TheRecollectors.com [auf Deutsch etwa: Die Erinnerer_innen] sammelt Geschichten von Menschen, deren Eltern an den Folgen von Aids gestorben sind – zum Beispiel die von Aneuris (32), der seine Mutter durch Aids verloren hat.
Dieser Text erschien zuerst im HIV-Magazin hello gorgeous. Herzlichen Dank an Herausgeber Leo Schenk, Autorin Lisan Jansen Lorkeers und Fotografin Corinne de Korver für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
Die Geschichte begann vor ungefähr vierzehn Jahren in New York. Die Journalistin Whitney Joiner erwähnte damals in einem Gespräch mit Kollegen, dass ihr Vater an Aids gestorben war. „Oh“, antwortete eine ihrer Kolleginnen, „der Vater meiner Freundin ist auch daran gestorben.“ Als Joiner diese Freundin, Alysia Abbott, kurz darauf traf, stellte sich heraus, dass ihre Väter beide homosexuell gewesen und beide 1992 gestorben waren.
Scham und Geheimhaltung überdeckten oft die Trauer
Warum aber kannten sie niemanden, der das Gleiche durchgemacht hatte wie sie? Diese Frage inspirierte die beiden Frauen und führte schließlich zur Entwicklung von TheRecollectors.com, einer Storytelling-Website und Community für Hinterbliebene, deren Eltern an den Folgen von Aids gestorben sind. Jede Geschichte eines „Erinnerers“ überzeugt und rührt auf ihre ganz eigene Art, nicht zuletzt auch durch beeindruckende Familienfotos. Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung und sozialer Status sind, wie die Epidemie selbst, sehr vielfältig. Das Einzige, was allen Recollectors gemeinsam zu sein scheint, sind die Auswirkungen des Verlusts.
„Viele Wunden sind nie richtig verheilt“, sagt Abbott. „Scham und Geheimhaltung überdeckten oft die Trauer, und der Verlust wurde völlig verdrängt.“ TheRecollectors.com bietet Raum dafür, dass diese Wunden nun heilen können. Die verstorbenen Eltern werden auf eine positive Weise in das Leben der Recollectors zurückgeholt – ohne Schmerz, sondern in einer Atmosphäre der Unterstützung und Wärme. Genau das wollten Joiner und Abbott erreichen.
Aneuris hat schon in jungen Jahren seine Mutter durch die Folgen von Aids verloren. Aber obwohl dieses tragische Ereignis starke Auswirkungen auf sein Leben hatte, denkt er immer noch jeden Tag gern an sie. „Meine Mutter und ich waren zusammen, bis ich fünf wurde. Danach wuchs ich bei meinem Onkel, dem ältesten Bruder meiner Mutter, und meinen Nichten und Neffen auf. Wir lebten als traditionelle katholische Familie im bäuerlichen Puerto Plata im Norden der Dominikanischen Republik. Da mein Onkel Major beim Militär war, hatten wir finanziell keine Sorgen. Für diese unbeschwerte Jugend bin ich ihm dankbar.
Meine Mutter hat unterdessen im Rotlichtviertel von Amsterdam gearbeitet, um Geld für sich und ihre Familie zu verdienen. Natürlich habe ich sie vermisst. Ich weiß noch, dass wir auf unserer christlichen Grundschule zu jedem Muttertag einen Brief für die Mütter verfassten. Diesen Brief gab ich dann immer meiner Stiefmutter, also der Frau meines Onkels, obwohl ich genau wusste, dass sie nicht meine echte Mutter war. Das hat mich als Kind sehr geschmerzt.“
„Als ich zwölf war, bekam ich einen Brief von meiner Mutter. Sie schien krank zu sein und war mittlerweile nach Curaçao gezogen. Was ihre Krankheit anging, war sie sofort ganz offen: Es war Aids. Als ich das hörte, bekam ich Angst, große Angst. Drei Jahre später bekam mein Onkel dann einen Anruf. Meine Mutter wollte in die Dominikanische Republik kommen, um dort zu sterben. Sie zog zu meiner Oma, wo ich sie nur in den Ferien und zu Weihnachten sehen konnte.
Die Menschen wussten nichts über Aids und wollten nichts wissen
Als ich sie zum ersten Mal seit meinem fünften Lebensjahr wiedersah, sagte man mir, dass ich sie nicht küssen dürfe. Das traf mich sehr, denn trotz allem, was passiert war, wollte ich nichts lieber als meine Mutter umarmen und mit ihr schmusen.
Ich erinnere mich, dass meine Mutter sogar eine eigene Gabel und Löffel hatte, so groß war die Angst vor einer Ansteckung. Am Tag vor ihrem Tod fragte sie mich, ob ich ihr vergeben könne. ‚Ich war krank und konnte nicht für dich da sein‘, sagte sie. Doch ich fühlte nichts und konnte noch nicht einmal weinen. Auch bei der Beerdigung blieben meine Augen trocken. Why do I have to cry for her? Sie war schließlich nie für mich da gewesen. Meine Mutter starb 1998 mit nur 31 Jahren. Gleich nach ihrem Tod hat meine Familie dann heimlich ihre Kleidung verbrannt. Das zeigt, welche Angst und welche Unwissenheit damals herrschte. Die Menschen wussten nichts über Aids und wollten vor allem auch nichts darüber wissen. Es war ein Mysterium. Don’t ask, don’t tell.“
„Ich erinnere mich an meine Mutter als eine ehrliche und starke Frau. Sie war anders als die anderen. Sie setzte keine Maske auf, um die Wahrheit zu sagen. Hinsichtlich ihres Status war sie immer offen. Und auch als sie schon wusste, dass sie bald sterben würde, blieb sie ruhig und mutig. Meine Mutter hatte kurze Haare und trug immer weiße Kleidung. Ein Foto von ihr, auf dem sie deutlich zu sehen ist, habe ich leider nie gehabt, es gibt nur eines aus der Zeit, in der sie schon krank war. Aber ich trage ein unvergessliches Bild meiner Mutter aus meiner Kindheit in mir. Sie hatte ihren Walkman auf und tanzte wie ein Engel durch das Wohnzimmer. Aus ihrem Kopfhörer klang The Rhythm of the Night von DeBarge. ‚I know a place where we can dance the whole night away.‘ Meine Mutter musste einfach lachen. Wie schön sie damals war.“
„Mit 27 kam ich in die Niederlande und besuchte das Amsterdamer Rotlichtviertel. Erst dort, Jahre später, konnte ich weinen – große, dicke Tränen über den Verlust meiner Mutter. Ich spürte, dass sie da war. Kurz darauf hatte ich mein Coming-out. In dieser schwierigen Phase begann ich meine Mutter noch stärker zu vermissen. Es ist schon verrückt: Meine Mutter war in meinem Leben die meiste Zeit physisch nicht in meiner Nähe gewesen, und doch wusste ich immer, dass sie irgendwo war. Jetzt, so ganz ohne sie, fühle ich mich alleine. Die Krankheit meiner Mutter hat mich trotzdem stärker gemacht. In der Dominikanischen Republik nennen manche Aids ein Monster. Ich nicht, denn niemand muss daran sterben, wenn man sich testen und behandeln lässt.“
Ich fühle, dass meine Mutter stolz auf mich ist
Ich weiß viel über HIV. Bei der Einbürgerung wird erwartet, dass man Freiwilligenarbeit leistet. Ich ging zum Buddy-Projekt Positivo, das sich an Spanisch und Portugiesisch sprechende Migranten mit HIV richtet. Aus den schlechten Erfahrungen rund um die Krankheit meiner Mutter wollte ich auf positive Weise Kraft schöpfen. Ich wollte helfen. Angst muss aus dem Weg geräumt werden. If you live with fear, you’re lost. Ich habe gelernt, dass man kämpfen muss, um glücklich sein zu können. Ich fühle, dass meine Mutter stolz auf mich ist. Das gibt mir Leidenschaft für mein Leben und vor allem dafür, weiterzumachen. A mother loves you, no matter what.“