„Wir müssen Frauen mit HIV stärken“

Dr. med. Annette Haberl, Wissenschaftlerin und seit fast 20 Jahren Ärztin im HIV-Center der Universitätsklinik in Frankfurt am Main, sprach mit uns über Geschlechterunterschiede bei Diagnostik, Verlauf und Behandlung der HIV-Infektion.

Frau Dr. Haberl, macht es für Sie als Ärztin einen Unterschied, ob Ihr HIV-positiver Patient männlich oder weiblich ist?

Ja, natürlich ist es ganz wichtig, welches Geschlecht jemand hat. Das ist der größte genetische Unterschied, der vor einem sitzen kann. Es ist in der Medizin ja ein Trend, dass wir immer individueller therapieren und dass genetische Faktoren dabei eine immer größere Rolle spielen. Manchmal habe ich aber den Eindruck, dass der größte genetische Unterschied, den wir beim Menschen haben, nämlich der zwischen Mann und Frau, dann herzlich wenig interessiert. Am Ende soll ja immer die bestmögliche HIV-Therapie stehen. Dabei sind es manchmal gar nicht so die medizinischen Herausforderungen, die eine Rolle spielen. Die HIV-Infektion ist ja tatsächlich bei Männern wie bei Frauen gleich gut behandelbar. Aber die Gruppe der Frauen ist ein bisschen bunter, ein bisschen heterogener und auch ein bisschen anspruchsvoller. Da muss ich gucken, was die Patientin eigentlich für ein Leben führt, was für eine Therapie in dieses Leben reinpasst. Das ist eine Herausforderung, aber es ist durchaus spannender, die Gruppe der Frauen zu behandeln.

Frauen haben ein anderes Nebenwirkungsspektrum

Kann die Infektion bei Frauen einen anderen Verlauf nehmen als bei Männern?

Ja, man hat lange sogar gedacht, bei Frauen ist der Verlauf der HIV-Infektion günstiger als bei Männern, weil Frauen gerade in den ersten Jahren der Infektion niedrigere Viruslasten zeigen und von Hause aus höhere CD4-Zell-Werte haben. Das Immunsystem ist also bei Frauen besser als bei Männern, übrigens auch ohne HIV-Infektion. Man hat lange gedacht, dass deshalb auch der Verlauf der Infektion bei Frauen natürlich besser ist. Das Gegenteil ist aber der Fall, zumindest gilt das für die jüngere Frau. Da ist es nämlich so, dass die chronische Aktivierung des Immunsystems, die durch HIV ausgelöst wird, durch weibliche Sexualhormone getriggert wird. Dadurch haben Frauen zwar in den ersten Jahren einen scheinbar günstigeren Verlauf, aber dann kehrt sich das um. Unbehandelt führt dann die HIV-Infektion bei Frauen früher zum Fortschreiten der Erkrankung und damit auch letztendlich, wenn man nicht behandelt, zum Tod. Und es scheint so, dass auch unter Therapie noch Unterschiede bestehen bleiben. Dazu gibt es entsprechende Studien, sodass man das heute zumindest für Frauen vor der Menopause sagen kann. Wie es für Frauen nach den Wechseljahren aussieht, muss noch weiter erforscht werden.

Haben die HIV-Medikamente bei Frauen andere Nebenwirkungen als bei Männern?

Auch da hat man in den letzten Jahren viel dazugelernt. Ich kann mich noch gut erinnern – das ist noch nicht so lange her –, dass man gesagt hat, Frauen haben einfach eine höhere Rate an Nebenwirkungen. Das war bei den ersten Kombinationstherapien auch wohl der Fall. Für die modernen, relativ gut verträglichen Substanzen kann man das heute aber so nicht mehr sagen. Frauen haben einfach ein anderes Nebenwirkungsspektrum. Nehmen wir zum Beispiel die am häufigsten auftretenden Nebenwirkungen, die den Magen-Darm-Trakt betreffen. Männer haben häufig Durchfall, Frauen neigen zu Übelkeit und Erbrechen. Das mag jetzt für einen Laien nach einem nicht so dramatischen Unterschied klingen, aber mit Durchfällen kann man seinen Alltag in der Regel noch meistern. Wenn einem übel ist und man häufig erbrechen muss, dann kann man gar nichts mehr auf die Reihe kriegen. Frauen sind aber oft in der Situation, dass sie Kinder haben oder sich noch um andere Familienangehörige kümmern müssen. Wenn die Nebenwirkungen der Therapie das verhindern, dann wird die Frau diese Medikamente unter Umständen absetzen. Das heißt, dass bei Frauen Therapieabbrüche, -unterbrechungen oder -umstellungen wegen der unerwünschten Nebenwirkungen häufiger sind.

„Beim Gynäkologen gehören die Themen Sex und HIV auf den Tisch“

HIV-Medikamente können Wechselwirkungen verursachen, auch mit hormonellen Verhütungsmitteln. Worauf müssen Frauen in einer antiretroviralen Behandlung bei der Verhütung achten?

Wenn Wechselwirkungen mit HIV-Medikamenten auftreten, kann die Empfängnisverhütung nicht mehr sicher sein. Das gilt zwar nicht für alle Substanzklassen, aber für die altbewährten Klassiker wie die Protease-Inhibitoren und NNRTI. Darauf müssten vor allem die Frauenärzte hinweisen. Deshalb ist es für uns, die wir Frauen mit HIV behandeln, wichtig, dass wir gut vernetzt sind mit den Gynäkologen, damit das Wissen auch weitergetragen wird. Im Übrigen sind die Frauenärzte auch ganz wichtige Partner, wenn es um die Tests geht. Denn zum Gynäkologen gehen Frauen regelmäßig zur Vorsorge, und da gehört das Thema auf den Tisch. Dort muss über Sexualität geredet werden, über mögliche Risikokontakte und über einen HIV-Test. Damit könnte man die Zahl der Spätdiagnosen bei den Frauen verringern.

Was bedeutet eine Spätdiagnose denn für die medizinische Behandlung der Frauen?

Man hat eben eine schlechtere Prognose. Wir sagen immer so schön, dass man mit der HIV-Infektion heute ein ganz normales Leben führen kann. Also, die Infektion ist heute kein Problem mehr, medizinisch kriegen wir das in den Griff. Das stimmt auch erst mal so plakativ. Aber es fehlt der Zusatz: Wenn eine HIV-Infektion früh genug erkannt wird und eine Therapie rechtzeitig auf den Weg kommt. Dann hat man wirklich die besten Voraussetzungen, die beste Prognose im Einzelfall. Wenn HIV sehr spät erst, vielleicht erst durch eine Aids-Erkrankung, diagnostiziert wird und das Immunsystem wirklich nachhaltig geschädigt ist, dann hat man natürlich nicht die gleichen guten Voraussetzungen wie jemand, der leitliniengerecht mit einem CD4-Wert von über 350 in die Therapie geht. Das sind große Unterschiede. Und das macht für die Lebensqualität große Unterschiede. Dabei muss heute keiner mehr wirklich krank werden und erst mit Aidsmanifestationen hier stationär aufgenommen und dann erstdiagnostiziert werden. Das ließe sich vermeiden, wenn der Test auch früh genug angeboten wird.

„Da werden wirklich Chancen vertan“

Warum geschieht das so häufig bei Frauen nicht?

Ich denke, weil an die Möglichkeit einer HIV-Infektion nicht gedacht wird. Das ist für viele weit weg. Oft wird aber auch nicht getestet, weil Indikatorerkrankungen nicht beachtet werden. Wenn zum Beispiel eine junge Frau eine ausgeprägte Gürtelrose hat, dann muss man sich fragen, warum das so ist. Das passiert nicht einfach so. Oder bei einer anderen sexuell übertragbaren Erkrankung muss der Arzt natürlich sofort nachfassen und das ganze Paket an Diagnostik anbieten. Die HIV-Infektion fällt da leider oft hinten runter. Ich hab jetzt gerade eine Patientin neu aufgenommen, die ist eigentlich nur getestet worden, weil bei ihrem Lebenspartner HIV diagnostiziert wurde. Also wäre ihr Partner nicht schwer krank geworden, hätte sie keinen HIV-Test gemacht und wäre sehr bald selbst schwer krank geworden. Diese Frau hat auch überhaupt kein Risikobewusstsein gehabt. Und als ich sie untersucht und ihr in den Mund geschaut habe, hat sie sich entschuldigt, sie sei gerade beim Zahnarzt in Behandlung, das sehe alles noch nicht so toll aus. Sie hatte im Mundraum einen massiven Pilzbefall. Sie war also jede Woche beim Zahnarzt, und da hat niemand mal gefragt, woher das kommt, dass so eine Frau einen solchen Pilzbefall hat. Das ist ja nicht normal, da muss man doch nach der Ursache forschen. Also da werden wirklich Chancen vertan, und das geht zu Lasten dieser Menschen, die nicht getestet sind.

Wenn die HIV-Infektion früh erkannt und gut behandelt wird, haben Menschen mit HIV eine ganz normale Lebenserwartung. Das heißt auch für die Frauen, sie werden ganz normal alt, kommen irgendwann in die Wechseljahre. Welchen Einfluss haben HIV-Medikamente oder die Infektion auf das Klimakterium?

Da gibt es ganz unterschiedliche Untersuchungsergebnisse, aber nach den neuesten Daten aus den USA scheint es sich jetzt zu verfestigen, dass die Menopause einige Jahre früher einsetzt als bei HIV-negativen Frauen. Die Forscher gehen von etwa fünf bis sechs Jahren aus. Die Frage ist, was das für Konsequenzen hat. Zum Beispiel haben HIV-Medikamente einen Einfluss auf den Knochenstoffwechsel und die Knochendichte, und man weiß jetzt auch, dass es nach der Menopause noch mal einen negativen Einfluss auf den Knochenstoffwechsel gibt. Osteoporose wird also in Zukunft mehr im Fokus bei den HIV-positiven Frauen stehen. Wir könnten mehr Probleme bekommen mit Knochenbrüchen. Also das Thema Frau mit HIV nach den Wechseljahren, das ist für uns neu, und das Altern mit HIV ist noch nicht gut erforscht. Da kommen neue Herausforderungen, neue Fragestellungen auf uns zu.

„Bei frauenspezifischer HIV-Forschung ist noch Luft nach oben“

Muss also mehr geforscht werden mit dem Fokus auf Frauen?

Ja, frauenspezifische Forschung ist wirklich ein Stiefkind in der Medizin, das gilt nicht nur für den HIV-Bereich. Aber gerade hier würden wir uns mehr Forschungsprojekte wünschen. Die Studien, die wirklich gepowert sind, um frauenspezifische Fragestellungen auch auswerten zu können, das sind Raritäten. Ich würde mir auch wünschen, dass die Community dabei mehr ins Boot kommt. Die Frauen, die mit HIV leben, haben ja Fragen, die oft deckungsgleich mit unserer medizinischen Fragestellung sind. Die sollte man mit einbeziehen, damit die Studien auch durchführbar werden. Da sollten Ärztinnen, Forscherinnen und Patientinnen gemeinsam Konzepte entwickeln. Und natürlich müssen die Forschungsprojekte auch finanziert werden. Da ist noch Luft nach oben, wenn es um frauenspezifische Forschung geht.

In Deutschland leben etwa 80.000 Menschen mit HIV, ungefähr 15.000 von ihnen sind Frauen. Also nur knapp 20 Prozent. Was bedeutet das für die Versorgung durch HIV-Schwerpunktärzte? Sind die ausreichend auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen eingestellt?

Da hat sich in den letzten Jahren viel verbessert, was die Versorgung von Frauen mit HIV angeht. Es gibt einen Fokus bei den Ärztinnen, es gibt einen Fokus bei den Patientinnen, es gibt Frauennetzwerke, die das Thema nach vorne gebracht haben. Das Bewusstsein für die frauenspezifische Versorgung im klinischen Alltag ist geschaffen worden, und ich bin davon überzeugt, dass jetzt auch die männlichen Kollegen einen anderen Blick auf das Thema haben, als das noch vor zehn Jahren der Fall war. Damals hat man gesagt, wenn man gut behandelt, ist es egal, ob das ein Mann oder eine Frau ist, da gelten die gleichen Prinzipien. Aber bei bestimmten Themen ist das dann doch nicht der Fall, und diese Erkenntnis hat sich weitgehend durchgesetzt. In den Schwerpunktpraxen sind es immer noch mehrheitlich Männer, die Menschen mit HIV behandeln, aber es ist nicht so, dass sie für Frauen kein Bewusstsein haben.

„Wir müssen Frauen mit HIV stärken“

Was muss geschehen, um die Situation von Frauen mit HIV weiter zu verbessern?

Es ist ja leider so, dass Frauen mit HIV bei uns nicht wirklich so ein Gewicht haben. Sie kommen in der öffentlichen Wahrnehmung gar nicht vor. Aus guten Gründen, denn wenn ich Mutter bin und eine Familie habe, dann kann ich für mich selber vielleicht diese Entscheidung treffen, ob ich mich oute, aber da hängt ja dann immer noch jemand dran. Die Frauen haben Sorge, dass die Kinder diskriminiert werden oder der Partner diskriminiert wird. Das heißt, Frauen führen mit HIV ein komplettes Doppelleben und tauchen unter. Sie haben keine Lobby, die greifbar ist, keine prominenten Gesichter. Das macht es schwierig für die Gruppe der Frauen, die mit HIV leben, ihre Forderung zum Beispiel nach frauenspezifischer Forschung zu formulieren und durchzusetzen. Ich würde mir da wünschen, dass die Frauennetzwerke, die existieren, noch weiter Zulauf finden und dass es ein Empowerment, eine Stärkung der Frauen mit HIV gibt, damit sie auch ihre Bedürfnisse deutlich formulieren können. Das setzt natürlich auch einen Abbau von Diskriminierung voraus. Die Fortschritte, die wir in der Medizin in den letzten Jahren im Bereich der HIV-Therapie gemacht haben, können die Frauen oft nicht genießen, weil dieses Doppelleben so furchtbar anstrengend ist, weil sie sich niemandem gegenüber outen können aus Angst vor Ausgrenzung. Da wird vieles wieder kaputt gemacht, was die Therapie an Leichtigkeit und Normalität inzwischen bieten könnte. Das ist schade. Wenn die gute Fee käme, würde ich mir wünschen, dass sie die Diskriminierung wegnimmt und sich etwas im Bewusstsein der Gesellschaft verändert. Dann hätten wir wirklich einen Gleichstand mit dem Therapieerfolg und den Wirklichkeiten, in denen die Frauen leben.

 

„Ich habe nie daran gedacht, dass es HIV sein könnte“ (Frauen und HIV 1, erschienen am 6. März 2015)