Ausprobieren wäre so einfach: die gesamte Zunge kann die grundlegenden Grundgeschmacksrichtungen wahrnehmen. Weshalb sich trotzdem ein Mythos verbreiten konnte, nach dem nur eng begrenzte Bereiche auf der Zunge für süß, salzig, bitter und sauer zuständig sind, ist mir ein Rätsel.
Ich bin mir sicher, in meinen Schulbüchern stand es noch so. Und auch dieser Tiptoi-Spielzeugstift von Ravensburger erzählt das meinem Kind, auf Wunsch auch wiederholt. Die Zunge soll angeblich über „Geschmackszonen“ verfügen, in denen sie für die unterschiedlichen Geschmacksrichtungen empfindlich ist. Über die Google-Bildersuche lassen sich zahlreiche Beispiele für die Zungenkarte finden – häufig, um den Mythos zu veranschaulichen und zu entkräften. Diese „Zungenkarte“ ist nämlich längst überholt und totaler Quatsch. Schlimmer noch: sie war noch nie richtig.
Verfolgt man die Sache zu ihren Ursprüngen, erfährt man Erstaunliches. Sie geht paradoxerweise auf eine Arbeit zurück, die genau das Gegenteil schlussfolgerte. Der Physiologe David Pauli Hänig beschrieb in einer 1901 publizierten und im Übrigen recht unterhaltsam geschriebenen Arbeit „Psychophysik des Geschmackssinnes“ (PDF), dass wir an unserer gesamten Zungenoberseite süß, salzig, sauer und bitter wahrnehmen können.
Hänig pinselte Institutskollegen unterschiedlich konzentrierte Lösungen von Zucker, Kochsalz, Salzsäure und Chinin auf einzelne Zungenbereiche und notierte sich den Konzentrationswert, an dem die Lösungen gerade eben schmeckbar waren. Schmeckbar waren sie laut seiner Tabellen überall im geschmacksempfindlichen Bereich. Für seine Experimente mit Zuckerlösung notierte er: „Süß wird in allen Punkten der Zungengeschmackszone empfunden, aber in abgestufter Intensität“. Die Schwellenwerte für geringste, gerade noch schmeckbare Konzentrationen waren etwas ungleich verteilt. In manchen Regionen konnten die Versuchspersonen die Substanz also bereits etwas geringer konzentrierte Lösungen schmecken, waren also empfindlicher. Seine Ergebnisse fasste er so zusammen:
„1. Die specifischen Endapparate des Geschmackssinnes beschränken sich beim Erwachsenen auf den Zungenrand. 2. Ihre Dichtigkeit ist an der Peripherie der Schmeckfläche am größten. 3. nach ihrer functionellen Differenzierung vertheilen sich die peripheren physiolgischen Substrate so auf der Zungenoberfläche, dass die süßempfindlichen Elemente besonders gehäuft an der Zungenspitze, die sauerpercipierenden an der Mitte der Ränder und die für Bitter adaptirten im Bezirke der Pap. vall. auftreten.“
Er spricht lediglich von einer Häufung der geschmacksempfindlichen Elemente in bestimmten Regionen. Die Tabellenwerte veranschaulichte er in einer standardisierten Zungenkarte: Die Punktedichte stellte hier die unterschiedlichen Schwellenwerte dar. Aus den Tabellenwerten ergibt sich, dass sich Schwerpunktregionen mit etwas niedrigeren Schwellenwerten ausmachen lassen. In diesen Schwerpunktregionen hat Hänig die Punkte ein wenig dichter gezeichnet.
Hänig stellte ganz klar dar, dass zumindest am Zungenrand jede der getesteten Geschmacksrichtungen fast in gleichem Maße wahrnehmbar war. Die Zeichnungen mit ihren feinen Abstufungen steht also in krassem Widerspruch zur altbekannten Zungenkarte – in Hänigs gepunkteten Zungen findet sich keine Spur von eng umgrenzten Geschmacks-Bereichen. Wie die alte, korrekte Darstellung zu der jüngeren, falschen, mutieren konnte, ist mir allerdings immer noch unklar.
Eine Erklärung, die mir an vielen Stellen begegnete: Den ersten Schritt zur Fehlinterpretation dieser Daten beging wohl der der Psychologe Edwin G. Boring, der sich gut 40 Jahre später an einer Übersetzung von Hänigs Werk versuchte und dabei auch neue Diagramme erstellte.
Borings Diagramm ist keine Zungenkarte, sondern eine stark reduzierte Darstellung von Hänigs Daten. Der Teufel liegt im Detail, denn die Einheiten auf der vertikalen Achse sind nun andere: Nicht Schwellenwerte, sondern Empfindlichkeiten („sensitivity“) sind dort abgebildet. Hänig bemerkte, dass sich die Empfindlichkeiten für unterschiedliche Geschmacksrichtungen untereinander kaum vergleichen ließen, trotzdem hat Boring sie miteinander verrechnet und in ein gemeinsames Diagramm gepackt.
Die Psychologin Linda Bartoshuk überlegte kürzlich in einem Interview, wie es dazu kommen konnte:
„Boring transformierte [Hänigs] Daten – ich nehme an, dass er Probleme bei der Interpretation der Einheiten hatte – also vermied er sie ganz, indem er die Kehrwerte der Schwellenwerte berechnete, sie „Empfindlichkeit“ nannte und als Verhältnisse der maximalen Empfindlichkeit angab. Aber wie man an Borings Abbildung Nummer 76 erkennt, geht dabei die Größe der originalen Werte völlig verloren. Anhand der Abbildung sieht es so aus, als wenn die Empfindlichkeit für bitter an der Zungenbasis maximal wäre, und an der Spitze quasi Null.“
Boring ließ also die Information über den dynamischen Bereich unter den Tisch fallen. Inwiefern diese normalisierte Abbildung weiter vereinfacht wurde, lässt sich im Einzelnen für mich nicht mehr nachvollziehen. Jedenfalls fand sie schnell ihren Weg in Lehrbücher, unsere Köpfe und sogar in Spielzeug, mit meine Kinder eigentlich etwas lernen sollten. Dabei ist es ganz einfach, die Zungenkarte zu widerlegen: einfach mal ausprobieren und selbst feststellen, dass man nicht nur an der Zungenspitze „süß“ schmeckt.