5.000 Bilder und kistenweise Tagebücher: 22 Jahre nach seinem Tod wird der Nachlass des Berliner Fotografen Jürgen Baldiga erschlossen – und Tag für Tag ein Stückchen mehr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie erinnern wir uns an Menschen, die etwas im Umfeld von HIV und Aids bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Diese und andere Fragen zum Gedenken stehen in unserer Reihe mit Porträts von Verstorbenen.
„6 Uhr morgens
schon wieder Fieber
39,2
Was das nur immer ist“
twitterte Ende Januar Jürgen Baldiga. Seit Jahresbeginn gibt es fast täglich eine neue Statusmeldung des Berliner Fotografen zu lesen. Mal sind es Mitteilungen über das körperliche Befinden, mal Notate zur künstlerischen Arbeit oder zum Gefühls- und Sexleben:
„Glaube wirklich,
daß ich ihn liebe.
Aber doch noch heute
in Tiefgarage
mit 195 großen X
mal eben auf die Schnelle
es getrieben.“
(24.1.1990)
Dass Menschen ihr Innerstes öffentlich machen, irritiert im digitalen Zeitalter schon lange niemanden mehr. Diese Tweets jedoch sind anders: Es sind Nachrichten eines Toten. Jürgen Baldiga ist bereits 1993 gestorben.
Was da in seinem Twitter-Profil gepostet wird, sind allerdings keineswegs Botschaften aus dem Jenseits, sondern sie stammen genau genommen aus der Vergangenheit: Baldiga hat sie jeweils auf den Tag genau vor 25 Jahren niedergeschrieben.
Der Begriff „Statusmeldung“ scheint für ihn wie geschaffen
Vierzig Tagebuchbände hat Jürgen Baldiga nach seinem Tod hinterlassen. Zeichnungen und schnell hingeworfene Kritzeleien finden sich darin, aber auch eingeklebte Fotos, Zeitungsartikel und sogar Rechnungen. Was er für notierenswert hielt, hat er mit raumgreifender Handschrift festgehalten.
Eine Handvoll Worte füllen oft eine ganze Seite. Und so expressiv wie die Schrift, so roh und kompakt zugleich sind diese Notizen. Die 140-Zeichen-Begrenzung der Tweets ist kein Problem. Baldiga hat in seinen Tagebucheinträgen nie viele Worte verloren.
Detaillierte Schilderungen seiner Erlebnisse, ausführliche Erörterungen seiner Situation – all das schien ihn als Tagebuchschreiber nicht sonderlich zu interessieren. Seine Einträge wirken vielmehr wie ein Kondensat seiner Überlegungen, Empfindungen, Erfahrungen und Erlebnisse. Der Begriff „Statusmeldung“ scheint da für ihn wie geschaffen.
„Die Zukunft
sieht eher beschissen aus.
Mit 40 Helferzellen
werde ich bestimmt
keine 80 Jahre.“
(26.10.1990)
Dass diese Notizen nun (in Auszügen) via Twitter veröffentlicht werden, ist Aron Neubert zu verdanken. Seit rund einem Jahr transkribiert er Band für Band der Tagebücher. Baldigas nicht gerade einfach zu lesende Schrift ist ihm vertraut.
Die beiden verband eine intime, bis zum Tod Baldigas währende Freundschaft. Kennengelernt hatten sie sich 1989. Für Neubert, der im Jahr zuvor aus der DDR nach West-Berlin ausgereist war, wurde Jürgen Baldiga zu einem der wichtigsten Menschen in diesem neuen Lebensabschnitt. „Man darf nicht unterschätzen, wie sehr eine solch intensive Freundschaft einen mit Anfang Zwanzig prägt: Seine Art auf die Welt zu schauen und zu denken hat mich nicht nur fasziniert, sondern er wurde mir darin auch zum Vorbild.“
Bilder, die von Baldigas Krankheit und Sterben erzählen
Wie tief diese Freundschaft und das gegenseitige Vertrauen waren, zeigt sich in einem Pakt, den die beiden 1991 geschlossen hatte. Baldiga hatte Aron Neubert gebeten, die Einäscherung seines Leichnams und damit das endgültige Verschwinden seines Körpers fotografisch festzuhalten. Im Gegenzug versprach er Neubert, ihm bis dahin jeden Monat für ein Foto zur Verfügung zu stehen.
Dieser Teil der Vereinbarung wurde eingehalten: Bis Dezember 1993 ist eine Porträtserie entstanden, die auch für Aron Neubert bis heute Gültigkeit bewahrt hat. Bilder, die von Baldigas Krankheit und Sterben erzählen, die ihn im Krankenbett, entkräftet und vom Gewichtsverlust gezeichnet, zeigen, aber auch mit Freunden, beim Eis essen oder wie er mit narzisstischer Freude sich in Pose setzt.
Das finale Bild allerdings wurde nicht realisiert: die Verwaltung des Krematoriums hatte die Fotoerlaubnis verweigert.
„J. ist tot
K. ist tot
R. ist tot
H. ist tot
u.s.w.
Was bleibt,
ist der Rest vom Leben.
Schneller leben.
Intensiver leben.“
(22. 3.1990)
Neuberts Fotoserie war seither vielfach in Ausstellungen zu sehen, zuletzt unter anderem in einer Schau der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin („LOVE AIDS RIOT SEX“). Baldigas fotografisches Werk blieb nach seinem Tod ebenfalls präsent.
Daran hat auch Aron Neubert, den Baldiga zu seinem Nachlassverwalter bestimmt hatte, einen großen Anteil. 1997 wurde zu Baldiga eine große Werkschau im Berliner Künstlerhaus Bethanien ausgerichtet und begleitend ein umfangreicher Bildband veröffentlicht.
Für Neubert wurde diese Retrospektive zu einer Zäsur. Es galt Abstand zu gewinnen, ein eigenes Leben nach und ohne Jürgen Baldiga zu beginnen. Er ging für einige Zeit von Berlin nach Los Angeles, um dort für einen Fotografen zu arbeiten.
„Mir war allerdings klar, dass ich mich irgendwann doch noch einmal mit dem Nachlass beschäftigen muss“, erzählt Aron Neubert. Wie von Baldiga gewünscht, war dieser dem Schwulen Museum Berlin übergeben worden. „Mir lag sehr daran, dass der fotografische Nachlass von jemandem aufgearbeitet wird, der Jürgen nicht persönlich kannte und sich das Material mit einem eigenen, vielleicht sogar neuen Blick anschaut – und das Werk vielleicht auch neu entdeckt.“
„Mein Herz hat es eilig.
mein Leben
ist eine Zeitbombe.
Doch mein Liebster
springt von Herz zu Herz.
(8.2.1990)
*
Der Mensch ist gut.
Dies ist der Ausgangspunkt
für mich, wenn ich die Kamera
in die Hand nehme.“
(24.6.1990)
Rund 5.000 Fotografien umfasst der künstlerische Nachlass: Mit wachem, interessiertem Blick und doch stets auf Augenhöhe hat Jürgen Baldiga zunächst die Randständigen und Außenseiter der Gesellschaft porträtiert – Greise, Obdachlose, Alkoholiker und Punks.
Mehr und mehr rückten schließlich schwule Männer in den Fokus: Jungs von nebenan, Kerle beim Sex, Tunten im Fummel. Einige seiner Bilder, wie etwa Porträts des von Kaposi-Sarkomen gezeichneten Ikarus’, der Tunten- und HIV-Aktivistin Pepsi Boston oder eines blondierten Jünglings mit Engelsflügeln, wurden von HIV-Organisationen wie der Berliner und der Deutschen AIDS-Hilfe für Plakate und Broschüren verwendet.
„Act-Up Demo
eine Frau zu mir
Euch müsste man alle totschlagen
ich mich vor ihr hingestellt
Dann mal los
schlagen Sie mich tot“
(10.9.1990)
Seit zwei Jahren ist Axel Wippermann damit beschäftigt, die in Kartons verwahrten Originalabzüge zu sortieren, zuzuordnen und zu katalogisieren. Inzwischen sind die Fotografien fast komplett erfasst und in Hängeordnern sortiert, die gerahmten Bilder nach Größe in Regalen verstaut.
Der Kunsthistoriker und Fotospezialist arbeitet ehrenamtlich im Schwulen Museum Berlin. Dass der damalige Archivleiter Jens Dobler ihm anbot, ausgerechnet den Baldiga-Nachlass aufzuarbeiten, erschien ihm wie eine Fügung des Schicksals.
Axel Wippermann, der erst 1993 nach Berlin gezogen ist, hat Jürgen Baldiga nie persönlich kennengelernt. Und doch, so erzählt er, habe Baldiga eine bedeutende Rolle in seinem Leben gespielt: durch seine Bilder. „Ich habe mich in den Jahren nach meinem Coming-out sehr viel mit Männerfotografie befasst. Jürgens Arbeiten waren für mich aber immer die Intensivsten. Er war für mich eine sehr wichtige Identifikationsfigur: So wollte ich gerne leben und fotografieren können.“
„Ich frage mich manchmal, woher er all die Energie nahm“
So oft sich die Möglichkeit ergab, war er zu Baldiga-Ausstellungen gereist. Die große Berliner Schau 1997 hat er seinerzeit sogar gleich mehrmals besucht. Damals hätte er sich nicht träumen lassen, dass er eines Tages die exklusive Gelegenheit haben würde, das Gesamtwerk in Augenschein zu nehmen – bis hin zu den Kontaktabzügen, die bis dahin noch nie jemand gesichtet hat.
Der Blick auf das Werk, sagt Wipperman, sei dadurch ein anderer geworden, aber die Bilder hätten nicht an Intensität verloren. „Erst in der Gesamtschau zeigen sich die vielen Geschichten, die sich hinter den Bildern verbergen.“
Viele seiner Freunde beziehungsweise Protagonisten der Tuntenszene, wie etwa Melitta Sundström, hat Jürgen Baldiga immer wieder fotografiert und damit auch deren Entwicklungen und die Beziehungen zu diesen Menschen festgehalten. Bild für Bild rekonstruiert Axel Wippermann den Entstehungszeitraum und die abgebildeten Personen, Baldigas Tagebücher sind ihm dabei eine große Hilfe. Zugleich geben sie eine Ahnung davon, unter welchen Umständen der gelernte Koch und Autodidakt Baldiga als Fotograf gearbeitet und gelebt hat.
„Ich frage mich manchmal, wie er das alles geschafft hat, woher er all die Energie nahm: Jobben, Fotografieren, die halbe Nacht in der Dunkelkammer verbringen und dann noch die vielen Sexdates“, sagt Wippermann und lacht. „Was ich an seinen Tagebuchaufzeichnungen besonders spannend finde, ist dieses Nebeneinander. Einerseits dieses triebhafte, promiske Sexleben und im nächsten Satz geradezu philosophische Auseinandersetzungen über das Leben, seine Männerbeziehungen, die Krankheit, das Sterben.“
„Ich lass mir nicht
die Sexualität verbieten
auch wenn ich im
2. Stadium von Aids bin
Ansonsten leg ich Feuer
und schlage Alarm“
(24.2.1990)
Für Aron Neuberg ist die Arbeit mit den Tagebüchern eine Wieder- und ein stückweit auch Neubegegnung mit Baldiga. „Jürgen ist nun über zwanzig Jahre tot. Vieles, das ich bereits vergessen hatte, wird nun in die Erinnerung gerufen, und er ist mir wieder so präsent geworden wie schon sehr lange nicht mehr.“
Geheimnisse hat Neubert dadurch nicht entdeckt, dafür kannten er und Baldiga sich viel zu gut. Und doch lernt er ihn durch die Tagebücher noch einmal von einer neuen Seite kennen. „Jürgen war für mich in erster Linie ein Mensch der Bilder und kein Mann der großen Worte. Er hat auch nie sehr laut gesprochen. Aber was er dann sagte, das hatte stets Hand und Fuß. Ich war daher sehr überrascht, wie komprimiert und präzise er in seinen Tagebüchern formuliert hat.“
„Es gibt Tage, da will ich einfach nicht mehr.
Ganz schnell ein Ende machen.
Da rollen in der U-Bahn einfach so die Tränen.“
(7.9.1990)
Noch sind nicht alle vierzig Bände abgetippt und ediert, aber Neubert nähert sich langsam der Zielgeraden. Der Abschluss des Projekts bedeutet nicht nur, dass das Werk Baldigas für die Nachwelt, die Forschung und künftige Ausstellungen gesichert ist. Für Aron bedeutet es auch, abschließen zu können und den ihm anvertrauten Nachlass nun aufbereitet zu wissen.
Irgendwann wird es sicherlich eine neue Ausstellung geben, die Baldigas Fotografien in neue Zusammenhänge stellt, das Gesamtwerk noch einmal anders gewichtet und einordnet. Vielleicht auch begleitet durch einen neuen Bildband, in dem Tagebuchauszüge und Fotografien miteinander in Verbindung gesetzt werden.
Aron Neubert aber will nichts überstürzen. Fürs Erste wird es auch weiterhin Nachrichten aus der Vergangenheit geben.
Von Axel Schock
Twitter-Account von Jürgen Baldiga
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