Es ist ein herrlicher Spätsommertag.
Das Weltrettungsteam hat heute einen kurzen Dienst und besetzt einen Krankenwagen, beides sehr angenehm bei diesem Wetter.
Früh Feierabend, relativ sichere Mittagspause, und sowohl Kaffee als auch Eis können vor einem Einsatz meistens noch eben zu Ende verzehrt werden.
Wir haben also einen ziemlich ruhigen Tag.
Unser Patient hat einen sehr aufregenden Tag, denn er zieht heute um. Von seinem bisherigen Altenheim in ein anderes, in einer anderen Stadt unseres Kreises.
Die Anfahrt zum bisherigen Altenheim gestaltet sich ein bisschen schwierig, ein kleiner Stau hält uns ein wenig auf und wir treffen eine halbe Stunde später als bestellt beim Patienten ein.
Sowas kommt vor, ist jedoch nie böse Absicht und hat auch nix damit zu tun, dass wir die Uhr noch nicht lesen könnten oder so.
Manche Menschen, für die wir nur “die Fahrer und die Träger” sind, scheinen aber genau das von uns zu denken. Zu einem richtigen Beruf hat es nicht gereicht, deswegen fahren wir Leute nach Hause und tragen sie in den vierten Stock. Oder wir machen gerade nur ein Praktikum oder ein freiwilliges soziales Jahr, bevor wir was Richtiges™ machen.
Nein, das denke ich mir nicht aus, genau das werde ich wirklich oft gefragt, wenn ich meine KTW-Woche habe.
Aber zurück zu unserem schönen Spätsommertag.
Im Altenheim angekommen, werden wir von unserem Patienten erstmal freundlich pöbelnd begrüßt, dass es ja eine Unverschämtheit wäre, erst jetzt hier aufzutauchen, man würde schon so lange auf uns warten und so weiter und so fort.
Nicht unbedingt der beste Einstieg, den man finden kann.
Mein Kollege lässt das Geschimpfe über sich ergehen, während ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen lasse.
Der halbe Raum ist mit Gepäckstücken gefüllt. Koffer, Koffer, großer Koffer, noch größerer Koffer, kleiner Koffer, drei Discountertragetaschen, Koffer, Umzugskarton, Umzugskarton, große Ikea-Tasche, Koffer, Umzugskarton, Rollkoffer, ANTIDEKUBITUSMATRATZE.
Ungelogen.
Der Patient bemerkt meinen Blick und keift im Befehlston: “Das müssen Sie alles mitnehmen”, worauf mir trocken lachend rausrutscht “Wir müssen gar nix!”
Vielleicht auch nicht unbedingt die de-eskalativste aller möglichen Reaktionen, aber mein Gott.
“Doch, das muss alles mit!”
Ich versuche, ein bisschen diplomatischer zu sein, und erkläre dem Patienten, dass ich ihm durchaus glaube, dass er diese Sachen mit in sein neues Zuhause nehmen möchte, wir aber einfach kein Umzugsunternehmen seien, im Krankenwagen auch überhaupt nicht den Platz für all das hätten, und auch gar nicht die Möglichkeit, die Gepäckstücke anständig zu sichern.
Mit der Antwort, dass das ja nicht sein Problem wäre und wir dann halt mehrfach fahren müssten, trägt der Patient unsere Geduld und Diplomatie zu Grabe.
Mein Kollege wiederholt meinen Satz, dass wir kein Umzugsunternehmen sind, und erkundigt sich nach den laut Leitstelle anwesenden Angehörigen.
“Mein Sohn ist schon vor zwanzig Minuten ins neue Altenheim gefahren, der hat hier lang genug auf Sie gewartet. Jetzt müssen Sie selber sehen, wie Sie das ganze Zeug ins Auto getragen bekommen!” Mitgenommen hat der Angehörige kein einziges Gepäckstück.
Okay, das war’s. Mein Kollege und ich sind uns sofort und ohne Redebedarf einig, dass wir den Patienten mitnehmen und sonst nichts.
Normalerweise, wenn man nett fragt, ist es überhaupt kein Problem auch mal zwei Reisetaschen oder Koffer und nen Rollator oder Rollstuhl mitzunehmen. Mit etwas Kreativität kriegen wir das schon gesichert. Für ein kleines Trinkgeld oder wenn die Patienten und Angehörigen einfach nur wirklich freundlich und sympathisch oder hilfsbedürftig sind, tragen wir den Kram dann auch gern in den dritten Stock.
Aber, nur um eins klarzustellen: Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir sind dazu da, den Patienten zu transportieren, nicht sein ganzes Gepäck. Wenn wir Gepäck mitnehmen und in die Wohnung tragen, ist das einfach nur ein freundliches Entgegenkommen von uns (und mal im Ernst, was für Unmenschen müssten wir sein, den Rollstuhl oder Rollator des Patienten stehenzulassen?).
Freundliche Entgegenkommen haben eine Besonderheit, man kann sie nicht einfordern oder anderen befehlen, freundlich entgegenkommend zu sein.
Begeistert ist unser Patient davon nun verständlicherweise nicht, aber wie es in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus.
Während der recht langen Fahrt wechselt der Patient nach einem Drittel der Zeit das Thema, und schimpft nicht mehr über unsere Unpünktlichkeit und darüber, dass wir das Gepäck nicht mitgenommen haben, sondern darüber, wie scheiße und ungerecht das Leben doch ist, dass das schöne Wetter und der strahlend blaue Himmel eine Unverschämtheit wären, weil das Leben ihn so verhöhnen würde, und so weiter. Wie er das schlimmste Schicksal aller Menschen hat, und was ihm in seinem Leben so alles zugestoßen ist.
Normalerweise höre ich zu, wenn mir Patienten ihre (manchmal echt heftige) Lebensgeschichte erzählen, nicke, antworte, was man in solchen Situationen halt antworten kann. Bei ihm ging mir dieses Gesuhle im Selbstmitleid so sehr auf die Nerven, dass mir die Worte fehlen um es zu beschreiben. Ein Mensch, der von allen Seiten Hilfe erhält, diese anpöbelt (haben wir auch bei den Altenpflegern gesehen) und dann der Meinung ist, dass das Leben ihn (und nur ihn!) ungerecht behandelt und alle anderen Menschen ein schöneres Leben haben.
Ich vergleiche normalerweise keine Schicksale, wir alle haben unser Päckchen zu tragen, und was für einen Menschen ein schwerer Schlag ist, steckt jemand anderes locker weg und umgekehrt.
Aber das war recht kurz nach dem Einsatz, der den Hashtag #TeamAsozialesPack auf Twitter nach sich gezogen hat.
Für alle, die nicht “dabei” waren: Ein sehr kleines Kind wurde vom eigenen Vater fast totgeprügelt und es war fraglich, ob der kleine Mensch die ganze Sache überhaupt überlebt. (Inzwischen weiß ich: ja, das Kind lebt. Ob es allerdings bleibende Schäden davongetragen hat, weiß ich nicht.)
Nach weiteren zwanzig Minuten Selbstmitleidsgesuhle fragt der Patient mich, ob ich das Leben schön und lebenswert finde, und ob ich mit meinem Schicksal zufrieden bin. Ich bejahe – natürlich gibt es immer mal wieder nicht so schöne Phasen oder Momente, in denen ich alles hasse und mich ungerecht behandelt fühle, aber grundsätzlich ist mir bewusst, wie privilegiert ich bin und was für ein unfassbares Glück ich habe, hier und heute leben zu dürfen, mit einem Dach über dem Kopf, einem richtigen Bett und einem relativ vollen Kühlschrank.
Der Patient wird unangenehm persönlich und sagt mir, dass ich nur abwarten soll, irgendwann trifft mich auch ein richtiger Schicksalsschlag und dann werde ich bereuen, dass ich jemals glücklich war. WTF.
Ich erzähle dem Patienten, ohne Namen und Details zu nennen natürlich, dass ich vor nicht allzu langer Zeit ein wenige Monate altes Kind ins Krankenhaus gebracht habe, das jetzt noch auf der Intensivstation ums Überleben kämpft. Dass es solche Einsätze und Erlebnisse sind, die mich immer wieder erden und mir bewusst machen, wie vergänglich alles ist, und dass das Leben für manche Menschen schon aufhört, bevor es richtig angefangen hat. Und dass ich mir dennoch nicht das Recht nehmen lasse, glücklich zu sein.
“Hoffentlich stirbt das Kind, dann bleibt ihm das ungerechte Leben erspart.”
Diese Antwort hinterlässt mich sprachlos.
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