Heute in der Sprechstunde habe ich wieder einmal zu hören bekommen, womit sich ein Hausarzt beinahe täglich auseinandersetzen muss.
„Schreiben Sie mir bitte nur ein harmloses Naturheilmittel auf. Ich möchte für mein Kind lieber ein paar Globuli statt der Chemie aus der Pharmaindustrie.“
Diese Aussage birgt gleich drei Trugschlüsse:
1. sind nicht alle Naturheilmittel harmlos. Im Gegenteil, aus Fingerhut oder Tollkirsche gewonnene Medikamente können ausgesprochen giftig sein und tödliche Herz-Kreislaufreaktionen hervorrufen. Johanniskrautpräparate machen lichtempfindlich, efeuhaltige Hustensäfte können Allergien auslösen und, und, und…
2. sind Globuli keine naturheilkundlichen Arzneien sondern homöopathische. Der Unterschied ist ungefähr so groß, wie der Unterschied zwischen einer Operation und einer Akupunktur. Über die Wirksamkeit homöopathischer Substanzen wollen wir an dieser Stelle nicht streiten. Mein Grundsatz dazu heißt: Wer heilt, hat Recht!
3. ein weiterer Irrglaube ist die Annahme, Naturheilmittel seien nichts Chemisches. Natürliche Substanzen sind reine Chemie – Biochemie. Überdies kann man davon ausgehen, dass naturheilkundliche Arzneimittel in nichts anderem als in Fabriken unter Zuhilfenahme von chemischen Prozessen hergestellt werden, wenn sie in solchen Mengen gebraucht und verbraucht werden, wie beispielsweise Hustensaft auf Efeubasis oder Johanniskrautpräparate.
Ergänzend halte ich eine Einsicht für erwähnenswert, die mir als Hausarzt immer wichtiger wird, je länger ich Hausarzt bin:
Jedes Arzneimittel kann Schaden anrichten. Ob es sich um „reine Chemie“, naturheilkundliche Mittel, homöopathische Substanzen oder Zuckertabletten handelt. In einem wesentlichen Punkt sind sie alle gefährlich: All diese Mittel können den Eindruck erzeugen, es reiche, eine Pille oder ein paar Tropfen einzunehmen und man wird wieder gesund. Diesen Leitgedanken beispielsweise bereits Kindern vorzuleben, halte ich für gefährlich. Kindlichen Kopf- oder Bauchschmerz behandele ich deswegen nicht mit „harmlosen“ Mitteln. Entweder steckt dahinter eine Erkrankung, die erkannt und korrekt behandelt werden muss oder, wie in den allermeisten Fällen, es verbergen sich Kummer und Sorgen dahinter. Diese sollten mit Zuwendung behandelt werden, nicht mit Tabletten, Saft oder Kügelchen. Selbstverständlich kann die Zuwendung unterstützt werden mit einem kühlen Lappen für die Stirn oder einem warmen Umschlag für den Bauch.