Ein Bericht von Dr. Anno Diemer über seinen Einsatz auf Mindoro/Philippinen
Eigentlich wollte ich gar nicht auf die Philippinen. Vielmehr hatte ich mich für einen anderen Einsatz beworben, aber daraus wurde zu diesem Zeitpunkt leider nichts. Dann ergab sich die Notwendigkeit der Arztvertretung ausgerechnet für das Manila-Mindoro-Projekt und für Januar-März 2015. Da ich für diese Zeit keine Verpflichtungen hatte, übernahm ich die Vertretung und war natürlich erst recht gespannt, vor allem auf die Ureinwohner von Mindoro, die Mangyans. Im Internet erfuhr ich, dass diese etwa 8 Stämme bilden und noch etwa 100.000 Personen zählen, also etwa ein Zehntel der Inselbevölkerung von Mindoro stellen. Und es musste eine extrem friedliebende Bevölkerung sein, die gleichwohl in der Geschichte von muslimischen Sklavenjägern, spanischen Eroberern und Goldsuchern – der Name „Mindoro“ soll vom spanischen „mina de oro“ = „Goldbergwerk“ abgeleitet sein – und anderen stets viel Gewalt erfahren hatte und daher in die Unzugänglichkeit des zentralen Gebirges, gut 2.600 m hoch, geflüchtet war. Bis heute hätten sie dort eine urtümliche Lebensform mit Jagen, Sammeln und etwas Trockenreisanbau und auch eine sehr einfache Bekleidung bewahrt.
Auf Mindoro bieten die German Doctors seit vielen Jahren Basismedizin an, außer den staatlichen Impf- und halbjährlichen Entwurmungskampagnen die einzige quasi hausärztliche Versorgung überhaupt. Von der rührigen Langzeitärztin Dr. Fe „Pinky“ kommt viel allgemeine und klinische Information. So erfahre ich, dass es auf Mindoro mehrere Nord- und Südrouten gibt, die von zwei “staff houses“ aus betrieben werden.
Mein Flug ist tadellos, das Finden des “accredited taxi“ etwas schwierig, und vor allem kennt sich der Fahrer in Bagong Silang nicht aus. Abholung durch einen entsprechenden Dienst ist wünschenswert! Auf der fast dreistündigen Fahrt viel Stau, einige Slums, viele Hochhäuser, viele Papst-Franziskus-Plakate, da sein Besuch erst ein paar Tage zurückliegt. In Manila habe ich eine Woche lang Dienst in verschiedenen Slums und in der Ambulanz des Health Center, wo die Ärzte auch wohnen. Das ist zu viel Wechsel, um die Bereiche besser kennenzulernen. Die Atmosphäre im Center ist sehr freundlich. Am 2. Tag erfahre ich beim Essen aber von einem blutigen Überfall durch radikal muslimische Angreifer mit über 40 toten philippinischen Elitesoldaten auf Mindanao, leider aber wenig Genaues, und danach scheint Nachrichtensperre zu sein. Am selben Tag gibt es eine echte Live-Gesangsdarbietung zu meiner und zur Ehre der beiden Kolleginnen Gudrun und Helga, die auch gerade angekommen sind, mit dem Mitarbeiterinnen-Chor des Centers, Dr. Pinky und schwungvoller Gitarrenbegleitung. Dann müssen wir Neuen über uns und unsere Motivation berichten und viele Fragen beantworten.
Nach einer Woche geht es für mich nach Mindoro, zunächst in stundenlanger Busfahrt zum Hafen von Batangas an der Küste. Hier erwische ich die ehrwürdige, aber schon stark verrostete Fähre „Maria Oliva“ der „Montenegro“-Reederei. Da die See ruhig ist, haben wir eine gute Überfahrt, aber für spätere Fahrten ziehe ich die deutlich besser aussehende „Fast cat“ oder „Super cat“ doch vor. In Calapan auf Mindoro treffe ich sofort auf Rolando, den liebenswürdigen Fahrer vom Team der Nordgruppe, mit seinem schneeweißen Ford Ranger. Das staff house liegt nicht sehr weit weg, aber etwas versteckt. Hier begrüßt mich zuerst Leocelyn, die immer hilfsbereite und sehr aktive Stationsleitung und erprobte Köchin, während das übrige Team am nächsten Morgen komplett ist.
Mein Einsatz umfasst 2 Runden “rolling clinic“ im Norden von Mindoro von 5 bzw. 9 Tagen und eine Runde von 9 Tagen im Süden. Dann geht es zu 5 geht los. Der Weg ins Inselinnere von Calapan aus führt durch ein flaches, später bergiges Land der vielen Grüntöne – Reisfelder, Wiesen, Bananenpflanzen und Wald, manchmal der Gipfelgrat zwischen den Wolken. Es geht durch viele kleine Orte, vorbei an einigen großen Schulzentren mit Stiftertafeln – manchmal sehen wir viele Jungen und Mädchen in Schuluniform in und auf dem Dach von Jeepneys -, dann durch Bananen- und Kokosnußplantagen an den Fuß der Berge. Die Schwierigkeiten für den Fahrer nehmen zu, Rolando wird mit allen Tücken der rutschigen, steilen und steinigen und manchmal überfluteten Piste souverän fertig, um dann irgendwann mitten in der Natur vor einer weiß-roten älteren Hängebrücke anzuhalten: “Here we are!“ Dort gibt es nur eine winzige strohgedeckte Hütte mit einem Raum. Zunächst laufen wir alle über die schwankende und rostige, aber noch stabile Brücke, um im Dorf die frohe Kunde von unserer Ankunft zu verbreiten.
Etwa in Dorfmitte ein rechteckiger betonierter Spielplatz mit Basketballkörben, trotz der sommerlichen Temperaturen eifrige Tor- bzw. Korbjäger, die geschickt den allgegenwärtigen Kleinkindern, Schweinen und Hunden ausweichen. Rings umher kleine, teils offene Hütten, viele mit Geflechtmatten bedeckt. Teils sind die Dächer aus Wellblech und teils aus Cogongras und Palmblättern. Vereinzelt werben Plakate für Politiker von vorgestern, wir entdecken auch die bekannten weiß-grünen Plakate der German Doctors mit den Daten unseres Besuches. In diesem Iraya-Ort hatte Rebeca, meine Übersetzerin, Familienangehörige – willkommene Gelegenheit zu einem kurzen Wiedersehen. Kein Wunder, dass es keine Sprachhürden im Mangyanland geben würde! So oder ähnlich, wenn auch viel kleiner sah ich viele Dörfer dieser Menschen.
30 Minuten später ist die kleine Hütte mit Stoffbahnen, viel Tatkraft und Phantasie so umgerüstet, dass sie allen Anforderungen gerecht wird, und die Sprechstunde auf 4 qm kann beginnen. Viele Familien kommen mit drei oder mehr Kindern, die Frauen oft in traditioneller gemusterter Kleidung. Bei Jungen ab etwa 6 Jahren und den oft nur mit Hemd und einem Lendentuch bekleideten Männern ist eine große Machete, in einer Holzscheide sicher umgehängt, offenbar unverzichtbar. Parallel hören wir von draußen die kräftige Stimme von Cecile, die Unterricht für die interessierten Wartenden erteilt. Heute ist „Family Planning“ angesagt. In manchen Orten erinnert buntes Treiben mit vielen Zuschauern an einen Jahrmarkt, vor allem braucht sich der Zahnarzt nicht über Mangel an Interesse zu beklagen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig Missverständnisse es trotz der doppelten Sprachbarriere gibt, und froh, dank des ersten Einsatzes in Mindanao schon erste Erfahrungen mit der philippinischen Mentalität gemacht zu haben.
Das Krankheitsspektrum ist umfassend, an einigen Standorten aber gibt es auffallend viele Hautpilzerkrankungen, an anderen Malnutrition, also mittelschwere bis schwere Mangelernährung bei Kindern. Neben den vielen Luftwegsinfekten („cough and cold“) leiden viele Kinder unter Wurmbefall und Krätze; häufig sind ferner Asthmaerkrankungen in allen Lebensaltern und natürlich vielfältige Infektionen und viele chronisch kranke Patienten unter Dauertherapie. Die machen die wenigsten Probleme, unbefriedigend erscheint mir die Situation vieler Menschen mit Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule und Gelenke, denen wir nur eine vorübergehende Linderung verschaffen können. Auf ihre schwere körperliche Arbeit sind sie nun einmal angewiesen, und wirksame physikalische Therapien oder Hilfsmittel sind nicht in Sicht. Einige berichten, dass sie bereits von einer Nachbarin Massage erhalten als willkommene Selbsthilfe. Bei den Dermatophyten und den dadurch ausgelösten Tinea-Erkrankungen der Haut verzeichnen wir auffallend viele therapieresistente Befunde und Rückfälle, die mit den Bordmitteln anders als früher leider nicht mehr wirklich kurativ behandelt werden können. Hier muss ich auf symptomatische Maßnahmen zurückgreifen.
Trotzdem gibt es überwiegend positive Erfahrungen. So sehe ich bei der ersten Nordrunde an einem Ort zwei schwer kranke Kinder, in Europa ein klarer Fall fürs Hospital. Das eine ist ein Säugling mit massiv superinfizierter seborrhoischer Dermatitis vor allem im Gesicht und Hals, das andere ein etwa 10-jähriger Junge mit schwerem Asthma. Hier muss alles, was vorhanden ist, auch zum Einsatz kommen. Die Eltern sind nur dazu zu bewegen, bei einer Verschlechterung ins Regionalhospital zu kommen – ein Tag Fußmarsch wäre das. . . Wie groß ist meine Erleichterung, als ich beide Kinder beim zweiten Besuch eine Woche später wieder sehe und beide gut gebessert vorfinde! An einem anderen Ort sehe ich eine Frau mit einer stark juckenden und massiven Hautflechte, langfristig nicht zur Rückbildung gebracht. Hier kann die Therapie noch intensiviert werden. Auch sie stellt sich bei der zweiten Runde wieder vor, obwohl nicht einbestellt – nur, um sich beim Team für die gute Behandlung zu bedanken: vor allem hat das Jucken aufgehört! Für dieses Treffen hat sie erneut den Fußweg von mehr als zwei Stunden auf sich genommen. Überhaupt haben wir ganz viel Dankbarkeit erfahren, auch jenseits der medizinischen Hilfe. Auf der Südroute treffe ich in einem kleinen Dorf eine Mangyanfrau, die selbst Stoffe am Webstuhl herstellt, und kann ihr ein schönes Stück zum gewünschten Preis abkaufen. Am nächsten Tag bekomme ich dann, überbracht von einer Frau aus dem RC-Team, ein von dieser Weberin selbstgemachtes Armband aus kleinen Perlen, verziert mit meinem Namen, das ich nicht bezahlen darf. . .
So sehe ich in meinem Einsatz weit über 1.100 Patienten, und auch unser Zahnarzt im Inselsüden, „Dr. Heinz“ genannt, ist gut ausgelastet. Sehr bereichernd finde ich die Zusammenarbeit mit ihm; gegenseitig können wir uns täglich spannende klinische Befunde am Patienten zeigen. Mich beeindrucken besonders die vielen kariös zerstörten Gebisse, durch Betelkauen total schwarze Zähne und bizarre Fehlstellungen. Ein herzlicher Dank auch an ihn und an die beiden großartigen Teams im Norden und Süden von Mindoro! Leider ist die letzte Woche für „Dr. Heinz“ und mich mühsam, da wir beide an einer heftigen Bronchitis erkranken. Dabei lerne ich den legendären Hustentee aus Lagundiblättern, das landesweit altbewährte Heilmittel der Philippinen, kennen: täglich frische Blätter pflücken, mindestens 10 Minuten ziehen lassen, heiß trinken – extrem bitter (da leider ohne Honig serviert), aber effektiv. Aber vielleicht muss eine gute Medizin ja auch bitter schmecken . . .
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