„Ich laufe ja für mich selber“

Die 20-jährige Corinne Cichacki ist eine junge Frau wie viele andere. Mit einem kleinen Unterschied: Sie ist HIV-positiv.

Seit ihrem zweiten Lebensjahr muss Corinne Tabletten nehmen, damit die Krankheit nicht ausbricht. Ihre Mutter ist an Aids gestorben, als Corinne sechs Jahre alt war, und so wächst sie in einer Pflegefamilie in einem oberbayerischen Dorf auf.

Doch Corinnes größtes Problem ist nicht die Infektion, sondern der Mangel an Wissen über HIV in der Gesellschaft, die Vorurteile der andern und die Angst vor sozialer Ächtung. Weil Corinnes Eltern befürchten, dass sie gemobbt wird, wenn sie ihren Freundinnen und Mitschülern davon erzählt, beschließt die Familie, es niemandem außerhalb zu erzählen. Und so wächst Corinne mit einem Geheimnis und der bangen Frage auf: Würden meine Freunde mich noch akzeptieren, wenn sie von meiner Krankheit wüssten?

Die Filmemacherin Maike Conway hat Corinne seit ihrem achten Lebensjahr mit der Kamera begleitet. Ihre einfühlsame Dokumentation „Niemand darf es wissen – Corinne und ihr Geheimnis“ wird anlässlich des Weltaidstags in der ZDF-Sendereihe 37 Grad und in weiteren Fassungen ausgestrahlt. Elke Amberg hat Corinne im Münchner Frauengesundheitszentrum getroffen und mit ihr für magazin.hiv gesprochen:

Hallo Corinne, wie geht es dir? Wie lebst du zurzeit?

Gesundheitlich ist alles okay. Es geht mir gut! Vorgestern bin ich aus Fuerteventura zurückgekommen. Insofern gewöhne ich mich gerade an die vielen Lagen Klamotten, die man hier anziehen muss (lacht). Dort arbeite ich seit Oktober letzten Jahres in der Kinderbetreuung eines Ferienclubs, genauer gesagt im Kinderatelier. Dort bemale ich mit den Kindern T-Shirts, Seidentücher, Taschen, und solche Dinge.

Hin und wieder werde ich auch in der Betreuung eingesetzt, helfe beim Kochen, Vorbereiten von Festen oder helfe an der Bar beim Cocktail-Mixen aus. Es macht total Spaß! Man lernt viele Leute kennen, Gäste und andere Mitarbeiter. Daher freue ich mich auch, dass mein Vertrag verlängert wurde und ich vielleicht demnächst im Personalbüro arbeiten kann. Das passt dann gut zu meinem Plan, später eventuell Event-Management zu studieren.

Bist du dort medizinisch gut versorgt?

Ja. Das ist in Spanien sogar weniger kompliziert als in Deutschland. Man sucht sich einen Hausarzt, der einen an ein Krankenhaus überweist. Die Medikamente werden komplett bezahlt. Ich kann meine Tabletten einfach abholen und sogar eine andere Person beauftragen, sie abzuholen.

„Manchmal ist es einem einfach so rausgerutscht“

Der Film vermittelt den Eindruck, der einzig gangbare Weg für euch war, mit niemandem über deine HIV-Infektion zu sprechen, besonders nicht in der Schule. Wieso habt ihr euch so entschieden?

Meine ganze Familie, die Verwandtschaft und die engeren Freunde der Familie wussten alle Bescheid, zumindest die Erwachsenen. Das ließ sich gar nicht vermeiden, denn manchmal ist es einem einfach so rausgerutscht. Aber diese Offenheit ist nicht selbstverständlich in Familien. Da hatte ich auch Glück. Denn es gibt Familien, bei denen es nicht einmal die Oma wissen darf.

Aber mit der Schule war das schwierig. Als ich ins Gymnasium wechselte, haben wir sehr wohl überlegt, ob wir es sagen sollen, uns aber letztendlich dagegen entschieden. Es gab da in der 5. Klasse ein Schlüsselerlebnis bei einem Schullandheim-Aufenthalt: Ich hatte einen kleinen Unfall, und die Mutter eines Mitschülers kümmerte sich um die Erstversorgung. Meine Oma, die auch dabei war, sah, dass ich blutete, und mahnte die Mutter spontan: „Aufpassen! Corinne ist HIV-positiv.“

„Das Ganze ging bis zum Kultusministerium“

Diese Mutter, übrigens eine Ärztin, besprach sich im Nachhinein mit ihrem Mann, der ebenfalls Arzt war. Die beiden machten dann einen Riesen-Heckmeck aus der Sache. Sie gingen zum Schulrektor und forderten eine Impfung. Dabei gibt es keine Impfung gegen HIV, was sie als Ärzte eigentlich wissen sollten! Jedenfalls meinten sie, dass HIV gemeldet werden müsse und solche Dinge. Das Ganze ging dann bis zum Kultusministerium. Es gibt jedoch keine Meldepflicht. Letzten Endes wussten es dann der Rektor und seine Stellvertreterin, und dabei haben wir es nach dieser Erfahrung auch belassen.

Wie ihr weiter damit umgegangen seid, vertieft ja der Film. Wie kam der Film überhaupt zustande?

Der Kontakt entstand über „Sonnenstrahl“. In dem Verein trafen sich betroffene Familie zum Austausch, für Freizeit- und Ferienaktivitäten. Die Regisseurin Maike Conway fragte dort an, wer bei einem Filmprojekt über ein HIV-positives Kind mitmachen wollte.

Du warst zu Beginn der Dreharbeiten acht Jahre alt. Wie war es für dich, im Mittelpunkt eines Filmes zu stehen?

Och, mir hat das Spaß gemacht. Ich war im Ballett, habe mit meiner Freundin Zirkusaufführungen gemacht und wusste nicht so genau, warum der Film gedreht wird. Maike fand ich nett. Anfangs hat sie zweimal im Jahr gedreht, die letzten vier Jahre dann öfters, je nachdem, was anstand.

„Ich wusste nicht so genau, warum der Film gedreht wird“

Wir haben dann auch zusammengearbeitet. Über Facebook hatte ich engen Kontakt zu Maike und sie immer informiert, wenn etwas Besonderes war, wie zum Beispiel eine Aufführung oder der Abi-Ball. Es war immer klar, dass ich mit 18 Jahren entscheiden konnte, was mit den Filmaufnahmen passiert.

Wie alt warst du, als dir klar wurde, dass du HIV-positiv bist?

Das kann ich nicht so genau sagen. Anfangs wusste ich, ich bin krank, dann wusste ich, es ist eine Blutkrankheit, dann hieß es „Immunschwäche“ und irgendwann dann „HIV“. Im Film ist der Moment festgehalten, in dem ich meine Krankheit mit Aids in Verbindung bringe. Das war etwa im Alter von 13 Jahren, als unsere Schule beim „Run for Life“ mitmachte, für Kinder mit Aids in Afrika. Da wurde mir klar: Ich laufe ja für mich selber!

Im Film sieht man, wie du dein Geheimnis einem guten Freund erzählst. Wie ging es dir seither mit diesen Outings?

Nach dem Abi war ich ja sozusagen frei, es wem auch immer zu erzählen. Als ich es dann einem Kumpel erzählte, den ich sehr gut kannte, habe ich eine halbe Stunde gebraucht und ihn fast panisch gemacht, so nach dem Motto: „‚Oh mein Gott, ich habe solche Angst, dass ich dich danach verlier.‘“

„‚Oh Gott, ich habe solche Angst, dass ich dich danach verlier‘“

Das klingt, als würdest du das heute nicht mehr so machen.

Das stimmt! Ich habe es damals auch der Freundin meines Bruders erzählt. Es ging darum, dass ich nach dem Abitur in einem Waisenhaus mit aidskranken Kindern in Afrika arbeiten wollte. In einigen afrikanischen Ländern braucht man jedoch für die Einreise eine Gelbfieber-Impfung, und die verträgt sich nicht mit HIV. In anderen Ländern gibt es für HIV-Infizierte ein Einreiseverbot. Da sagte ich dann ohne nachzudenken: „Da darf ich ja gar nicht hin mit meiner HIV-Infektion.“ Sie fragte dann: „Was, du hast HIV?“ Das kam komplett nebenbei heraus. Und das ist tatsächlich der beste Weg, es jemandem zu sagen.

Gab es seither auch schlimme Erfahrungen damit?

Das war mit einem Jungen, der bei einer Kollegin im Club zu Besuch war. Wir haben uns super verstanden und sind uns auch etwas nähergekommen, haben uns geküsst und so weiter. Bevor er dann heimflog, dachte ich mir, es ist besser, wenn ich ihm sage, was Sache ist – aus Respekt und so. Er war aber nicht aufgeklärt, hat mich dann x-mal gefragt, ob man sich beim Küssen anstecken kann. Das war schon etwas kindisch. Ich habe dann zwanzigmal wiederholt, nein, es ist nicht so. Nach seiner Abreise wurde es dann immer komischer. Er ging auf Distanz, hat dann auch einen HIV-Test gemacht – der natürlich negativ war! Aber sein Hausarzt meinte, man könnte sich beim Küssen anstecken.

„Er hat mich x-mal gefragt, ob man sich beim Küssen anstecken kann“

Mittlerweile wissen es wahrscheinlich alle, nachdem der Film im Mai auf dem Dokumentarfilmfestival in München lief und die Zeitungen auch über dich geschrieben haben.

Ja, meine Klassenkameraden wissen es jetzt. Das war eine große Erleichterung. Einige haben sich danach auf HIV testen lassen, von anderen habe ich total nette Mails bekommen. In gewisser Weise ist es vielleicht ganz gut, dass ich in Fuerteventura bin und das alles nicht so hautnah mitkriege.

Und wie gehst du dort in deiner Arbeit damit um?

Anlässlich der Premiere des Films haben wir besprochen, es meinem Arbeitgeber zu sagen. Meine Mutter rief einen Tag vor meinem Rückflug nach Deutschland beim Abteilungsleiter an. Der reagierte total lieb, nahm mich in den Arm. Aber es war klar, er musste es seinem Chef sagen. Es ging dann nach ganz oben und wurde in mehreren Konferenzschaltungen mit der Zentrale der Robinson-Clubs in Hannover besprochen. Ich konnte sogar dabei sein. Das Ergebnis war, dass der Club als Konzern sich hinter mich stellt. Das war natürlich ein tolles Gefühl!

„Der Club hat sich als Konzern hinter mich stellt“

Wir haben dann eine Art öffentliches Outing veranstaltet, Flugblätter erstellt mit der Adresse der Aidshilfe drauf, eine Info-Hotline wurde eingerichtet und ein kurzer Film gezeigt, den der Bayerische Rundfunk anlässlich der Premiere gedreht hatte. Es war schön, es war sehr emotional, nicht für mich, aber für die anderen. Viele haben geweint oder ganz erschrocken geguckt. Einige kamen auf mich zu, nahmen mich in den Arm. Das war ein richtig positives Schlüsselerlebnis: einen Arbeitgeber zu haben, der so reagiert, dir die vollste Unterstützung gibt!

Wir haben das Ganze vor kurzem nochmals mit den neu hinzugekommenen Mitarbeitern wiederholt, weil ich heute Abend auch bei „Markus Lanz“ in der Talkrunde eingeladen bin. Das lief dann total locker ab. Ich selbst bin jetzt auch lockerer. Wir haben viel gelacht, wie das halt bei Robinson-Club-Mitarbeitern so ist.

Corinne, danke für das Interview, wir wünschen dir alles Gute!

Interview: Elke Amberg

 Zum Trailer: https://youtu.be/SteExfkVVbQ

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