Übergewicht ist nicht gleich Übergewicht

Mein letzter Artikel  war zugegebener Maßen etwas provokant. Wenn man aber die Kommentare würdigt, hat er immerhin gezeigt, wie wichtig es ist, mit Missverständnissen aufzuräumen. Ich will das versuchen. Dabei gilt es zu bedenken, dass ich mich zwar einigermaßen als Experte für Präventivmedizin fühle, aber nicht unbedingt als einer auf dem Gebiet des primären Übergewichts.
Sprich, es ging mir in meinem Text um Übergewicht als Symptom und nicht als Diagnose oder Krankheit.
In meinem  Artikel Abnehmen ist so einfach ging es eindeutig um Präventivmedizin, in diesem speziellen Fall um die Bekämpfung der Risikofaktoren für das Herz-Kreislaufsystem. Das steht im ersten Absatz und wird im folgenden deutlich gemacht. In diesem Zusammenhang ist das Thema Übergewicht ein Teil des Risikoverhaltens insgesamt, allerdings ein Teil, der immer mehr an Bedeutung gewinnt.
In dem Artikel ging es nicht um Essstörungen, wie Binge Eating oder Bulimie, nicht um Genetik, um Fettsucht, Fehlfunktionen von Hormonen, Nebenwirkungen von Medikamenten und dergleichen mehr. Das ist ein Kapitel für sich, bei dem es mir nur bedingt zustünde, es zu kommentieren. Im Einzelgespräch mit Patienten versuche ich in diesen Fällen, die Behandlung von Betroffenen anzubahnen und, ob es der Leser glaubt oder nicht, ich komme gut mit diesen Patienten aus und spüre viel Empathie. Aber für einen öffentlichen Artikel zu diesem speziellen Thema fühlte ich mich nicht zuständig.
Wenn wir also von Risikofaktoren für das Herz-Kreislaufsystem sprechen, geht es vor allem um die ständige Zunahme des teils gedankenlosen, teils verantwortungslosen Umgangs mit dem eigenen Körper. Es geht um Lustbefriedigung, Bequemlichkeit, Verführung, Konsumdruck und nicht zuletzt auch Faulheit mit dem möglichen, schleichenden Übergang in ein Suchtverhalten.
Die Zunahme an Todesfällen, die auf Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems zurückzuführen sind, ist eklatant. Die Zunahme an “Altersdiabetes” ist so eklatant, dass sogar die Bezeichnung geändert werden muss. Nicht einmal im Volksmund hat der Ausdruck Altersdiabetes noch seine Berechtigung. Dabei bleiben Nikotin und Alkohol ein Problem. Aber wenn wir uns um Alkoholsucht kümmern, um Nikotinsucht (und andere seltenere Suchtverhalten), dann sollten wir uns auch um die “Einstiegsdrogen” Zucker und Fett unterhalten können.
Ich sage es noch einmal: Hierbei geht es mir nicht um primäre Essstörungen oder Fettsuchterkrankungen. Hierbei geht es auch nicht um strengste Disziplin, Schlankheitswahn, Abschwören von Lebensfreude und Askese. Hierbei geht es mir um Prävention, um Aufdecken von kollektivem Fehlverhalten und Fehlverhalten des Individuums, um Anhäufungen von Risikofaktoren, die zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen.
Mein Problem als langjähriger Hausarzt ist, dass so Vieles vorhersehbar ist:
Dem Patienten der vorgestern einen Herzinfarkt erlitten hat, habe ich vor fünfzehn Jahren schon ins Gewissen geredet. Die Patientin, die letzte Woche einen Schlaganfall mit Halbseitenlähmung erlitten hat, habe ich schon vor acht Jahren von Ernährungsumstellung und Radsport überzeugen wollen. Der kürzliche Tod eines jungen Familienvaters war so vorhersehbar wie die Weihnachtstage nach der Adventszeit – und ganz bitter.
Sicher, man könnte sagen, das alles ist Versagen des Arztes. Er hat es einfach nicht geschafft seine Patienten auf den richtigen Weg zu führen. Ich persönlich fände das für mich zu einfach. Mein eigenes Essverhalten ist nicht immer druckreif, ebenso wie gelegentlich die Kurve meines Körpergewichts. Aber ich weiß, wer daran Schuld ist. Und ich wiederhole es ein letztes Mal, hier geht es in den allermeisten Fällen nicht um Krankheit, sondern um Gedankenlosigkeit oder Fahrlässigkeit.

In solchen Artikeln liegt übrigens meiner Meinung nach eine der Antworten, warum Ärzte so fleißige Blogger sind. Sie wollen (unter anderem) ihren persönlichen Kampf fortsetzen, den Kampf gegen das eigene Versagen, das Versagen der Patienten, den Kampf gegen Missstände in der Gesundheitspolitik und der Gesundheitswirtschaft und somit den Kampf gegen vermeidbare Fehlentwicklungen, Krankheiten und Todesfälle. Das grenzt manchmal an Besserwisserei, an Anmaßung, vielleicht auch an Übertreibung und Überbewertung, sogar Irrtum ist nicht ausgeschlossen. Wie ich schon an anderer Stelle behauptet habe: Ärzte sind auch nur Menschen. Eine Behauptung übrigens, die immer seltener Widerspruch erfährt, und das ist auch gut so.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *