Seltene Lungenerkrankungen (wie Alpha1-Antitrypsin-Mangel, Lungenfibrose, Pulmonale Hypertonie, LAM, Cystische Fibrose) stellen Patienten und Angehörige vor zahlreiche Herausforderungen. Ungewißheit ist ein durchgängiges Thema bei Diagnose, Behandlung und Prognose. Da Ungewißheit unausweichlich ist, kann sie einerseits zu Streß, Ängsten oder Depressionen führen – andererseits bei guter Unterstützung Hoffnung und Motivation stärken.
Seltenen Lungenerkrankungen: „Stochern im Nebel“ und „Segeln durchs offene Meer“
Fast alle Patienten mit seltenen Lungenerkrankungen schildern Erfahrungen mit Ungewißheit im Krankheitsverlauf:
- Ungewißheit vor der Diagnose
„Ich spüre die Krankheitslast, kenne aber keine Diagnose.“
- Ungewißheit bei der Behandlung
„Ich kenne die Diagnose, finde aber keine Experten.“
- Ungewißheit bei der Prognose
„Ich muß die Krankheitslast nach der Diagnose von Tag zu Tag tragen bei begrenzter Lebenszeit.“
Ungewißheit zeigt sich also durchgängig und unvermeidbar.
Voraussetzungen und Auswirkungen der Ungewißheit
In einem an Mishel MH angelehnten Modell werden die Voraussetzungen und Auswirkungen der Ungewißheit bei Krankheiten (Illness Uncertainty) in ihren Verflechtungen dargestellt.
Zu den Voraussetzungen tragen drei Faktoren-Gruppen bei:
- Biologische Faktoren (Krankheitsschwere, Symptomausprägung, Symptomvertrautheit)
- Psychologische Faktoren (Erlernte Hilflosigkeit, Gefühle der Beherrschbarkeit, Kontrollüberzeugung)
- Soziale Faktoren (Vertrauenswürdige Experten, soziale Unterstützung, Bildung)
Diese Faktoren bestimmen im wesentlichen, ob die Erfahrung von Ungewißheit bei Krankheit als Gefahr oder als Herausforderung bewertet wird. Gemäß dem Streß-Modell von Lazarus und Folkman entscheidet diese Bewertung über die Auswirkungen der belastenden Erfahrung.
Mehrere Pfade sind möglich:
- Wird die Ungewißheit als Herausforderung bewertet, so sind eine Stabilisierung des Zustandes und eine positive Anpassung wahrscheinlich.
- Wird die Ungewißheit als Gefahr bewertet, so resultiert daraus im ungünstigen Fall psychologischer Distress. Im günstigen Fall gelingt durch angemessenes Coping auch hier eine positive Anpassung.
Facetten der Ungewißheit
Ungewißheit bei seltenen Lungenerkrankungen ist nicht nur durchgängig und unvermeidbar, sondern auch vielschichtig und komplex.
Die grundlegende Theorie zur Ungewißheit bei Krankheit (von Mishel MH) führt vier Faktoren an:
- Mehrdeutigkeit
- Komplexität
- Inkonsistenz (Widersprüchlichkeit)
- Unvorhersehbarkeit
Zu 1. Mehrdeutigkeit:
Symptome können mehrdeutig sein. Luftnot beispielsweise kann vielerlei Ursachen haben. Als mehrdeutiges Symptom bestimmt Luftnot Denken, Fühlen und Handeln der Patienten und zeigt nachweislich Auswirkungen auf alle Phasen des Krankheitsprozesses.
Zu 2. Komplexität:
Gerade bei seltenen Lungenerkrankungen sind die Pfade im Diagnose- und Behandlungs-Dschungel häufig sehr verschlungen und für Patienten schwer verständlich.
Zu 3. Inkonsistenz (Widersprüchlichkeit)
Eigenen Krankheits-Erfahrungen können für Patienten ebenso widersprüchlich sein wie Erfahrungen mit Behandlern.
Zu 4. Unvorhersehbarkeit
Viele Patienten mit seltenen Lungenerkrankungen leider unter der ungewissen Prognose. Sie wissen nie, wie sie sich morgen fühlen werden – oder ob und wie lange es ein „Morgen“ für sie gibt.
Weitere Klassifikationen von Ungewißheit bei Krankheit
Ein neueres Konzept zur Ungewißheit bei Krankheit (Morse JM) benennt die folgenden drei Facetten:
- Wahrscheinlichkeit („Ich fürchte den nächsten Winter – dann geht es mir meist schlechter.“)
- Zeitabhängigkeit („Ich kann nicht im voraus planen.“)
- Wahrnehmung („Manchmal habe ich Luftnot aus heiterem Himmel – dann weiß ich nicht, was ich tun soll.“)
Auf die subjektiven Erfahrungen der Patienten zielt eine aktuellere Systematik (Geiger F) mit folgenden Ungewißheits-Bereichen:
- Soziale Einbindung
- Krankheitszustand
- Psychosoziale Leistungs-und Funktionsfähigkeit
- Ursachenzuschreibung (Kausalattribution)
- Beziehung zu Behandlern
- Behandlungsoptionen
Dieser kurze Abriß der Klassifikationen macht bereits deutlich: Patienten mit seltenen Lungenerkrankungen sind durch Ungewißheit in vielerlei Gestalten herausgefordert.
Zum Experten aus Erfahrung werden
Patienten mit seltenen Lungenerkrankungen spüren rasch: Informationen sind wichtig. Doch Informationen allein genügen nicht – zumal diese mitunter widersprüchlich, komplex, verwirrend sind. Dadurch können Ängste und das Gefühl von Kontrollverlust sogar noch verstärkt werden.
Um besser mit der ständigen Ungewißheit leben zu lernen, ist eine Kombination von Strategien hilfreich:
- Kognitive Strategien
Patienten informieren sich, z. B. im Internet, bei Selbsthilfe-Organisationen, etc.
„Früher hat der Arzt mir etwas erklärt. Heute muß ich dem Arzt erst mal erklären, was ich habe und worauf er achten muß.“ (LAM-Patientin)
- Emotionale Strategien
Patienten sorgen für ihre innere Balance, z. B. durch Achtsamkeit, Fokussierung auf Positives
„Ich nehme die Krankheit ernst, aber versuche, entspannt zu bleiben.“ (LAM-Patientin)
„Es klingt abgedroschen, aber: Ich freue mich tatsächlich mehr über Kleinigkeiten.“ (LAM-Patientin)
- Verhaltensstrategien
Patienten entwickeln eine persönliche „Normalität“, z. B. durch Anpassung von Belastung und Schonung, Selbstmanagement, etc.
„Keiner redet mit Mama, bis sie den Berg hochgelaufen ist.“ (Alpha1-Patientin)
Seite an Seite: wie Angehörige mit der Ungewißheit umgehen lernen
Nicht nur die Patienten, auch Angehörige sind Betroffene. Auch sie leiden unter der Ungewißheit in mehrfacher Hinsicht:
„Was wird aus meinem kranken Partner?“
„Wie verändert die Krankheit unsere Beziehung?“
„Was wird aus mir?“
Das sind nur ein paar der zahlreichen Fragen, die sich Angehörigen aufdrängen. Wie können sie die Patienten mit seltenen Lungenerkrankungen hilfreich unterstützen und dabei selber stabil bleiben?
Die Ungewißheit führt manchmal zu sehr wechselhaften und widersprüchlichen Verhaltensweisen bei den Erkrankten: Zuversicht schlägt von einem Augenblick zum nächsten in Pessimismus um; Hoffnung und Verzweiflung liegen dicht beieinander. Da fällt es manchem Angehörigen schwer, verständnisvoll zu reagieren.
Im Grunde geht es nicht ums Verstehen, sondern ums Beistehen. Angehörige müssen weder kluge Sprüche noch Patentrezepte liefern. Entscheidend ist der Mut, präsent zu sein – Seite an Seite die Ungewißheit auszuhalten. Im gemeinsamen Aushalten der Ungewißheit erfahren Patienten und Angehörige Beruhigung.
Ungewißheit bei seltenen Lungenerkrankungen: eine Herausforderung auch für Behandler
Wenn eine Krankheit bei weniger als einem von 2.000 Patienten auftritt, lernt ein Arzt Betroffene möglicherweise nur im Hörsaal oder im Lehrbuch kennen. Entsprechend lang sind die Irrfahrten mancher Patienten bis zur Diagnosestellung. Hier können regelmäßige Fortbildungen für Behandler oder der Einsatz von Datenbanken (z. B. von Orphanet) hilfreich sein.
Doch mit der Diagnosefindung ist die Ungewißheit nicht zu Ende. Durch ein patientenorientiertes Diagnose-Gespräch kommt es zwar häufig zu einer kurzzeitigen Entlastung und Beruhigung – vor allem dann, wenn konkrete Therapiemöglichkeiten angeboten werden können.
Gerade bei seltenen Lungenerkrankungen mit häufig unklarer Prognose löst die Diagnose jedoch auch neue Ungewißheit aus: beispielsweise hinsichtlich Krankheitsverlauf und begrenzter Lebenszeit. Hier ist neben interdisziplinärer Zusammenarbeit der Experten vor allem die verläßliche, möglichst kontinuierliche Ansprechbarkeit und Präsenz der Behandler gefordert.
Fazit für die psychopneumologische Praxis
Langsam, aber stetig verbessern sich die Rahmenbedingungen für Patienten mit seltenen Lungenerkrankungen.
Damit sich diese erfreuliche Entwicklung hilfreich für den einzelnen Patienten auswirken kann, sollte der Blick auf die psychosozialen Krankheitsfaktoren gerichtet werden.
Ungewißheit ist dabei offensichtlich ein wichtiges Thema für die Psychopneumologie.
Ansatzpunkte gibt es bereits – so beispielsweise die Ungewißheits-Intervention bei COPD.
Internet-Portale zu seltenen Lungenerkrankungen
Mit herzlichen Grüßen von Monika Tempel [Sauerstoff und Sinn] www.monikatempel.de