„Aids hätte ich mir sparen können“

Maik verdrängte sein HIV-Risiko – aus Angst vor den Folgen einer HIV-Infektion. Trotz dramatischer Symptome bot ihm kein Arzt einen HIV-Test an. Die Wende kam erst, als es fast zu spät war.

Maik, 43, lebt in München. Er ist Diplom-Ingenieur und Testfahrer bei einem großen deutschen Autohersteller. In der Kampagne „Kein AIDS für alle!“ erzählt er seine Geschichte, um andere Menschen vor dem gleichen Schicksal zu bewahren.

Maik, wie hast du erfahren, dass du HIV-positiv bist?

Ich habe es erfahren, als es schon fast zu spät war. Ich hatte über 30 Kilo abgenommen. Wegen einer Pilzinfektion im Mund und in der Speiseröhre konnte ich nicht mehr essen. Die Ärzte haben mir Medikamente gegen Darmparasiten und die Pilzinfektion gegeben, aber lange Zeit hat mir keiner einen HIV-Test angeboten. Am Ende hat dann zum Glück doch ein Arzt den Mut aufgebracht.

Wie lange warst du krank gewesen?

Das ging so ungefähr ein Jahr. Ich hatte zuerst eine heftige Sommergrippe und habe mich davon körperlich nicht mehr richtig erholt. Dann kamen die Magen-Darm-Probleme. Den Gewichtsverlust fand ich ja anfangs noch erfreulich. Aber dann kam dauerhafter Durchfall hinzu, der hat mich sehr belastet.

Und wirklich keiner hat an HIV gedacht?

Meine Freunde haben mich gefragt: Was ist los? Aber auch von ihnen hat niemand HIV thematisiert.

Und du selbst?

Ich hatte natürlich eine Ahnung. Ich hatte mich zehn Jahre vorher das letzte Mal testen lassen, das Ergebnis war negativ gewesen. Da ich Safer Sex praktiziert hatte, bin ich damals davon ausgegangen, dass mir so etwas nicht passieren würde. Dass ich nicht immer ganz konsequent gewesen war und dass man als schwuler Mann immer ein gewisses Restrisiko hat, hab ich verdrängt.

„Ohne Test kann man in einer trügerischen Scheinwelt leben.“

Wovor hattest du denn Angst?

Ich habe in den 90ern viele Freunde sterben sehen. Deswegen hatte ich noch das alte Bild vor Augen: dass man an Aids stirbt, wenn man HIV hat. Und ich hatte Angst davor, dass ich mit einem positiven Testergebnis in der Szene abgestempelt wäre. Wenn man keinen Test gemacht hat, kann man sagen: „Ich bin wahrscheinlich negativ“, in einer trügerischen Scheinwelt leben und sich jahrelang etwas vorspielen –  bis es zu spät ist.

Du hast tatsächlich zehn Jahre mit dieser Unsicherheit gelebt. Was geht da in einem vor?

Das sind ständige innere Kämpfe. Man schiebt die Sache raus, wie bei anderen Dingen, die einem lästig oder unangenehm sind. Man sagt sich: „Ich muss mit Fitness anfangen und ab Weihnachten geht’s dann aber auch wirklich los!“, aber man rafft sich dann doch nicht auf. Man müsste dringend zum Reifenwechsel, aber erst, wenn man von der Fahrbahn abkommt, merkt man, wie wichtig die Reifen sind. Genauso ist es auch mit dem HIV-Test: Man sitzt das Ganze aus, obwohl man weiß, dass es wichtig und nicht schlimm ist.

Wusstest du, dass man mit HIV heute gut leben kann?

Ich habe nach dieser ganzen Geschichte gemerkt, wie schlecht ich aufgeklärt war. Ich dachte, dass die Medikamente immer noch Durchfall und Fettumverteilung hervorrufen und dass mit HIV vieles nicht mehr möglich wäre. Ich stand damals vor einem Karrieresprung und wollte einfach weitermachen mit meinem Leben. Dass die Medikamente mittlerweile so gut sind und dass die Lebensqualität nach wie vor voll gegeben ist, wusste ich nicht.

„Ich hatte Aids-Symptome wie aus dem Lehrbuch.“

Was hätte dir damals geholfen, den Test früher zu machen?

Mir hätte geholfen, wenn ich ein positives Beispiel gehabt hätte. Jemand, der sagt: „Ja, ich bin auch HIV-positiv, aber es ist nicht so schlimm. Ich nehme eine Tablette am Tag und es geht mir gut.“

Wer oder was hätte dich noch zu einem Test motivieren können?

Ein klarer Impuls von außen wichtig gewesen. Mein Hausarzt hatte nicht den Mut dazu. Er war selbst schwul und hätte leicht sagen können: „Mach das, damit wir HIV ausschließen können. Du kannst das bei mir oder anonym machen. Und im Fall es Falles: mit HIV kann man heute leben.“ Dass er das nicht gemacht hat, wurde Teil meiner Verdrängungsstrategie: Wenn ein schwuler Arzt nichts sagt, muss ich das auch nicht in Betracht ziehen. Dann ist alles in Ordnung.

Aber du warst doch damals bestimmt bei vielen Ärzten?

Einer hat mich mit Lutschpastillen nach Hause geschickt, obwohl mein ganzer Mund voll mit Pilz war. Aids-Symptome wie aus dem Lehrbuch. Was mit mir los war, war unübersehbar. Das Unwissen vieler Ärzte über HIV ist für mich völlig unverständlich. Auf der anderen Seite bin ich natürlich auch selbst für mich verantwortlich.

Du meinst, du hättest selbst einen Test vorschlagen können?

Natürlich. Aber ich war immer erleichtert, wenn sie HIV nicht thematisiert haben. Dann konnte ich mir wieder sagen: Die haben sicher Recht, mit HIV hat das alles nichts zu tun.

Was hast du gefühlt, als du endlich wusstest, was dahinter steckte?

Ich war einerseits erleichtert, weil ich endlich wusste, was los war. Zugleich war ich wütend auf mich, weil ich es so weit hatte kommen lassen. Ich dachte: Jetzt sterbe ich, weil ich nicht den Mut zum HIV-Test hatte. Meine letzten Tage wollte ich zu Hause verbringen. Meinen damaligen Freund habe ich vor die Wahl gestellt, bei mir zu bleiben, bis ich tot bin, oder zu gehen.

Wie hat er reagiert?

Er ist bei mir geblieben und hat sich darum gekümmert, dass ich zu Hause gepflegt wurde. Nach vier Wochen ging es mir deutlich besser, und nach sechs Wochen konnte ich wieder arbeiten.

„Mein Immunsystem war praktisch nicht mehr vorhanden.“

Obwohl du so schwer krank warst?

Ich habe unwahrscheinliches Glück gehabt. Ich hatte null Helferzellen und eine Viruslast im Millionenbereich. Mein Immunsystem war praktisch nicht mehr vorhanden. Vollbild Aids mit allen Symptomen. Ich hätte Hirnschäden erleiden oder mein Augenlicht verlieren können. Es war ein kleines medizinisches Wunder, dass die Therapie überhaupt noch funktioniert hat.

Und heute?

Nehme ich täglich eine Tablette und denke oft gar nicht mehr daran, dass ich HIV-positiv bin. Ich lebe in einer eingetragenen Partnerschaft, arbeite 40 Stunden die Woche, mache Sport, habe Freunde, alles ganz normal. Und durch die HIV-Medikamente kann ich HIV nicht mehr weitergeben, das finde ich sehr erleichternd. Im Rückblick denke ich: Aids hätte ich mir wirklich sparen können.

Hat HIV etwas in deinem Leben verändert?

Im positiven Sinne hat mein Leben sich radikal verändert. Ich habe aufgrund meiner HIV-Infektion ein paar Freunde verloren, aber auch neue Freunde gewonnen. Ich lebe bewusster und schiebe medizinische Untersuchungen nicht mehr auf die lange Bank.

Was rätst du anderen schwulen Männern?

Nicht zu warten, bis es wirklich zu spät ist. Sich regelmäßig testen lassen. Eine HIV-Diagnose ist immer noch ein einschneidendes Erlebnis. Aber man kann super damit leben. Mit den Folgen einer verschleppten Infektion kann man das meist nicht. Aids muss heute nicht mehr sein.

 

Mehr Informationen:

Website der Kampagne „Kein AIDS für alle!“

Kampagnenvideo „Kein AIDS für alle!“: Maik und Regina hatten Aids. Was wir tun können, damit es anderen Menschen nicht so ergeht

Video: Maik im Gespräch

Pressemitteilung „Das Ende von Aids bis 2020 erreichen – Kampagnenstart der Deutschen AIDS-Hilfe“ (12. Mai 2017)