Jimmy Somerville lässt in seinem neuen Album „Homage“ die Zeit vor der Aidskrise lebendig werden. Ein Gespräch über schwule Geschichte, seinen besten Freund Mark Ashton und warum Jimmys Leben ohne Drogen besser funktioniert.
Wir schreiben das Jahr 2015, und du hast mit Homage gerade eine Disco-Platte aufgenommen, die auf eine gute Art klingt, als wäre sie 1978 gemacht worden. Warum?
Jimmy Somerville: (lacht) Gute Frage! Es war so: Eigentlich arbeitete ich letztes Jahr, wie schon so oft, an einer elektronischen EP, mit ein paar Songs, die ich nur als Download anbieten wollte. Ganz entspannt, nichts Großes. Und plötzlich, nachdem ich mal wieder in meiner Plattensammlung gestöbert hatte, dachte ich: Warum nicht mal wieder Disco? Mein Koproduzent fand die Idee genauso aufregend wie ich. Und als wir anfingen, die Songs, die wir hatten, so zu arrangieren, war es, als wären sie genau dafür geschrieben worden. Es war wie eine Offenbarung.
Warum, glaubst du, war das so?
Ich höre diese Musik – Funk, Soul und eben Disco – seit ich 13 war. Sie ist immer wichtig für mich gewesen und hat meinen eigenen Geschmack tief geprägt. Zu dem, was ich machte, musste man immer tanzen können. Und oft hatte es eine politische Botschaft. Und das ist Disco. Also haben wir beschlossen, dass es Zeit war, eine „Homage“ an das Genre aufzunehmen.
„Es war Zeit, eine ‚Homage‘ an das Genre aufzunehmen“
Dazu kommt: Ich werde im Juni 54 Jahre alt und gehöre der ersten Generation an, die auf die Musik ihres Lebens als endloses Mixtape zurückblicken kann. Meines wäre 35 Jahre lang. Man könnte alle diese Songs nehmen und mein Leben damit beschreiben. Und „Homage“ gibt es auch, weil die wichtigsten davon, diejenigen, die mich ausmachen, fast alle Disco sind.
Die „Politics of Disco“ sind nach wie vor sehr wichtig für dich, stimmt‘s?
Oh ja. Disco hat mein Leben und das von vielen, vielen anderen schwulen Männern sehr verändert. Die späten 70er und frühen 80er waren eine andere Zeit. Für offen schwule Teenager war es damals viel schwieriger, als es das heute für viele ist. Es gab so gut wie kein offen schwules Alltagsleben, außer in den Clubs, wo du einfach sein konntest, wie du warst, und zu Liedern tanzen konntest, die keine andere Message hatten als du selbst zu sein.
Frühe Disco-Alben sind wie eine Landkarte der damaligen Schwulenbewegung. Es gibt eine relativ unbekannte EP der Village People, deren Songs nur in San Francisco, in Greenwich Village und auf Fire Island spielen. Und egal, ob sie wussten, was sie da taten, ich habe das damals als Straßenkarte für meine Reise in eine schwule Welt benutzt. Disco hat dafür gesorgt, dass eine schwule Underground-Kultur, in der Farbige genauso ihren Platz hatten wie starke Frauen, in den Mainstream einsickerte. Das hat sehr zu schwuler Sichtbarkeit beigetragen.
„Disco hat sehr zu schwuler Sichtbarkeit beigetragen‘
Sichtbarer schwul, als du es ab 1984 zuerst mit Bronski Beat und dann mit den Communards warst, konnte man kaum sein.
Das stimmt. Aber ich war mit „I am what I am“ großgeworden und hatte begriffen, dass meine Sexualität ein zu großer Teil von mir war, um sie als Songwriter oder Performer auszublenden. Ich wollte meine hart erarbeitete Freiheit nicht wieder aufgeben. Die Botschaft von Disco ist: Ich liebe, wen ich will, und darüber entscheidet niemand außer ich selbst. Und das ist ein sehr kraftvolles Statement, hat man es einmal verinnerlicht.
Bronski Beat war sehr, sehr erfolgreich mit eurer eigenen Version dieser Botschaft. „Smalltown Boy“ war weltweit ein riesiger Hit und ist im Grunde genommen eine Hymne schwuler Selbstbehauptung.
Weil wir ehrlich waren. Deswegen mochten die Leute es. Ich werde es nie vergessen: Als „Smalltown Boy“ die Charts stürmte, waren wir mal unterwegs zu einem Gig, und ein fremder Mann hielt uns auf der Straße an und sagte zu mir „Ich hasse alles was du bist und wofür du stehst. Aber ich bewundere dich für deine Ehrlichkeit.“
Hat sich diese Ehrlichkeit tradiert? Jemand wie Sam Smith, der nie ein Geheimnis aus seiner Sexualität gemacht hat, verkauft heutzutage Millionen Alben und gewinnt vier Grammys. Macht dich das froh?
Natürlich. Aber als ich Erfolg hatte, war ich nie „der großartige Sänger, der zufällig schwul ist“. Ich war immer „der schwule Popstar“. Das hat sich für Sams Generation geändert. Und das ist ein Fortschritt.
„Ich war immer der ‚schwule Popstar‘“
Das führt allerdings auch dazu, dass Sam nie „er“ oder „ihn“ sagt, wenn er ein Liebeslied singt, sondern alle seine Songs geschlechtsneutral funktionieren. Und ich glaube, er würde das gern anders machen. (lacht) Am Ziel sind wir vielleicht erst, wenn ein Sänger „Ich liebe ihn“ singen kann und das Lied trotzdem ein riesiger Hit in Europa und Amerika wird.
Glaubst du, dass die Aidskrise den durch Disco nach außen transportierten Fortschritt verlangsamt hat?
Ganz sicher. Aids wurde in Großbritannien und den USA als politisches Instrument benutzt, um auf breiter Front gegen die Community vorzugehen. Die Angst vor einem Virus, den in den ersten Jahren niemand verstand, wurde politisch auf die widerlichste Art in Angst vor der Community umgemünzt. Das hat viel kaputt gemacht.
Dein bester Freund Mark Ashton, der 1987 an den Folgen von Aids gestorben ist, war letztes Jahr der Held von Pride, einem der erfolgreichsten LGBT-Filme der letzten Jahre. Was war deine erste Reaktion, als du erfahren hast, dass man diesen Film drehen würde?
Ich war sehr, sehr glücklich. Marks Geschichte und die Unterstützung des Bergarbeiterstreiks durch Schwule und Lesben auf Marks Initiative hin ist ein wichtiger Teil der europäischen queeren Geschichte. Schon deshalb, weil mit dem Stereotyp aufgeräumt wird, Schwule seien damals alle nur hedonistische Tanzmäuse gewesen und hätten sich nur um Sex gekümmert.
„Ein wichtiger Teil der europäischen queeren Geschichte“
„Pride“ zeigt, dass wir damals noch ganz andere Sachen gemacht haben und die politische Idee eine größere war. Mark und die anderen Mitglieder von „Lesbians and Gays Support the Miners“ wussten aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, von der eigenen Regierung gehasst und entrechtet zu werden, und wollten aus dieser Position heraus Leuten helfen, denen es genauso ging. Und aus diesem Mitgefühl heraus erwuchs auf beiden Seiten eine große politische Kraft.
Der Film gefällt dir also.
Kann ich dir nicht sagen, ich habe ihn immer noch nicht gesehen.
Warum nicht?
Ich erfuhr von Marks Tod vier Minuten bevor wir in einer italienischen Fernsehshow auf die Bühne mussten. Ich hatte ihn erst zwei Wochen zuvor zum letzten Mal gesprochen, und es war ein totaler Schock. Wie so viele andere habe auch ich aus dieser Zeit ein paar emotionale Narben, die man besser nicht anrührt. Deswegen habe ich mich nicht ins Kino getraut, weil ich wusste, dass ich einfach losheulen würde. Und jetzt liegt der Film bei mir zu Hause, und ich werde ihn sicher irgendwann sehen, wenn ich soweit bin.
Dein Hit „For a friend“ und auch das zweite Communards-Album „Red“, sind Mark gewidmet. Du hast dich also schon früh mit seinem Tod auseinandergesetzt.
Ja, das war damals wichtig. Ich lernte Mark kennen, als ich 19 war. Wir waren einfach zwei Jungs, die London unsicher machten und Spaß hatten. Dass er so früh sterben würde, war nicht geplant.
Fehlt er dir heute noch?
Ja, natürlich. (seufzt) Entschuldige, ich muss mir kurz die Nase putzen. Darüber zu reden, macht mich immer noch fertig. Ich war in der Zeit, als Mark starb, viel in New York und San Francisco unterwegs. Und Leute verschwanden einfach. Du trafst sie ein paarmal, verliebtest dich ein bisschen und hörtest dann von heute auf morgen nichts mehr von ihnen, nur um ein paar Wochen später zu erfahren, dass sie längst tot waren.
„Ich habe damals emotional zugemacht“
Ich habe damals emotional zugemacht, sonst hätte ich das alles nicht ausgehalten, glaube ich. Als Mark starb, ist irgendwas in mir kaputtgegangen, von dem ich nicht weiß, ob es inzwischen wieder heil ist. Deswegen weiß ich nicht, ob ich den Film sehen kann.
Ist „Homage“ auch dazu gedacht, die Freude und das Gemeinschaftsgefühl der Zeit vor Aids wieder auferstehen zu lassen?
Vielleicht. Ich finde es jedenfalls sehr wichtig, dass wir uns um unsere Geschichte kümmern und nie vergessen, wo wir herkommen und wie schön und wie traurig vieles davon war. Nachdem der Bergarbeiterstreik zu Ende war, ist die Geschichte von „Lesbians and Gays Support the Miners“ und damit auch Marks Beitrag in Vergessenheit geraten, weil sich die Mainstream-Medien nicht dafür interessierten. Wir haben als Community eine Verantwortung, unsere Geschichte zu bewahren, weil es so viele Kräfte gibt, die sie gern vergessen machen möchten.
Eine sehr persönliche Frage, die deine Geschichte betrifft: Dein Bandkollege Richard Coles sagte dir 1987, er sei positiv, und gab einige Jahre später zu, dass das eine Lüge war. Daraufhin hast du zwei Jahrzehnte nicht mit ihm gesprochen. Hast du ihm inzwischen vergeben?
Damit habe ich vor langer Zeit abgeschlossen. Ich hatte damals meine eigenen Probleme, war meine ganz eigene Art Monster. Was mir Richard inzwischen verziehen hat. Wir sind uns vor ein paar Tagen bei der BBC, wo er jetzt arbeitet, zufällig über den Weg gelaufen. Es war unser erstes Treffen nach zwanzig Jahren. Und ich habe mich gefreut, ihn zu sehen. Es war, als hätten wir gestern zum letzten Mal miteinander gesprochen.
Wir gehen jetzt sicher mal zusammen essen. Richard und ich haben als junge schwule Männer viel zusammen erreicht, weil wir mutig und offen waren. Und es ist wichtig, dass wir darauf stolz sind und das nicht vergessen, egal, was zwischendurch passiert ist.
„Ich habe mich fürs Leben entschieden“
Wieviel von dem, wie du heute die Welt siehst, Musik machst und mit alten Freunden umgehst, ist der Tatsache geschuldet, dass du seit zwei Jahren nicht mehr trinkst und keine Drogen mehr nimmst, was du lange und regelmäßig getan hast?
Sehr viel. Ich stand vor ein paar Jahren vor der Wahl, entweder weiter chemische Substanzen zu nehmen oder zu leben. Und ich habe mich fürs Leben entschieden. Jetzt führe ich meinem Körper nichts mehr zu, was meine Realität verändert, meine Gedanken negativ beeinflusst oder mich zu einem Egomanen werden lässt, der nur noch über sich selbst nachdenken kann. Das hat dazu geführt, dass „Homage“ das erste Album meiner Karriere ist, das ich von Song eins bis Song zwölf anhören und dabei denken kann: Das ist gut so, und es ist so geworden, wie ich wollte. Und das ist ein sehr, sehr schönes Gefühl.
Interview: Paul Schulz
„Homage“ (Membran Records), jetzt erhältlich
www.jimmysomerville.co.uk