Die Notfallversorgung in Deutschland braucht eine bundesweit einheitliche Struktur mit einer festgelegten und vor allem verlässlichen Kooperation zwischen ambulant und stationär. So das Resümee der Diskussionsteilnehmer der 16. Plattform Gesundheit des IKK e.V., die gestern stattfand. Vor mehr als 130 Teilnehmern diskutierten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Gesundheitswirtschaft unter der Überschrift „Notfall Notversorgung! Von Steuerungs- und Strukturdefiziten“ in der Berliner Kalkscheune.
„Ein Umerziehen der Patienten hin zu den bestehenden Strukturen ist aussichtslos, vielmehr müssen sich die Strukturen den geänderten Realitäten anpassen“, betonte die Berliner Senatorin für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, Dilek Kolat. In Berlin ist die Notfallversorgung nach Aussage der Senatorin „sehr gut, innovativ und stresserprobt“. Gleichwohl gebe es noch Verbesserungspotenziale. 39 Notfallambulanzen habe die Hauptstadt, alle gut aufgestellt, je-doch „rund um die Uhr voll“. Jährlich würden die Fallzahlen in den Berliner Rettungsstellen um fünf Prozent steigen. Das entspricht auch der bundesweiten Entwicklung, sagte die Senatorin.
Als Gründe für die ansteigenden Patientenzahlen nannte die SPD-Politikerin u.a. Unkenntnis über die ambulanten Strukturen. 70 Prozent der 1,2 Millionen Notfälle, die in den Berliner Rettungsstellen 2012 behandelt wurden, seien ambulant betreut worden. 40 Prozent dieser Patienten kamen während der herkömmlichen Praxiszeiten. Wie dieses Problem abgestellt wer-den könne, dafür habe die Gesundheitssenatorin „keine Lösung“.
Für eine bessere Versorgung der Patienten in den Kliniken habe Berlin jetzt Qualitätsvorgaben erstellt. Danach müssen die Notaufnahmen als eine eigenständige strukturelle und bauliche Einheit vorgehalten werden. Ärzte, die dauerhaft in der Notaufnahme tätig sind, sollen eine Zusatzqualifikation erwerben, ebenso die in der Notfallpflege Tätigen. Die zurzeit zwölf Portal-praxen, die an den Krankenhäusern angesiedelt sind, sollen für Entlastung der Notaufnahmen sorgen. Kolat berichtete, dass länderübergreifend derzeit an Lösungen gearbeitet wird, um die Versorgungsqualität zu verbessern. Berlin habe die Federführung bei dieser Arbeitsgruppe übernommen.
Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V., wies darauf hin, dass die Versicherten mit den Füßen abstimmen würden: 20 bis 25 Millionen Menschen werden jährlich in den Notaufnahmen der Kliniken betreut. Rund elf Millionen davon lediglich ambulant. Er forderte die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) auf, ihrem Sicherstellungsauftrag nachzukommen. „Die Strukturen müssen dem gesetzlich verankerten Grundsatz ´ambulant vor stationär` Rechnung tragen“, so der Vorstandsvorsitzende. Mit dem Ärztlichen Bereitschaftsdienst, der von den niedergelassenen Ärzten organisiert werde, gelinge dies offenbar nicht. Müller berichtete, dass unbekannt sei, wie der Bereitschaftsdienst erreicht werde. Die bundesweite Nummer 116117 würden nach einer Umfrage der KBV 2016 weniger als die Hälfte der Patienten kennen. Müller: „Hier besteht noch Potenzial für Kommunikationsmaßnahmen.“ Der Vorstandsvorsitzende sprach sich für die von der Politik verordneten Portalpraxen aus. Kein Patient dürfe abgewiesen werden.
Als „Kampf im ambulant-stationären Grenzbereich“ beschrieb Dr. Wulf-Dietrich Leber, Leiter der Abteilung Krankenhäuser des GKV-Spitzenverbandes, die derzeitige Situation. Der Patient wisse nicht, wohin er im Notfall gehen solle. Daran ändere auch die Einrichtung von Portalpraxen nichts. Nach Gesprächen mit den Kliniken wisse er: „Der Pförtner entscheidet dar-über, wer wo versorgt wird.“ Die Portalpraxen dürften nach Aussage von Leber nicht vor die Notfallambulanzen gestellt werden. Für den GKV-Mann ist derzeit bereits klar: „70 Prozent der Krankenhäuser haben keine richtige Notfallversorgung.“ Er forderte eine Spezialisierung der Rettungsstellen. So würden beispielsweise in Wien nachts und am Wochenende Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt nur in zwei Kliniken gebracht. Leber: „In Berlin sind dafür 39 Kliniken da, das brauchen wir nicht.“
Auch in der Schweiz würden Patienten mit sogenannten Bagatellerkrankungen zu oft in die Notaufnahme gehen, berichtete Felix Schneuwly, Head of Public Affairs, comparis.ch AG Zürich. Die Finanzierung sei dual – über den Krankenversicherer und über Steuern. Dies sei nicht zufriedenstellend. Auch bei der Planung habe die Schweiz Probleme. „Der Spagat der Notfallversorgung zwischen Planung durch Kantone und Marktwirtschaft ist immens“, so Schneuwly. Auf der einen Seite erlasse der Bundesrat einheitliche Planungskriterien, die Kliniken müssten jedoch die Leistungen „kostengünstig und effizient“ erbringen. Die Vielfalt ist „pittoresk“, so der Schweizer: „26 Kantone regeln die Versorgung für insgesamt acht Millionen Einwohner“ – zudem noch mit unterschiedlichen Notrufnummern. Die Zukunft sieht Schneuwly in der Telemedizin: Damit könnten Patienten im Notfall besser gesteuert werden.
Dr. Dominik Graf von Stillfried, Geschäftsführer des Zentralinstitutes für die Kassenärztliche Versorgung Deutschlands, sieht das Problem „nicht nur bei den Kassenärztlichen Vereinigungen“. Er kritisierte, dass die bundeseinheitliche Rufnummer für den Ärztlichen Bereitschafts-dienst nicht rund um die Uhr geschaltet werden dürfe. In Berlin gebe es zudem einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst, der aber offenbar nicht bekannt sei.
„Wenn der Patient meint, er sei ein Notfall, dann müssen wir ihn behandeln“, sagte Dr. Bernd Metzinger, Geschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Er forderte, dass eigentlich nur „der erfahrenste Arzt der Klinik“ in der Notfallambulanz entscheiden könne, ob der Patient in die Portalpraxis oder in die Rettungsstelle gehört. „Der Patient muss in die richtige Versorgung“, so Metzinger. Er sprach sich gegen die ab 1. April vorgesehen Abgeltungspauschale aus. Zwei Minuten habe ein Arzt Zeit, um zu entscheiden, ob der Patient in der Notaufnahme behandelt werden müsse. Das sei zu wenig.
Dr. Christopher Niehues, Geschäftsführer des Institutes für Management der Notfallversorgung, ist sich sicher, dass die Portalpraxen allein das Problem nicht lösen werden. „Patienten gehen ganz gezielt in die Klinik – das ist nicht abhängig vom Sozialstatus“, so Niehues. Derzeit sei nicht bekannt, wieviel Patienten in den Notaufnahmen behandelt würden. Niehues: „Es gibt 20 verschiedene Abrechnungsverfahren – wir brauchen Daten und Statistiken.“
Verlässliche Zahlen erhofft sich auch Michael Zaske, Leiter des Referates gesundheitliche Versorgung, Gesundheitswirtschaft, Krankenhäuser, Rehabilitation im Brandenburger Ministerium für Arbeit, Soziale, Gesundheit, Frauen und Familie. Gemeinsam mit Krankenkassen, wie der IKK Brandenburg und Berlin, Landeskrankenhausgesellschaft, KV Brandenburg und IGES-Institut sollen jetzt die Daten in den Rettungsstellen erhoben und ausgewertet werden. Zaske: „Wir haben zu viele Anlaufstellen, zu viele Systeme parallel und zu wenig gemeinsame Kooperation und Steuerung.“
Die KBV hat nach Aussage von Dr. Graf von Stillfried jetzt ein Konzept erarbeitet, um dem Problem aktiv zu begegnen: So soll die bundesweite Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes 24 Stunden geschaltet werden. Dort würden Patienten auch beraten werden und eine „angemessene ärztliche Empfehlung – mit möglichem Termin – erhalten“, so von Stillfried.
Die Portalpraxis ist nach seiner Aussage „nicht an allen Klinikstandorten“ erforderlich. Grund: Die Auslastung müsse gewährleistet werden. Zudem müsse es auch eine Konzentration der Notfallambulanzen geben – beispielsweise auf Schlaganfall oder Herzinfarkt.
In seinem Schlusswort untermauerte Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e.V., dass bei allen kontroversen Diskussionen und Positionen nicht vergessen werden dürfe: Die Versorgung des Patienten muss immer die wichtigste Rolle spielen. „Die Strukturen müssen dem Patienten folgen und nicht umgekehrt. Hier hat die gemeinsame Selbstverwaltung eine gemeinsame Verantwortung“, so der Geschäftsführer. Die ab 1. April neu aufgenommene Pauschale hält Hohnl für fragwürdig. „Das ist ein falsches Signal“, sagte der Geschäftsführer. Dem Grundsatz ambulant vor stationär müsse jedoch Rechnung getragen werden.
Pressemitteilung des IKK e.V.
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