Gestern morgen warf ich mit etwas Herzklopfen das iPod an: Denn zum ersten Mal ging eine Radiosendung in den Stream, zu der ich nicht nur Interview- oder Textbeiträge geliefert hatte. Vielmehr hatte ich auf Einladung der ermutigenden Silvia Becker von der katholischen Hörfunkarbeit beim Deutschlandfunk erstmals als Autor ein eigenes Stück produziert – und den Text im Tonstudio komplett mit Regie, Technikerin und einem Schauspieler als Stimme Darwins aufgenommen. Dieser Rollenwechsel war eine intensive und gute Erfahrung!
Wenn Sie das Ergebnis interessiert, können Sie es in der ARDmediathek zum Hören (als mp3) bis Anfang Febuar 2017 abrufen oder untenstehend lesen.
Evolution und Religion – Charles Darwin als Theologe
Blume:
Der Vortragssaal der Universität Tübingen war randvoll mit Biologinnen und Biologen aus europäischen Ländern von Island bis Israel. Die European Society for Evolutionary Biology (ESEB) hatte ihre Jahrestagung 2011 in Baden-Württemberg ausgerichtet und eine Idee der Organisatoren war es gewesen, eine Vorlesung zum Thema „Die Evolution der Religion“ anzubieten. Wir wussten nicht, ob überhaupt jemand kommen würde.
Doch sie kamen und kamen. Mein Herz pochte, als ich zum Rednerpult ging. Oft und gerne hatte ich als Religionswissenschaftler vor Kolleginnen und Kollegen der Biologie gesprochen; doch diesmal war vieles anders und alles auf Englisch.
Ich eröffnete meinen Vortrag mit der Ankündigung, dass ich ihnen zur „Evolution der Religion“ die Überlegungen eines Theologen vorstellen würde. Skepsis und Entsetzen machte sich auf den Gesichtern breit; die meisten Biologinnen und Biologen haben von Religionsgelehrten selten Gutes gehört. Doch dann ließ ich hinter mir das Bild des Gelehrten aufscheinen – und die Zurückhaltung, die im Raum quasi physisch zu spüren war, ging in Überraschung und schließlich Gelächter über. Denn hinter und über mir schaute niemand Geringeres in den Saal als der Begründer der Evolutionsbiologie selbst: Charles Darwin!
Ja, es ist wahr. In den meisten Kurzbiografien wird Charles Darwin als „Naturforscher“ vorgestellt. Und bis heute treffe ich auf großes Erstaunen, wenn ich darauf aufmerksam mache, dass der bedeutendste Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts einen einzigen Studienabschluss erworben hatte – den eines Bachelors in christlich-anglikanischer Theologie! Darwin schnitt als zehntbester seines Jahrgangs in Cambridge ab und wäre beinahe Landpfarrer geworden. Doch er erbte von seinem Vater ein beträchtliches Vermögen. Und auch Darwins Ehefrau Emma brachte nicht nur ihren christlichen Glauben, sondern auch ein eigenes Vermögen in den Haushalt ein. So kam es, dass Darwin sein Leben lang als wohlhabender „Privatier“ und Familienvater, als Buchautor und als „Citizen Scientist“ – als ehrenamtlicher Bürgerwissenschaftler – wirken konnte. Im damals sehr interdisziplinären Theologiestudium hatte er die Fähigkeiten erworben, die es ihm ermöglichten, die bedeutendste wissenschaftliche Theorie zur Geschichte des Lebens zu entdecken.
Aber war Darwin denn nicht ein Gegner der Religion, wie sowohl religiöse Fundamentalisten als auch atheistische Religionskritiker immer wieder behaupten?
Oh nein, ganz und gar nicht. Noch in hohem Alter von 70 Jahren, drei Jahre vor seinem Tod, schrieb Darwin einem fragenden Studenten:
Darwin:
„Es scheint mir absurd zu bezweifeln, dass ein Mensch ein entschiedener Theist und ein Evolutionär sein kann. […] In meinen extremsten Schwankungen bin ich nie ein Atheist in dem Sinne gewesen, dass ich die Existenz Gottes geleugnet hätte.“
Blume:
Tatsächlich hatten Darwins spätere Zweifel am christlichen Glauben am wenigsten mit seinen wissenschaftlichen Entdeckungen zu tun. Allerdings konnte er nicht glauben, dass sein Vater und viele seiner nichtreligiösen, aber gutherzigen Freunde in die Hölle wandern würden, wie es die meisten Prediger damals noch lehrten. Und er rang mit der Theodizee-Frage – der Frage, wie ein guter Gott so viel Leid auf der Welt geschehen lassen konnte. Tagebuchaufzeichnungen belegen, dass ihn vor allem die lange Krankheit und der qualvolle Tod seiner Tochter Annie schwer bedrückten. Nach ihrer Beerdigung begleitete er seine Familie noch zum sonntäglichen Kirchgang, nahm aber selbst nie wieder an einem Gottesdienst teil.
Dem christlichen Kollegen und Freund Asa Gray schrieb Darwin:
Darwin:
„Im Hinblick auf die theologische Sicht der Frage; dies ist mir immer schmerzhaft. – Ich bin verunsichert. – Ich hatte nicht die Absicht, atheistisch zu schreiben. Aber ich räume ein, dass ich nicht sehen kann, nicht so klar, wie andere es tun und wie ich es wünschen sollte zu tun, dass es Beweise für Design und Güte auf allen Seiten um uns gebe. Es scheint mir zu viel Elend in der Welt zu geben. […] Auf der anderen Seite kann ich in keiner Weise zufrieden sein, dieses wundervolle Universum und vor allem die Natur des Menschen zu betrachten und zu schließen, dass alles nur Resultat roher Kraft sein würde. Ich tendiere dazu, alles als aus designten Gesetzen resultierend zu betrachten, deren Details, ob gut oder schlecht, dem zur Ausarbeitung überlassen wurde, was wir Zufall nennen. Nicht dass diese Haltung mich vollständig befriedigen würde. Ich empfinde sehr stark, dass dieses ganze Thema zu schwierig für den menschlichen Intellekt ist. Ein Hund könnte ebenso über den Geist Newtons spekulieren. – Lasst jeden Menschen hoffen und glauben, was er kann.“
Blume:
Schließlich erkannte Darwin: Wenn sich der Mensch tatsächlich in seiner Evolutionsgeschichte zu den heutigen Formen entwickelt hatte – dann musste auch die Religion selbst darin entstanden sein! Evolution und Religion waren also nicht nur keine Widersprüche; die Evolution selbst hatte auch den Glauben an höhere Wesen und schließlich an Gott hervorgebracht!
Entsprechend nahm Darwin in sein zweites Hauptwerk – „Die Abstammung des Menschen“ von 1871 – ein eigenes Unterkapitel und mehrere weitere Thesen zur Evolution des Gottesglaubens auf. Er setzte sich dabei mit den Thesen bekannter Theologen, Völkerkundler und Religionswissenschaftler auseinander und entwarf eine Annahme, die sich inzwischen in Grundzügen bestätigt hat!
Demnach sei der Glaube an „unsichtbare und spirituelle Wesenheiten“ aus den normalen sozialen Wahrnehmungen der Menschen entstanden, die damit auch ihre Lebens- und Traumwelt ausdeuteten. Über den Glauben an Geister und Ahnen sei es schließlich zum Glauben an viele Gottheiten und schließlich zur „höchsten Form“ der Religion gekommen: dem Glauben an einen einzigen, guten und gerechten Gott!
Darwin:
„Allem Anscheine nach ist es eine richtigere und wohltuendere Ansicht, dass Fortschritt viel allgemeiner gewesen ist als Rückschritt, dass der Mensch, wenn auch mit langsamen und unterbrochenen Schritten, sich von einem niedrigeren Zustande zu dem höchsten jetzt in Kenntnissen, Moral und Religion erhoben hat. […]Viele jetzt noch existierende, abergläubische Züge sind Überbleibsel früherer falscher religiöser Ansichten. Die höchste Form der Religion – die großartige Idee eines Gottes, welcher die Sünde hasst und die Gerechtigkeit liebt – war während der Urzeiten unbekannt.“
Blume:
Darwin ging davon aus, dass ein gemeinsamer Glaube an kulturell bestimmte höhere Wesen schon unsere Vorfahren dazu motiviert hatte, sich zu engeren Gemeinschaften zusammenzuschließen und gemeinsame Regeln zu beachten.
Im Gegensatz zu anderen behauptete er dabei nie, dass Moral erst durch Religion möglich werde – moralische Gefühle wie Liebe, Fairness und Mitgefühl hätten sich schließlich bei allen höheren Säugetieren entwickelt und seien daher auch bei allen Menschen anzutreffen. Allerdings könnten Religionen diese allgemeine Moral kulturell aufgreifen und sowohl zu „schrecklichem Aberglauben“ oder auch zu höchster Vollendung führen.
Alle Zitate aus: „Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin als Theologe“ (Herder 2013)
Darwin:
„Gutes zu tun in Erwiderung für Böses, den Feind zu lieben, ist eine Höhe der Moralität, von der wohl bezweifelt werden dürfte, ob die sozialen Instinkte für sich selbst uns dahin gebracht haben würden. Notwendigerweise mussten diese Instinkte, in Verbindung mit Sympathie, hoch kultiviert und mit Hilfe des Verstandes, des Unterrichts, der Liebe oder Furcht Gottes erweitert werden, ehe eine solche goldene Regel je hätte erdacht und befolgt werden können.“
Blume:
Daher plädierte Darwin auch nicht dafür, Religion einfach „gut“ oder „schlecht“ zu finden, sondern er erkannte sie als einen Teil der Evolutions-, Natur- und Kulturgeschichte des Menschen. Sie prägte unsere Vergangenheit, unser Werden mit und würde auch in Zukunft eine Rolle spielen.
So beeindruckend und vorausweisend Darwins Theorien zur Evolution von Religion auch waren, so hatte der Gelehrte aus heutiger Sicht jedoch zwei wichtige Faktoren übersehen.
So erkundete er nicht, wie die Menschen sich den „gemeinsamen Glauben“ an die höheren Wesen denn gegenseitig glaubwürdig bezeugen könnten. Heute wissen wir, dass genau dafür so genannte „Credibility enhancing displays“ – Glaubwürdigkeit steigernde Signale – da sind; beispielsweise regelmäßige Gemeinschaftsgottesdienste und -rituale, Opfer sowie religiöse Kleidungs-, Verhaltens- und Speisegebote. Wer sich bereit zeigt, für seinen Glauben Kosten und Mühen, vielleicht gar Leiden oder den Tod auf sich zu nehmen, der signalisiert damit auch die Ernsthaftigkeit seines Glaubens und festigt die Gemeinschaft.
Und diese religiösen Gemeinschaften werden, zweitens, wesentlich auch von Frauen getragen. Erfolgreiche Religionsgemeinschaften zeichnen sich bis heute dadurch aus, dass sie das Leben und die Familie fördern, zum Beispiel durch Ehe- und Familienregeln, den Betrieb von Schulen, Kindergärten, Stiftungen und Krankenhäusern. Entsprechend haben Frömmere quer durch die Weltreligionen auch durchschnittlich mehr Kinder und Enkel – der Goldstandard der Evolution.
In einigen Traditionen – etwa dem katholischen Christentum oder dem Buddhismus – ist es sogar üblich, dass Einzelne aus religiöser Berufung auf eine eigene Familie verzichten, um sich ganz in den lebensförderlichen Dienst der Gemeinschaft zu stellen: etwa durch Streitschlichtung und Heilung, durch Predigt und nicht zuletzt durch Bildung und Betreuung. Von Gewalt sollen sich solche Priester, Mönche und Nonnen eigentlich fernhalten und häufig werden sie respektvoll mit Familienbezeichnungen wie Vater, Mutter oder Schwester angesprochen. Dass Papst – italienisch: Papa! – Franziskus gerade eine eigene Lehrschrift zur Bedeutung der Liebe in Familien veröffentlicht hat, ist daher gut verständlich!
Diesen Aspekt sah Darwin nicht. Er war ein Mann seiner Zeit und ging davon aus, dass die Männer in stetigem, unbarmherzigem Überlebenskampf miteinander stünden und auch der Erfolg von Religionen vor allem darin zu suchen wäre, die stärkeren Kampfgruppen hervorgebracht zu haben. Kinder bekämen die Sieger dann schon von selbst.
Doch schon zu Darwins Lebzeiten gab es eine Frau und Evolutionsforscherin, die ihm mit sehr guten Argumenten widersprach! Die 1825 geborene Antoinette Brown Blackwell (1825 – 1921) hatte sich als eine der ersten US-Amerikanerinnen überhaupt ein Theologiestudium erkämpft und wurde schließlich zur ersten Gemeindepastorin der Vereinigten Staaten. Sie führte außerdem eine glückliche Ehe und wurde sechsfache Mutter, engagierte sich für das Frauenwahlrecht, die Befreiung der Sklaven – und für die Wissenschaften.
Entsprechend war auch sie von der Evolutionstheorie begeistert – aber entsetzt, als sie sah, wie Frauen darin dargestellt wurden. Daher schrieb sie ein eigenes Buch „The Sexes throughout Nature – Die Geschlechter quer durch die Natur“. In diesem Buch wies sie darauf hin, dass Darwin und seine männlichen Kollegen übersahen, dass Evolution nur im Miteinander der Geschlechter funktioniere. So werde der Aufwand für das Aufziehen von Kindern zwischen den Eltern und anderen Personen ganz unterschiedlich verteilt, aber eben immer verteilt. Ohne die Berücksichtigung dieser Dienste am Leben könne die Evolution gar nicht verstanden werden! Brown-Blackwell schickte ein Exemplar ihres Buches an Darwin, der ihr zwar mit wenigen Sätzen dankte, es jedoch leider nie aufgriff und wohl nicht einmal las.
Heute wissen wir, dass Darwins Evolutionsforschung auch zur Religion noch besser geworden wäre, wenn auch damals schon die Stimmen der Frauen gehört worden wäre und er das Miteinander der Geschlechter stärker in den Blick genommen hätte. Es ist eben kein Zufall, das Gottes allererstes Worte an den Menschen, nach jüdischer Zählung auch sein erstes Gebot, lautet: „Seid fruchtbar und mehret euch!“
Pflanzen und Tiere brauchen eine solche Aufforderung nicht, ihr Fortpflanzungsverhalten ist biologisch festgeschrieben. Doch unsere Vorfahren überschritten, als sie Menschen wurden, diese Festlegungen – und sie fragen seitdem, wofür sie eigentlich leben, wofür sie sich binden und wofür sie auch noch mühsam Leben schenken sollen.
Die Wissenschaft kennt viele religiöse Traditionen, die über Jahrhunderte hinweg kinderreich und lebendig geblieben sind. Wo immer sich jedoch der religiöse Glauben auflöste, lockerten sich auch die Gemeinschafts- und Familienstrukturen und sank die Kinderzahl bis unter die so genannte „Bestandserhaltungsgrenze“ ab. Der britische Oberrabbiner Jonathan Sacks schrieb gerade auch mit Blick auf die Evolutionsforschung dazu, Religionen stifteten den Generationen übergreifenden „Willen zum Leben“.
Charles Darwin hatte also Recht: Für religiöse Menschen gibt es keinen Grund, sich vor den Erkenntnissen der Wissenschaft und insbesondere der Evolutionsforschung zu fürchten. Religion ist ebenso wie Sprache und Musik ein Teil unserer menschlichen Natur, die wir durch Kultur lebensförderlich, aber leider auch lebensfeindlich ausgestalten können. In jedem Falle aber gilt: Die Evolution selbst hat die Religion, den Glauben an höhere Wesen und schließlich an Gott hervorgebracht.
Schluss…
…hier mit einem Video aus der Wissenssendung Quarks & Co. zum Thema Evolution und Religion: