Waffen wurden gemacht, um zu töten, die kleine Nadel des Akupunkteurs dagegen, um das Leben zu retten… In falschen Händen aber wird auch die Akupunkturnadel zur gefährlichen Waffe und kann wie der Degen töten (Nei-tsing, Kapitel 60). Diese klassische Antwort des Leibarztes Khi-Po an den sagenhaften „Gelben Kaiser“ Hoang- Ti auf dessen Fragen nach dem Wesen der Akupunktur aus dem 3. vorchristlichen Jahrtausend ist ein immer noch aktuelles Motto, dem Akupunktur-Lernenden mit auf den Weg zu geben. Zu oft sieht man den flüchtig Orientierten unbekümmert am Menschen tätig werden und seine Misserfolge der Methode anlasten.
Die drei Qualitätsstufen
BRODDE hat die verschiedenen Qualitätsstufen in der Akupunkturtherapie treffend beschrieben:
Man kann auf mehrere Arten akupunktieren:
- durch bloßes Anstechen schmerzhafter Punkte,
- durch Stechen nach festen Regeln und
- durch Auswahl der anzustechenden Akupunkturpunkte nach energetischen und spezifisch TCM-diagnostischen Regeln.
Bloßes Anstechen schmerzhafter Punkte
Diese primitive Methode mag ursprünglicher Ausgangspunkt der Akupunkturerfahrung sein und kann in gelegentlichen, akuten Schmerzsituationen nützen. Mit Überlegungen zur Störfeldtheorie wird sie zur „akupunktierenden Neuraltherapie“.
Stechen nach festen Regeln
Zu dieser Krankheit ist jene Punktkombination zu wählen und so fort. Im früheren China gab es für diesen Typus spezielle schriftliche Anleitungen, wie z.B. das sogenannte “Lu-Long-Fu” aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Der darin enthaltene “Gesang des grünen Jadedrachens” ordnete jeder Krankheit spezielle Punktekombinationen zu. Tiefergehende diagnostische Überlegungen hatten hierbei keinen Platz.
Nicht nur im historischen China gab es den rasch (und daher weniger gründlich) ausgebildeten Akupunkteur, auch heute treffen wir in manch einer schulmedizinisch ausgerichteten Praxis den Therapeuten an, der das Lied des grünen Jadedrachens singt und die Akupuktur quasi nebenbei betreibt.
Auswahl der anzustechenden Akupunkturpunkte nicht nur nach Symptomen, sondern auch nach Überlegungen über den Zustand der Lebensenergie des Patienten und ihre Verteilung in den verschiedenen Meridianen
Dies ist eine hohe Kunst, die seit dem grauen Altertum bis in die Neuzeit die besten Akupunkturärzte des asiatischen Raumes bewegte.
BRODDE: “Wenn wir durch unsere Ausführungen versuchen, auf diese 3. Art Akupunktur, auf den Weg der theoretischen Perfektion hinzulenken, so sind wir uns voll darüber im klaren, dass der Druck der täglichen Praxis den Therapeuten auf die Routine-Therapie, wie oben unter 2. beschrieben, zurückwerfen wird. Aber er sollte doch ggf. im Stande sein, im Rahmen und in den Kategorien der klassischen Akupunkturlehre zu denken und von hierher sein Tun zu durchschauen.”
BRODDE, der bei französischen Sinologen die Akupunktur erlernte, zitiert weitere historische Quellen:
“Diese erwähnten drei Arten der Akupunktur sind ein aus ältesten Zeiten bis in die Neuzeit hinein persistierendes Faktum und wurden schon im So-Ouenn resp. Nei-King (Nei-Tsing) erwähnt und kehren in den Gesprächen des Gelben Kaisers mit seinem Leibarzt Khi-Po immer wieder z. B. (Chia-i-Ching):
- Der kleine Arbeiter sieht nur das Materielle, während der große Arbeiter das Nicht-Materielle (die Ursachen) beurteilen kann.
- Der mittlere Arbeiter versteht nur, die Akupunkturregeln zu befolgen, aber der große Arbeiter weiß Völle und Leere von Energie und Blut zu beobachten und zu beurteilen …”
Man sieht sie auch heute noch:
- Den „kleinen Arbeiter“, der lediglich Schmerzpunkte sucht und ansticht (man sollte vorsichtshalber noch Novocain dazu spritzen, damit es besser wirkt).
- Den „mittleren Arbeiter“, der in einer Reihe von Kursen eine solide Punktkenntnis erworben hat, diese nach Symptomen und Syndromen ordnen und anwenden kann und damit viel Gutes tut. Ein Akupunkteur der täglichen Praxis, dem aber letztlich manche Einsicht verschlossen bleibt.
- (Gelegentlich) den „großen Arbeiter“, der nach den Vorstellungen der Kunst dem Walten von Yang und Yin nachspürt; Qualität, Quantität und Verhalten der „Lebensenergie“ eruiert und daraus die Konsequenzen zieht im Einklang mit den klassischen Regeln, die als überlieferte Summe vieltausendjähriger Erfahrung den Umgang mit der Krankheit innerhalb der Natur, in der sie sich darstellt und vollzieht, gestatten. Er ist nicht nur Könner (wie meist der „mittlere“), sondern auch Sucher.
Der Akupunkteur sollte bestrebt sein, sich dem Denken des „großen Arbeiters“ zu nähern.
Vgl. Brodde, Ratschläge für den Akupunkteur, Richard-Pflaum-Verlag, München 1976, S.9-11