Der heutige Artikel könnte ebensogut Teil 3a der Mini-Serie Wer fängt an? sein. Am Ende dieser Zeilen wird der Leser merken, dass der Aufruf zur Vorsicht im Titel ganz anders gemeint ist, als er sich auf den ersten Blick anhören mag. Gemeint ist jedenfalls nicht der ängstlich-besorgte Aufruf eines Hausarztes wegen einer generell schweren Erkrankung.
Für alle Laien: Eine Carotis-Stenose ist eine Verengung der Halsschlagader. Ähnlich wie bei einem Herzkranzgefäß wird der Grad einer Stenose in Prozent gemessen. Ist eine Stenose fünfzig prozentig, bedeutet das, es fließt nur noch halb so viel Blut wie einmal vorgesehen durch dieses Gefäß.
Carotis = vordere Halsschlagader
Es gibt zwei vordere Halsschlagadern, auf jeder Seite unseres Halses eine. Sie teilen sich auf in wiederum zwei Teile – einen äußeren und einen inneren. Der äußere Teil sorgt für die Blutversorgung der äußeren Anteile unseres Kopfes, der zweite Teil, der innere (Carotis interna), versorgt große Teile unseres Gehirnes mit Blut. Um diesen Teil geht es, wenn man sich um den Durchfluss der Carotis sorgt. Eine 100%ige Stenose wäre somit eine Katastrophe?! Weil kein Tropfen Blut auf der vollkommen verstopften Seite mehr fließt? Massiver Schlaganfall wäre die Folge. Denkt man.
Tatsächlich gibt es 100%ige Carotis-Stenosen. Man könnte ja meinen, die Betroffenen wären alle sofort tot, schließlich wäre theoretisch ein sehr großer Teil einer Hirnhälfte ohne Blutversorgung. Aber es gibt nicht nur 100%ige Stenose, sie machen nicht einmal unbedingt Symptome (überrascht?). Und wenn sie keine Symptome machen, müssen sie nicht operiert werden (noch überraschter?). Sie sollten sogar nicht operiert werden, weil Patienten mit 100%ige Stenosen der Carotis ohne Krankheitssymptome statistisch gesehen nicht von einer Operation profitieren, die OP andererseits aber immer Risiken birgt (perplex?).
Verstehen Sie jetzt, warum dieser Artikel Teil 3a von Wer fängt an? sein könnte?
Kollateralen sind des Rätsels Lösung
Da ist also unsere größte Hirnschlagader unter Umständen vollständig verstopft und nichts passiert. Wie kann das sein. Das Schlagwort lautet Kollateralen, auf Deutsch: Seitenäste, Umgehungen.
Eine ausgeprägte Verengung muss sich langsam entwickelt haben, sonst wäre sie tatsächlich tödlich. Keine Hirnhälfte kann plötzlich auf einen sehr großen Teil ihres Blutes verzichten. Wenn aber Zeit ist und auf dem Weg von 0% Stenose zu 100% Stenose, Jahre vergehen, kann der Körper ausweichen und Umgehungen nutzen, beispielsweise über die Nackenschlagadern oder die der Augen. Diese Umwege können so effektiv sein, dass die rechte innere Halsschlagader zu 100% verstopft ist, die linke zu 70% und der Betroffene weiß nichts davon und merkt nichts davon .
Worum operiert man dann Carotis-Stenosen überhaupt?
Für die Stenosen ohne Krankheitsmerkmale ist die Frage berechtigt, und hier wird ein Umdenken unter den Gefäßchirurgen einsetzen, so nicht schon geschehen.
Die Stenosen mit Symptomen (kleiner Schlaganfall, vorübergehende Sprach- oder Gangstörung, ausgeprägter Schlaganfall usw.) müssen nicht wegen der Enge an sich operiert werden, sondern weil die verengenden Kalkablagerungen, im Falle der Symptome, für Embolien in den Endstromgebieten gesorgt haben. Je nach Größe der Fetzen, die im Engpass abreißen, wird ein kleineres oder größeres Gefäß verstopft. Von der Größe des verstopften Gefäßes hängt die Ausprägung des Schlaganfalls ab. Diese reicht von einer vorübergehenden Erscheinung bis zur unwiderrufliche Halbseitenlähmung, Sprachverlust und Tod. Die Embolien sind das Problem, nicht die enge Stelle an sich!
Aktionismus ist Fehl am Platz
Es sollte also keineswegs auf Teufel komm‘ raus operiert werden, keinesfalls wenn jemand nichts von seiner Verengung spürt. Und schon gar nicht wegen Schwindel. Schwindel ist ein Symptom der hinteren Strombahn, also ein Symptom der hinteren Halsschlagadern, die im Nacken über den Hirnstamm zum Gehirn führen. Eine Carotissanierung wegen Schwindel durchzuführen, ist ein Kunstfehler.
Also, wenn Sie oder jemand in Ihrer Verwandtschaft oder Bekanntschaft eine Carotis-Stenose haben und es gibt keinerlei Probleme, außer dass Sie bei einer zufälligen Messung davon erfahren haben, dann bleiben Sie den Gefäßchirurgen fern. Sorgen Sie lieber für eine gesunde Lebensweise, einen gut eingestellten Blutdruck und Bewegung.
Einfach jeden zu operieren, der eine Verengung der Carotis aufweist, heißt technische Befunde operieren, statt Patienten.
Allein ohne Krankheitsmerkmale den Durchfluss der Carotis zu messen, ist schon überflüssig. Zufallsbefunde verwirren nur und machen Angst. Übrigens sind solche Messungen nicht nur Schuld der Ärzte, oft genug werden sie auch von den Patienten gefordert, am häufigsten wegen Schwindel.
Also, wer fängt an?