Warum man einem Kind keine Erwachsenendiagnose stellen kann
In der Erwachsenenpsychiatrie sprechen wir von Depression, Narzissmus oder Angststörungen – in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hingegen sprechen wir von Entwicklungskrankheiten. Was das bedeutet und warum die Schule der Vitos Klink Rehberg eine besondere Schutzzone für Kinder- und Jugendliche mit Entwicklungskrankheiten ist, möchte ich nun etwas näher erläutern.
Kinder- und Jugendzeit in unserer Gesellschaft widersprüchlich besetzt
Die Zeit der Kindheit und Jugend ist in unserer heutigen Gesellschaft widersprüchlich besetzt. Auf der einen Seite steht die Forderung, Kinder und Jugendliche sollten ihre Kindheit und Jugend ausleben dürfen. Dass jedes Kind ein Recht darauf hat, einfach Kind zu sein. Auf der anderen Seite gibt es immer weniger Menschen, die Kinder und Jugendliche aktiv dabei fördern, ihre Kindheit und Jugend angemessen erleben zu können. Der Leistungsdruck in der Schule steigt. Die Medienflut überfordert. Kinder und Jugendliche werden in unserer globalisierten und vernetzten Welt heute schon sehr früh mit Themen konfrontiert, für die sie noch nicht die nötige Reife mitbringen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie können wir die Themen Kindheit und Jugend möglicherweise sorgfältiger und ruhiger behandeln, als das an vielen anderen Stellen möglich ist.
Innenweltbetrachtung als Ausgangspunkt
Der Ausgangspunkt für die Entwicklung des Kindes ist die Entwicklung seiner Emotionen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Resonanz zu erleben. Das meint, einen spürenden Anderen, einen Mitfühlenden wahrzunehmen. Häufig ist es leider so, dass Kinder mit unsicheren Bindungen zu schnell in die Welt der Erwachsenen getrieben werden. Gemeint sind Kinder, die in ihren ersten Lebensjahren keine sichere Bindung zu einer Bezugsperson aufbauen konnten, etwa, weil sie vernachlässigt wurden. Das Resultat ist Überforderung. Die Betrachtung der Innenwelt dieser Kindes oder Jugendlichen ist der Ausgangspunkt für meine Arbeit. Instrumente der Innenweltbeobachtung sind dabei beispielsweise geschriebene Sprache oder auch Malerei. Mithilfe derer können Kinder und Jugendliche sich ausdrücken und ihre Gefühle beschreiben. Dabei geht es in erster Linie um das sich selbst Entdecken. Die Kinder lernen, die eigenen Emotionen wahrzunehmen und zu benennen.
Entwicklungs- vs. Erwachsenenkrankheiten
Es ist wichtig zu verstehen, dass man bei Kindern und Jugendlichen noch nicht von ausgeformten psychischen Erkrankungen sprechen kann. Bei emotionalen Störungen im Kindes- und Jugendalter sprechen wir deshalb zum Beispiel von einer vorwiegend narzisstischen oder depressiven Problematik und nicht von Narzissmus oder Depression. Hat das Kind sehr früh etwas Traumatisches erlebt, sprechen wir von einer Traumafolgebewältigung. Als Kinder- und Jugendpsychiater ist es nicht in meinem Interesse, dem Kind oder dem Jugendlichen die Diagnose einer „Erwachsenenkrankheit“ zu stellen. Im Kindes- und Jugendalter handelt es sich vielmehr um Entwicklungskrankheiten, die sich im Laufe der Zeit ganz unterschiedlich ausformen und zu unterschiedlichen Krankheiten entwickeln können. Wir können nicht vorhersagen, in welche Richtung diese Entwicklung gehen wird. Das zentrale Thema bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist nicht die ausgeformte Erkrankung, sondern die Kernproblematik, die der emotionalen Störung zugrunde liegt. Es handelt sich also um eine Vorstufe einer oder verschiedener möglicher Erkrankungen. Die Kinder und Jugendlichen verarbeiten zusammen mit ihren engsten Bezugspersonen die Vorstufe der Erkrankung und modifizieren sie dadurch. Je jünger ein Kind ist, umso breiter wird seine Entwicklung als ganze beeinflusst. Also sowohl die kognitive, als auch die emotionale und die antriebsbestimmende Entwicklung. Wird das Kind älter, differenziert es sich Stufe für Stufe weiter. Das bedeutet auch, je früher ein Kind von einer emotionalen Störung betroffen ist, desto stärker sind all jene Systeme betroffen, die für die Entwicklung des Kindes eine Rolle spielen. Die kognitive Entwicklung des Kindes wird unter anderem deshalb beeinflusst, weil nach einem traumatischen Erlebnis oder auch bei anhaltender Misshandlung oder Vernachlässigung vermehrt Stresshormone ausgeschüttet werden, die die Synapsenbildung im Gehirn verhindern.
Die Rehbergschule – ein geschützter Bereich zur persönlichen Entfaltung
Damit sich Kinder und Jugendliche gesund entwickeln können, braucht es Schutzzonen in der Gesellschaft. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie bemühen wir uns um diese Schutzzonen. Der Leistungsdruck unserer immer schneller werdenden Gesellschaft ist bei uns weniger spürbar. In unserer Schule der Vitos Klinik Rehberg geht es nicht darum, dass ein ganzes Kollektiv einen Schritt gemeinsam macht. Wir können somit noch auf den Einzelnen schauen. Er darf sich in seinem individuellen Tempo entwickeln. Dies gilt in Anhängigkeit zur Therapiezeit mit der Einbeziehung der wichtigsten Bezugspersonen.
Die Schule besuchen zu können, bedeutet ein Stück Normalität für unsere jungen Patienten. Die Rehbergschule hat einen wichtigen Stellenwert als Sozial- und Entwicklungsraum. Die Kinder und Jugendlichen sind, dank des regelmäßigen Schulbesuchs, wieder anschlussfähig, sobald sie die Klinik verlassen. Sie können in der Schule den Alltag und das Lernen üben. Genauso wichtig ist es, dass die Schule ihnen hilft, die Welt in der sie leben, zu entdecken und zu verstehen. Gleichzeitig geht es nicht darum, sie mit möglichst viel Wissen in möglichst kurzer Zeit zu konfrontieren. Vielmehr wollen wir Berührungsräume schaffen, in denen sich die Schüler wieder als Subjekte, als eigenständige und selbsthandelnde Individuen begreifen. Kreativen Verfahren, wie Schreiben, Zeichnen, Malen, Musizieren und Gestalten kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Der kreative Schaffensprozess schreibt keine Norm vor, nach welcher sich die Schüler ausrichten müssen, sondern bildet einen Ausgangspunkt. Nur, wo die Kinder und Jugendlichen ein Stück von sich selbst berühren, können sie beginnen und ihren Weg für sich finden. Diese doppelte Seite von Schule, also die Vermittlung von Sach- und Fachwissen, aber eben auch die kreativen, musischen Fächer finde ich sehr wichtig. Während die reine Wissensvermittlung die Kinder nach außen führt und auf die Anforderungen der Welt vorbereitet, lenkt der kreative Bereich den Blick nach innen und hilft dem Einzelnen dabei, sich selbst zu entdecken.
Unsere Gesellschaft soll keine Therapiegesellschaft werden. Aber sie sollte sorgsamer mit den Verletzungen und der Verletzlichkeit der Kinder und Jugendlichen umgehen. Kinder dürfen nicht zu früh in die Erwachsenenwelt getrieben werden. Sie dürfen nicht in virtuellen Spielewelten oder sozialen Netzwerken, sozusagen, in einer Parallelwelt, aufwachsen. Kinder und Jugendliche müssen geschützt sein, aber gleichzeitig intensiven Kontakt mit anderen Menschen haben. Leben bedeutet Entwicklung und die ist nur durch den unmittelbaren persönlichen Kontakt zu anderen Menschen möglich. Dadurch, dass der Einzelne sich an seinen Mitmenschen entwickelt, lebt er überhaupt erst.
Der Andere vermittelt auch den Zugang zu allen weiteren ökologischen Bezügen. Das Kind findet sich im anderen und der wird durch das Kind in seinen Perspektiven erweitert.