Der lange Weg eines Nierensteins 4/8

Im Speisewagen
Herr M. aus H. war auf dem Weg nach Hause, als er sich im Speisewagen des ICE nach Hannover Kaffee und Kuchen gönnte. Er bestellte sich eine zweite Tasse Kaffee und das Unheil nahm seinen Lauf. Er konnte nicht ahnen, dass es vielleicht die harntreibende Wirkung des Kaffees war, die seinem kleinen Stein im linken Nierenkelch ausgerechnet in diesem Moment einen fatalen Schwung gab. Er wusste nichts von diesem Stein und letztlich spielte es keine Rolle.
Der Nierenstein nahm seinen Weg Richtung Ausgang. Das eckige Kristall war zu klein, um sich einfach festzusetzen und zu groß, um problemlos ausgespült zu werden. Während Herrn M. seinen Kaffee trank, verkeilte sich der Stein im Harnleiter, also im Schlauch unterhalb des Trichters. Der Kristall war spitz und scharfkantig und rutschte Bruchteile von Millimetern, stoppte und rutschte.
Was so einfach klingt, löste eine Welle von Schmerzen aus. Aus heiterem Himmel krümmte sich Herr H., kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, er wurde blass und musste sich am Tisch festhalten. Jemand brachte ihm ein Glas Wasser und nach einer Weile wurde es etwas besser. Aber nur für einen kurzen Moment.
Die Odyssee beginnt
Auf dem Weg zurück in sein Abteil, überfallen Herrn M. weitere Schmerzattacken. Er wankt, weil er glaubt, seine linke Flanke zerreißt. Leute schütteln den Kopf und schimpfen, weil sie nicht verstehen, wie man sich im Zug so betrinken kann.
Herr M. erreicht sein Abteil und lässt sich auf die Sitze fallen. Nach qualvollen Wellen ist es nicht nur der Schmerz, der ihn plagt. Er hat Angst. Er weiß nicht, was mit ihm los ist. Die Diagnose Nierenstein ist noch nicht gestellt, und es wird auch noch ein bisschen dauern.
Schmerzintervalle
Kurz bevor der ICE in Hannover einfährt, ist Herr M. entschlossen, nicht in seinen Anschlusszug zu steigen, sondern sich in der Landeshauptstadt auf der Stelle in ärztliche Behandlung zu begeben. Er ist sicher, dass er ins Krankenhaus muss. So ein Schmerz kann nichts Gutes bedeuten.
In Hannover auf dem Bahnsteig ist der Schmerz weg, so plötzlich wie er gekommen ist. Herr M. ist erleichtert. Er drückt seine Flanke und seinen Bauch ab – alles in Ordnung. Zu diesem Zeitpunkt hat sein Nierenstein eine Lage im Harnleiter erreicht, die keine Verkrampfung der Harnleitermuskulatur auslöst. Der Nierenstein liegt stabil. Es herrscht Ruhe im harnableitenden System – vorübergehend.
Kaum sitzt Herr M. in der Regionalbahn, geht es von vorn los. Vernichtungsschmerz erfasst ihn in immer kürzeren Abständen. Egal, was wird, schwört er sich jetzt, er wird in der Kreisstadt aussteigen, um sich direkt ins Krankenhaus zu begeben. Nicht noch einmal will er sich täuschen lassen. Weiter hinten im Waggon feiert eine Gruppe Männer ausgiebig irgendeinen Sieg. Tröten und lauter Gesang ziehen Herrn M. ins Mark, sein Kopf dröhnt und seine Flanke wird von einem Untier zerrissen.
Der erste Krankenhausaufenthalt
Es ist ein langer Leidensweg, aber schließlich ist es geschafft. Herr M. steigt aus dem Taxi und betritt das Krankenhaus. Im Moment ist der Schmerz erträglich aber immer da. Er schildert der Dame am Empfang sein Problem, die erkennt sein Leid und verweist ihn in die Ambulanz.
„Gleich da drüben“, sagt sie, „ich rufe an, damit Sie sofort behandelt werden.“
Herr M. ist erleichtert. Man nimmt sich seiner an. Allerdings weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass nur das gleich, von gleich da drüben seine Berechtigung hatte. Tatsächlich sind es nur ein paar Schritte bis in die Ambulanz. Das sofort von sofort behandelt, dauert dreieinhalb Stunden. Hinterher wird Herr M. von dieser Zeit sagen, dass es ihm im Zug besser ging, dort hatte er wenigstens etwas zu trinken und einen ordentlichen Sitzplatz. In der Ambulanz muss er 210 Minuten dursten und auf einem harten Stuhl sitzen. Erst als er von diesem kippt, nimmt man sich seiner an.

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