: „Wenn du sprichst ist Himmel“. Und Mario schrieb sehr früh schon, was für uns immer als rufende Fanfare im Ungewissen klang:
H: „Lass’ uns nicht furchtsam sein, noch gibt es Dich und mich und den Himmel unverletzt und triumphierend.“
A: Es sind dies Lebensschnipsel, die vor eure Ohren fallen, angetippt, was den Poeten und liebenden Kämpfer Mario Wirz ausmachte. Wie sagte er in den Lesungen? „Und jetzt das letzte Gedicht hier und heute“: „In der Schatzkammer der Tage/ hüte ich/ die glücklichen Stunden/ sind unvergänglich/ in meiner langen Nacht/ schenken sie mir/ Leuchtkraft/ für den Weg zurück/ zu Anfang und Ende/ beginne ich mich zu verwandeln/im hellsten Schlaf/ bin ich“ – ist er – „ein Stern“.
Zum Weiterlesen:
„Der Tod hat keine Macht über das Glück“ – Mario Wirz in seinem letzten Interview mit Holger Wicht
„Lob des toten Dichters“ – Nachruf auf Mario Wirz von Holger Wicht