Der lange Weg eines Nierensteins 1/8

Prolog
Letzte Woche kam Herr M. aus dem Dorf H. zu mir in die Sprechstunde. Ich kenne ihn seit Jahren. Er war Tischler. Bei unserer ersten Begegnung in der Praxis vor über 20 Jahren saß er mir im verstaubten Overall und mit durchblutetem Fingerverband gegenüber. Inzwischen ist Herr M. seit Jahren Rentner und macht das, was sich so viele älter werdende Arbeitnehmer vornehmen und so wenigen gelingt: Er genießt seinen Ruhestand. Er hat immer gern gearbeitet, aber auf die Zeit nach seinem Arbeitsleben hat er sich gefreut, weil er endlich ausgiebig mit der Bahn kreuz und quer durch Deutschland und Europa reisen wollte.
Die Odyssee
Herrn M.s Wunschvorstellung war es immer, sich ohne zeitliche und örtliche Vorgaben in die Bahn zu setzen, loszufahren und dann zu sehen, wohin es ihn treibt. Meist begleitet ihn seine Ehefrau. Zuletzt war er allein unterwegs. Das Ende dieser letzten Reise wurde fürchterlich. Die Rückkehr aus der wunderbaren Bahnwelt der Schweizer Berge wurde zur Odyssee. Das Problem von Herrn M. am Ende seiner Reise war drei Millimeter groß.
In acht Teilen will ich seine Odyssee erzählen. Der Patient hat nicht einmal verlangt, dass ich seine Anonymität wahre. Ich tue es trotzdem. Das ändert nichts am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte, obwohl man es manchmal kaum glauben mag.
Unterbrochen wird die Odyssee immer wieder von medizinischen Erläuterungen, dort wo sie notwendig sind und vielleicht auch interessant.
Der Weg eines Nierensteins
Räumlich gesehen hat ein Nierenstein nicht viel Weg hinter sich zu bringen. Vom Nierenbecken bis zum erlösenden Plumps ins Toilettenbecken sind es weniger als einen halben Meter. Nierenbecken-Harnleiter-Harnblase-Harnröhre-Harnausgang, das sind die mehr oder weniger schmerzhaften Etappen eines Nierensteines.
Lang, sehr lang kann der Weg eines Nierensteines allerdings werden, wenn man nicht den Raum sondern die Zeit betrachtet. Die Wanderschaft eines Nierensteines kann Minuten, Stunden, Tage oder Wochen dauern. Bei Herrn M. aus H. wurden es Monate.

Lesen Sie weiter im nächsten Teil.

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