Der Kunze hört (nicht) auf 6

Dezember 2008
Der tägliche Patient
Hausarzt Dr. Kunze konnte seine Praxis gar nicht aufgeben. Was würde Herr Vogelsang dann tun? Vielleicht würde er sich umbringen. Nicht, weil Dr. Kunze sich selbst für einen besonders guten Hausarzt hielt, dachte er so, sondern weil Herr Vogelsang jeden Tag zu ihm kam. Jeden Tag, von Montag bis Freitag. Der Arztbesuch am Ende des späten Nachmittags gab dem Leben dieses Patienten einen Sinn. So mager dieser Lebensinhalt auch sein mochte, Herr Vogelsang hing am täglichen Arztbesuch wie andere an ihrer Familie oder an der Arbeit. Dr. Kunze hatte einiges versucht, um das zu ändern. Er hatte Herrn Vogelsang einen Termin mit einer Woche Abstand gegeben, tags drauf saß der Patient mit Darmkoliken in seinem Sprechzimmer. Der Versuch mit drei Tagen Praxispause führte zu einer Verbrennungswunde, die Einbestellung für den übernächsten Tag zum Hexenschuss.
Herr Vogelsang kam jeden Tag, seit vierzehn Jahren.
Warum? Hausarzt Dr. Anselm Kunze ahnte es.
Eines Tages hatte er Herrn Vogelsang gefragt, ob er eigentlich wieder heiraten wollte. Bernhard Vogelsang war gut zwei Jahre zuvor Witwer geworden und kam seitdem, anfangs wöchentlich, mit teils fadenscheinigen Argumenten in die Sprechstunde. Weil Dr. Kunze den Patienten mochte, auch wenn er eine Spur zu häufig in der Praxis erschien, hatte er zu Herrn Vogelsang gesagt:
„Warum heiraten Sie nicht wieder! Sie sind doch ein toller Mann. Ledige, ältere Frauen gibt es genug, die sich nach Zweisamkeit sehnen.“
Seit diesem Tag kam Herr Vogelsang täglich zu ihm. Der Arztbesuch machte sein Leben lebenswert, wie er seinem Hausarzt gestand.
Mit der Zeit ahnte Dr. Kunze, was in seinem Patienten vorging. Vierzehn Jahre täglicher Kontakt öffneten ihm nun die Augen. Manche über die Jahre verteilte Anmerkung Vogelsangs bestätigte Dr. Kunze in seinem Verdacht: Der Mann war im Grunde seines Herzens homosexuell. Und sein Patient war verliebt. Nicht nur verliebt in den Hausarzt, sondern auch überzeugt von dessen Gegenliebe, wenn der auch die eigene Neigung nicht wahrhaben wollte. Noch nicht.
Wie oft hatte Dr. Kunze seine Formulierung Sie sind doch ein toller Mann! bedauert. Und wie oft hatte Herr Vogelsang genau diese Passage zitiert – ungezählte Male in vierzehn Jahren.
Für den Arzt war Herr Vogelsang ein etwas einfältiger, immer netter, eher traurig gestimmter Mensch. Dr. Kunze sah sich nicht im Stande, ihm zu sagen, er solle sich einen anderen Hausarzt suchen. Gebot nicht gar die ärztliche Moral, den anhänglichen Patienten jeden Tag zu empfangen? Denn das war die Therapie, die Herr Vogelsang brauchte und in Anspruch nahm. Er erwartete nichts  – keine Tests, keine Pille, keine Operation. Er kam mit einer Schramme, Bauchweh, Kopfschmerzen, einem kaum sichtbaren Ekzem, Schwindel, wollte gelegentlich kurz untersucht werden, ein knappes Gespräch, das war’s. Dann verschwand er wieder. Manchmal dauerte der Arztkontakt kaum drei Minuten, selten mehr als fünf oder sechs.
Was würde Herr Vogelsang tun, wenn Dr. Kunze seine Praxis tatsächlich abgäbe? Ganz bestimmt konnte ein Arzt den Zeitpunkt seines Ruhestandes nicht nach den Patienten richten, aber was würde mit seinem täglichen Patienten geschehen? Dr. Kunze wusste, wie es mit den anderen Patienten sein würde: Eine Zeit des Bedauerns, eine sehr kurze in den meisten Fällen, einen Tag, eine Woche, vielleicht einen Monat Klage um den Verlust des geliebten Hausarztes, dann Alltagsleben mit einem neuen Arzt des Vertrauens. Der König ist tot, es lebe der König. Aber Herr Vogelsang? Gerade am Tag zuvor hatte Dr. Kunze wieder einmal einen Anlauf genommen, die Häufigkeit der Konsultationen auf jeden zweiten Tag zu beschränken, um damit Bernhard Vogelsang quasi zu entwöhnen. Der Patient hatte mit Enttäuschung reagiert. Aber diesmal hatte der Hausarzt sich nicht erweichen lassen.

Am folgenden Morgen betrat Dr. Kunze den Praxisflur. Helferin Christine winkte mit einer Kopfbewegung Richtung Kabuff. Kabuff nannten sie das enge Behelfssprechzimmer, in dem Spritzen verabreicht, Pharmavertreter empfangen oder Rezeptwünsche besprochen wurden. Der Hausarzt öffnete die Tür und sah zwei Polizisten. Der dickere von beiden sagte ernst:
„Herr Doktor, wir müssen Sie bitten mitzukommen.“
Der Arzt reagierte betroffen. War er zu schnell gefahren? Hatte er eine rote Ampel übersehen? Seine Fahrten mit dem Auto litten in letzter Zeit unter mangelnder Konzentration.
Der andere Polizist lächelte.
„Warum so schuldbewusst, Herr Doktor!“
Dann räusperte er sich und wurde sehr ernst. Es ging doch um eine traurige Angelegenheit.
„Wir haben einen Ihrer Patienten tot in dessen Wohnung aufgefunden. Offenbar Selbstmord. Wir wollten Sie fragen, ob das mit dem vereinbar ist, was Sie von dem Patienten wissen. Und wir wollten Sie bitten den Totenschein auszustellen.“
Dr. Kunze durchfuhr Kälte.
„Um wen handelt es sich?“
Er hatte einige Suizide in seiner Zeit als Hausarzt erlebt. Alle waren eine Tragödie gewesen, manche erschienen verständlich, andere waren nur schockierend.
„Ein Herr Bernhard Vogelsang.“

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