Ohne all zu direkt berichten, möchte ich heute einige Gedanken teilen. Auf eure Ergänzungen und Kommentare bin ich gespannt. (Vorweg sei gesagt: Ich erhebe keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Sondern bin gerade etwas nachdenklich gestimmt und würde gern hören, was euch zu dem Thema noch einfällt. Die Liste bzw. Reihenfolge der Punkte stellt keine Rangordnung dar.)
Ein guter Chirurg
- Ein guter Chirurg arbeitet steril. Ihm ist bewusst, dass Schludrigkeit beim Waschen, Ankleiden oder der Handhabung des OP-Bestecks seine ganze Arbeit wieder kaputt machen könnte. Deshalb ist er streng mit allen ‚Gästen‘, die im OP sind: in erster Linie Studenten und Assistenzärzten. Manchmal auch Vertretern von Medizingeräten oder OP-Besteck. Als wirklich sterilen Bereich sieht er nur seine Vorderseite vom Bauchnabel bis zum Kragen an sowie seine Hände. Er weiß, dass es leicht passieren kann, dass er mit den Oberschenkeln einen unabgedeckten Teil des abgedeckten Tisches berührt oder mit seiner Rückseite ein nicht steriles Gerät streift. Deshalb lässt er es gar nicht erst darauf ankommen. Und wenn er beim Anziehen unsicher ist, ob sein Ärmel vielleicht den Studenten gestreift hat, der sich noch etwas unbedarft im OP bewegt, kleidet er sich ohne zu Murren noch einmal an. Sparsamkeit am falschen Ende ist hier nicht angemessen, eine Infektion wäre viel zu ernst. (Und im Endeffekt auch um Längen kostspieliger.)
- Ein guter Chirurg arbeitet sauber. Und ordentlich. Das bezieht sich einerseits auf die Ordnung seines Arbeitsfeldes: Das Waschen und Desinfizieren erfolgt großzügig und gründlich. ‚Klotzen, nicht kleckern.‘ Das Abkleben aller Partien des Patienten, die nicht gebraucht werden, erfolgt überlegt. (Im Wesentlichen wird im OP immer nur ein kleiner Körperteil des Patienten frei gelassen, alles andere ist versteckt unter sterilen Tüchern.) Für den Fall X, in dem die OP-Strategie geändert werden muss, ist vorgesorgt: Körperpartien, die dann möglicherweise noch gebraucht werden könnten, sind desinfiziert und zugänglich. Das OP-Besteck wählt der gute Chirurg sorgfältig aus und legt es in der erforderlichen Reihenfolge zurecht. Sein Assistent hat auf diese Ordnung auch während des Eingriffs weiterhin zu achten. Kabel und Schläuche, die herunterrutschen könnten, sind festgeklemmt. Oder der gute Chirurg hat sich Laschen und kleine Tunnel gebaut, die sie am Platz halten. Er ist kreativ und weiß sich mit einfachen und praktischen Mitteln zu helfen.
- Ein guter Chirurg behält den Überblick. Er kennt seinen Patienten und weiß, um was für einen Eingriff es sich handelt. Ihm ist klar, welcher Handgriff auf den nächsten folgt. Und er orientiert sich während der OP genauestens an der Anatomie: Er erkennt, welche Nerven und Gefäße, welche Sehnen und Muskeln er vor sich hat. (Oder fast noch wichtiger: Was sich hinter dem jeweiligen Gewebe, das er gerade sieht, verbirgt.) Auf welche Strukturen er besonders acht geben muss, weil sie verletzlich sind. (Auch sein Material kennt er: Zum Beispiel, in welches kleine Gefäß er sich von der OP-Assistenz das Lokalanästhetikum hat füllen lassen und in welches den Gerinnungshemmer Heparin. Eine Verwechslung ist so gut wie unmöglich.)
- Ein guter Chirurg behält die Ruhe. Unter einer OP kommt es vor, dass es zu Blutungen kommt und schnell gehen muss. Dass ein Eingriff sich als schwieriger herausstellt, als initial eingeschätzt und sich die benötigte Struktur – zum Beispiel eine bestimmte Vene – nicht auffinden lässt. Oder dass ein zu entfernender Tumor deutlich mehr Strukturen befallen hat als erwartet und Verwachsungen entstanden sind. Der gute Chirurg schafft es auch in solchen Situationen, besonnen zu bleiben und ruhig und taktisch klug vorzugehen.
- Ein guter Chirurg hat eine ruhige Hand. Punkt.
- Ein guter Chirurg versteht es, zu kommunizieren. Er nimmt dem Patienten mögliche Ängste vor der OP, erklärt so viel wie nötig. (Fast würde ich sagen: so wenig wie möglich. Denn zu viele Details können einigen Patienten eher mehr Angst machen, als sie beruhigen.) Er geht einfühlsam auf seinen Patienten ein und holt sie da ab, wo sie stehen. Im OP macht er klare Ansagen an sein Team: Sein Assistent weiß genauestens, was von ihm erwartet wird. Auch die operationstechnischen Assistenten verstehen die Ansagen des Chirurgen. Und die Anästhesisten wissen, wann eine Bemerkung an sie gerichtet ist. Und übrigens: Zu Kommunikation gehört Körpersprache, Augenkontakt, echte Aufmerksamkeit. Das Ansprechen bei Namen.
- Ein guter Chirurg kennt seine Grenzen. Für einen Assistenzarzt, der das erste Mal ohne Aufsicht operiert, ist das nicht ganz einfach. Er steht vor einer Bredouille: Wenn er seinen Chef beim leisesten Zweifel sofort zu Hilfe ruft, wird er es selbst wohl nie lernen. Wenn er ihn aber zu spät ruft, gibt es Ärger und im schlimmsten Fall deutliche Nachteile für den Patienten. Ein bisschen was muss man sich zutrauen, ein überzogenes Selbstbewusstsein ist nicht angebracht. Ein guter Chirurg entscheidet richtig und holt sich Unterstützung, wenn er sie braucht. Der Assistent seinen Oberarzt. Und der Facharzt einen Kollegen. Oberstes Gebot: Das Patientenwohl.
- Ein guter Chirurg hat Geduld. Das heißt nicht, dass er nicht schnell und effizient arbeitet. Sondern dass er nicht ungeduldig und nervös wird und dadurch ruppig oder unsauber arbeitet. Selbst wenn es mal etwas schwierig wird. (Siehe Punkt 5. ruhige Hände.)
- Ein guter Chirurg respektiert seinen Patienten. Bei einer Operation mit lokaler Betäubung bedeutet das: Er steht zu seinem Wort und spritzt Lokalanästhetikum nach, sobald der Patient Schmerzen anmeldet. Und nicht erst nachdem dieser das dritte Mal danach fragt.
- Ein guter Chirurg operiert nur dann, wenn der Eingriff nach aktuellen Leitlinien die beste Therapieoption für seinen Patienten darstellt.
- Ein guter Chirurg gibt auf sich selbst acht. Er ist körperlich dazu in der Lage, sich stundenlang aufrecht zu halten, ohne sich abzustützen und sorgt für seinen eigenen Kreislauf vor. (Zum Beispiel in Form eines ordentlichen Frühstücks und Stützstrümpfen. Und ausreichend Schlaf.)
Ich habe vor kurzem einen Assistenten bei einer OP beobachtet, für den es noch ein langer Weg sein wird, bis aus ihm ein guter Chirurg wird. Und das ist nicht meine persönliche Einschätzung, sondern die seiner Oberärztin. Und zwar als diese – als sie dann endlich dazugerufen wurde, nach einer Stunde OP – versucht hat, zu retten, was zu retten war. Dabei ist sie fast verzweifelt und hat in beachtenswerter Weise gleichzeitig die Patientin beruhigt (Lokalanästhesie) und im Flüsterton ihren Assistenten ihren Ärger spüren lassen. Deutlich.
Für die Patientin war es nicht gut, dass der Assistent schon allein hat operieren dürfen. Die Verantwortung hierzu liegt bei seinen Oberärzten. Warum diese seine Fähigkeiten so falsch eingeschätzt haben und ihn unbeaufsichtigt operieren lassen, weiß ich nicht. Vielleicht werde ich es noch herausfinden.
Die Chirurgen, denen ich bisher über die Schultern habe schauen dürfen, sind in meinem Ansehen noch einmal deutlich gestiegen. Wenn man einem Könner bei seinem Handwerk zusieht, erscheint dies einfach. Nachdem ich jemanden gesehen habe, der noch deutlich weniger davon versteht, ist mir umso deutlich geworden, wie routiniert und gut seine Kollegen dagegen gearbeitet haben. Und was für Anforderungen es doch an einen guten Chirurgen gibt. Und vor allem: Wie viel Kraft, Zeit und Energie dieser Beruf kostet.