„Wir können nicht mehr an Sex denken, ohne an Krankheit zu denken“

Auf dem Höhepunkt der Aids-Krise sprach der Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Martin Dannecker von einem kollektiven Trauma der Schwulen. Heute will er ganz so weit nicht mehr gehen. Spätfolgen sieht er aber schon. Der Journalist und Aktivist Dirk Ludigs sprach mit ihm darüber, wie HIV/Aids schwules Leben und schwulen Sex verändert hat.

Martin, du hast sehr früh, schon 1990, von Aids als kollektivem Trauma der Schwulen gesprochen. Was hast du damit gemeint?

Ich habe in zwei kurzen Veröffentlichungen von HIV als kollektivem Trauma gesprochen, das eine Mal sehr pointiert platziert, im letzten Kapitel der empirischen Studie „Homosexuelle und Aids“, mitten in der Aids-Krise. Ich hatte eines der Ergebnisse herangezogen, wonach ein sehr großer Teil der damals Befragten, ich glaube 70 Prozent, jemanden kannte, der infiziert war. Die Hälfte kannte jemanden, der an Aids gestorben war beziehungsweise Aids hatte. Das sind bemerkenswerte Zahlen.

Wir hatten auch gefragt, welche Auswirkungen Aids ganz allgemein hatte. Dabei kamen Ergebnisse heraus, die es eigentlich erschwerten, von einem kollektiven Trauma zu sprechen. Trotzdem habe ich an der theoretischen Überzeugung festgehalten, dass es eine – und jetzt muss man differenzieren – exzeptionelle Erfahrung des Kollektivs schwuler Männer war. Schwule Männer sind durch ihre gemeinsame Sexualität miteinander verbunden, die wiederum durch die gesellschaftliche Diskriminierung und Positionierung zu etwas Abgrenzbarem, Diskriminiertem gemacht wurde. Das massive Sterben und Leiden, die massive Erkrankung machte etwas mit diesem Kollektiv. Aids war darin so wirksam, dass ich es als kollektives Trauma bezeichnet habe.

„Aids hat in das Kollektiv schwuler Männer eine Angst vor dem Tod gebracht“

Was hat Aids denn mit diesem Kollektiv gemacht?

Es hat in dieses Kollektiv eine Angst vor dem Tod gebracht und eine kollektiv wiederbelebte Angst, nicht nur diskriminiert, sondern auch verfolgt zu werden. Und die Äußerungen bestimmter Politiker gaben auch Anlass dazu.

Die Schwulen hatten zu ihrer Sexualität und zu ihrem sexuellen Selbst nicht mehr dieselbe Beziehung wie vorher. Das war zum Teil auch empirisch nachweisbar. Ihre Sexualität wurde stattdessen wiederkehrend infrage gestellt. Das löste bei ganz vielen – vor allem bei HIV-Infizierten – das Gefühl aus, ein falsches Leben geführt zu haben.

Dennoch ist nach 1990 – aus dieser ersten Angst vor Verfolgung heraus – eine viel größere Sichtbarkeit von Schwulsein in der Gesellschaft entstanden.

Ja!

„Aids hat die Beziehung von Schwulen zu ihrem schwulen Selbst verändert“

Und es gab in den Neunzigern eine fast explosionsartige Vergrößerung der schwulen Szene bis weit in bürgerliche Kreise hinein. Man könnte doch fast umgekehrt argumentieren, dass aus dieser anfänglich traumatischen Situation heraus das Gegenteil von Trauma und Verfolgung entstanden ist.

Ich würde es heute auch vorsichtiger formulieren und sagen: Aids war so etwas wie eine kollektive, schwer zu integrierende psychische Erfahrung, welche die Beziehung von Schwulen zu ihrem schwulen Selbst verändert hat. Ich habe damals natürlich auch aufgrund meiner eigenen Erfahrung an der These vom kollektiven Trauma festgehalten. Es war ein Stück weit Enthüllung. Ich wollte damit die Augen für etwas öffnen, das über das Einzelschicksal hinausging. Das war mein Interesse und gleichzeitig Ausdruck der Ausnahmesituation, die ich selbst erlebte und aus der ich nicht heraus konnte.

Schwule Sexualität war ja bis zur Aids-Krise die „folgenlose“ Sexualität. Ob wir es jetzt „kollektives Trauma“ oder „eine kollektive psychische Erfahrung“ nennen: Wie hat Aids unsere kollektive Sichtweise auf schwules Begehren verändert?

Die Diskriminierung und Ablehnung schwuler Sexualität hatten verhindert, dass es Begriffe von einem „guten schwulen Leben“ im normativen Sinn gab. Durch Aids und den Diskurs darüber gab es plötzlich eine Reflexion über schwule Sexualität. Prävention hatte immer die Bedeutung, Sexualität nicht nur zu einer weniger riskanten zu machen, sondern auch zu einer „guten“. Plötzlich entstanden in der Gesamtgesellschaft sowie unter den Schwulen selbst Vorstellungen von einer „guten und angemessenen Sexualität“ und von einem „guten und angemessenen Leben“. Ich glaube, das hat diesem „Normalisierungsschub“ eine enorme Energie verliehen.

„Plötzlich gab es eine Reflexion über schwule Sexualität“

Mit der Schattenseite, dass es dort, wo ich eine „gute schwule Sexualität“ formuliere, dann eben auch eine „böse“ gibt. Das schwule Kollektiv wird aufgeteilt, während uns vorher die Außenwahrnehmung der „bösen, schwulen Sexualität“ eher vereint hat.

Das war ja auch so. Und es gab auch jene, die vergeblich versuchten, sich anzupassen, indem sie Elemente schwulen Begehrens verleugneten. Die sind ja immer deshalb auf die Nase gefallen, weil die Gesellschaft ihnen das nicht abgenommen hat. Die Ablehnung traf am Ende jeden.

Diese Aufteilung in Gut und Böse sehe ich auch, wenn wir zum Beispiel auf den Begriff Safer Sex schauen. Der war in den Achtzigern bezogen auf das, was uns vor HIV schützt.

Ausschließlich! Alles andere ist eine Nachkonstruktion, die falsch ist.

Diese Nachkonstruktion gewinnt aber immer mehr Raum. Die PrEP kann dann zum Beispiel kein Safer Sex sein, denn die schützt ja nicht vor Syphilis. Das Kondom hingegen ist heute für viele eine moralische Instanz, die guten von bösem Sex unterscheidet. Das ist doch auch eine Folge dieser „kollektiven psychischen Erfahrung“.

Aber natürlich! Kaum entsteht ein anderes, weniger dramatisches Bild von HIV, wird sofort gesagt, es gehe um „HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten“. So aber gewinnen die anderen Geschlechtskrankheiten die Bedeutung von HIV. Die haben sie jedoch nicht, die sind in der Regel gut behandelbar. Dass so etwas wie Gesunderhaltung und Sexualität zu einer Einheit geworden sind, dass man nicht mehr an Sexualität denken kann, ohne an Krankheit zu denken, das hat es vor Aids nicht gegeben und das ist vorerst auch nicht aus der Welt zu bekommen.

„Wir haben aufgehört, Sexualität für sich zu nehmen, sagen wir mal als Lust“

Ich selbst habe mich auch dabei erwischt, dass ich plötzlich von „HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten“ sprach. Wieso habe ich das vorher nicht gemacht?  Die anderen Geschlechtskrankheiten hat es vorher doch auch schon gegeben. Wir machen das heute, weil wir uns darüber als besonders verantwortungsvoll auszeichnen können. Dabei haben wir aufgehört, Sexualität für sich zu nehmen, sagen wir mal als Lust. Wir denken immer auch an das Andere. Interessanterweise ist das jetzt auch wieder ein Auftrag an das gesamte Kollektiv, das sollen alle Schwulen machen.

Und wenn ich Safer Sex ausweite auf sämtliche übertragbare Krankheiten, dann übertrage ich die Ausnahmesituation der Aids-Krise auf die anderen Geschlechtskrankheiten und verewige damit dieses Verhalten und diese Norm.

Aber selbstverständlich. Es ist mit Sicherheit so, dass in diesem Diskurs die Schwulen nicht in eine Zeit entlassen werden sollen, in der das einmal zur Norm gemachte Verhalten nicht mehr notwendig ist. Wir müssen uns fragen, wieso in die Sexualität eine Hemmung eingebaut wird. Ich glaube, dass sich da etwas tief eingeprägt hat. Und das wäre in der Tat eine Folge der kollektiven Erfahrung.

Es gibt eine moralische Komponente.

Ja. Es ist, als ob das Über-Ich, also die regulierende Instanz der Persönlichkeit, Schwierigkeiten mit der sexuellen Entfaltung hat und hier besonders wirksam wird und dieses Gesundheitsbewusstsein einbringt. Halte ich mich konsequent an diese Instanz, werde ich auch nicht mit meinem Schamgefühl konfrontiert.

Ich werde den Gedanken nicht los, dass Crystal Meth in diesem Zusammenhang zu sehen ist – eine Droge, die Schamgefühle ausschaltet oder in hohem Maße mindert. Dass Drogen beim schwulen Sex eine Rolle spielen, ist nicht neu, aber hier sehe ich doch eine andere Qualität. Oder geht dir das zu weit?

Du hast in einer Sache Recht: Es hat etwas mit Scham und Hemmungen zu tun, und diese eine Droge enthemmt eben besonders gut. Wir hätten viel früher eine Diskussion über Promiskuität führen müssen – nicht, um sie abzuwerten, sondern um sie aufzufächern und zu gucken, welche Bedürfnisse wir damit ausdrücken.

Hat die Aids-Katastrophe nicht auch dazu geführt, dass uns Promiskuität und bestimmtes Verhalten der schwulen Sexualität heute stärker psychisch belastet als in den Siebzigern und Achtzigern? Heute wird dieses Verhalten mit Krankheit assoziiert und auch stärker eine andere Form der Sexualität innerhalb einer Beziehung gefordert als damals.

Ich glaube, es scheitern heute nicht mehr Menschen als früher an einer idealisierten Vorstellung von Sexualität und Beziehung. Ich bin überzeugt, dass die Schwulen hinter dem, was sie in den Siebzigern gemacht haben, innerlich gar nicht standen. Diese Spaltung in zwei Bezirke der Person, einem, der sich mit Normalität identifiziert, und einem, der sie überschreitet, hat es schon ganz lange gegeben.

„Alle Schwulen sind tendenziell promisk sowie tendenziell beziehungsfähig“

Nur wurde die „Untreue“ auf einmal belastet, die war plötzlich unglaublich folgenreich. Und es mussten dann Vereinbarungen getroffen werden: also wenn schon, dann safe und so weiter. Plötzlich wird einem ein hohes Maß an Rationalität abverlangt, um eine bestimmte Form von Sexualität und Beziehung zu leben. Das wäre sicherlich ohne Aids nicht gekommen.

Welche Aufgaben liegen nun vor uns? Ist es dann nicht wichtig, dass wir promiskes Verhalten und das „Perverse“ noch einmal neu bewerten?

Oder eine andere Beziehung dazu bekommen. Seit unserem Buch „Der gewöhnliche Homosexuelle“ von 1974 haben Reimut Reiche und ich immer wieder die These stark gemacht, dass alle Schwulen tendenziell promisk sowie tendenziell beziehungsfähig sind. Diese Einstellung würde ich begrüßen. Dann gäbe es weniger von der mich doch stark erregenden Heuchelei, indem das schwule Paar vorgespielt wird, welches sich an das heterosexuelle Paar anschließt. Das ist für mich wirklich ein heteronormativer, fantasierter Anschluss. Im Diskurs mit Heterosexuellen können wir bis heute nicht sagen: ‚Wir sind ein liebendes schwules Paar. Aber wir leben Sexualität nicht so, wie ihr sie mühsam lebt. Es gibt da eine Differenz, die wir gut integriert haben. Und trotzdem beharren wir entschieden auf der gesellschaftlichen Anerkennung, aber mit dieser Differenz!‘

Hätte es HIV/Aids als kollektives Trauma nicht gegeben, wäre es vielleicht sehr viel leichter gewesen, das schwule Begehren in Form von Promiskuität positiver zu besetzen, auch wenn es den normativen Druck der Mehrheitsgesellschaft natürlich genauso gegeben hätte.

Ja! Ohne das, was aus HIV/Aids für das schwule Begehren abgeleitet wurde, wäre natürlich eine andere, viel individuellere Entwicklung denkbar geworden. Man hätte dann vielleicht irgendwann gemerkt, dass einem das viele Rumficken nicht guttut, oder ein offenes Ohr dafür bekommen, was man in seiner Umgebung so anrichtet. Das wäre natürlich auch nicht frei von allgemeinen Vorstellungen, aber doch nicht in diesem Maße normativ ausgerichtet. Wir haben diese Diskussion aber nicht geführt, und Aids hat verhindert, ein „gutes schwules Leben“ jenseits all dieser unglaublichen Anforderungen, die durch die Krankheit in die Welt gekommen sind, zu reflektieren. Ich fände das eine spannende Diskussion, und diese ginge anders aus, wenn sie nicht immer auf Gesundheit, Vermeidung von Ansteckung, Krankheit und Tod Bezug nehmen würde.

Vielen Dank für das Gespräch!

*Dieser Text ist Teil eines Dossiers zum Trauma Aids. Hier eine Übersicht über die Beiträge: