Heute, am 16. August 2010, hat vor dem Amtsgericht Darmstadt der Prozess gegen die Sängerin Nadja Benaissa begonnen. Immer wieder landen Fälle vor Gericht, in denen es um (potenzielle) HIV-Übertragungen geht. In der Bundesgeschäftsstelle der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. (DAH) hat eine kleine Arbeitsgruppe vier Prinzipien zu diesem Thema formuliert, die ihrer Ansicht nach gelten sollten.
Die Gruppe stellt das Papier im DAH-Blog unter blog.aidshilfe.de zur Diskussion und lädt herzlich zu Anmerkungen und konstruktiver Kritik ein.
HIV und Strafrecht: Vier Prinzipien
Die Kriminalisierung der HIV-Übertragung ist kein Mittel der Prävention, sondern wirkt sich kontraproduktiv aus: Sie lässt die Illusion entstehen, der Staat habe HIV unter Kontrolle und HIV-Positive trügen die alleinige Verantwortung für den Schutz vor einer HIV-Übertragung. Wenn Menschen aber glauben, dass allein die HIV-Positiven für den Schutz vor HIV verantwortlich sind, kann dies dazu führen, dass sie ihr eigenes Schutzverhalten vernachlässigen.
Hinzu kommt: Nur eine Person, die weiß, dass sie HIV-positiv ist, kann strafrechtlich belangt werden. Die Kriminalisierung der HIV-Übertragung führt unter Umständen dazu, dass Menschen sich nicht auf HIV testen lassen – nach dem Motto: Wer nicht getestet ist, kann strafrechtlich nicht verantwortlich gemacht werden. Darüber hinaus leistet sie der Stigmatisierung von HIV-Positiven Vorschub, was einem selbstbewussten Umgang mit der HIV-Infektion im Wege stehen kann.
Auf der anderen Seite gibt es aber durchaus Fälle, in denen die HIV-Übertragung eine strafrechtliche Bedeutung hat, zum Beispiel, wenn das Gegenüber arglistig getäuscht wurde, Vertrauen ausgenutzt wurde oder eine Ansteckung beabsichtigt war.
In jedem Fall aber sollten, wenn HIV vor Gericht eine Rolle spielt, folgende Prinzipien gelten:
1. Bei sexuellen Begegnungen gilt das Prinzip der geteilten Verantwortung.
HIV-Prävention bedeutet in unserem Verständnis, dass alle Beteiligten lernen müssen, sich nicht auf andere zu verlassen, sondern den Schutz vor HIV in die eigene Hand zu nehmen. Daraus folgt für uns zum Beispiel, dass von Menschen mit HIV bei Gelegenheitskontakten oder am Beginn neuer Beziehungen nicht gefordert werden kann, ihre Infektion offenzulegen – wohl aber, dass sie ihre Verantwortung für den Schutz vor einer HIV-Übertragung wahrnehmen wie ihre Partner/innen auch.
Wir gehen dabei vom Prinzip der geteilten Verantwortung aus. Eine einseitige Zuschreibung von Verantwortung an Menschen mit HIV ist nicht nur ethisch unhaltbar, sondern auch kontraproduktiv für die Verhütung von HIV-Übertragungen (siehe Einleitung).
Geteilte Verantwortung heißt für uns, dass wir die Partner/innen in sexuellen Begegnungen – ob HIV-positiv getestet, ungetestet oder HIV-negativ getestet – grundsätzlich „auf gleicher Augenhöhe“ sehen, als freie und gleichberechtigte Menschen, die auf der Grundlage von Informationen und Kommunikation gemeinsame Entscheidungen treffen oder den Schutz vor einer Übertragung in die eigene Hand nehmen können.
Es kann allerdings Fälle geben, wo diese gleiche Augenhöhe nicht gegeben ist, zum Beispiel, wenn ein Partner/eine Partnerin aufgrund von Alkohol- und Drogenkonsum nur noch eingeschränkt handlungsfähig ist, bei Abhängigkeiten, Zwang oder verminderten kognitiven Fähigkeiten. In solchen Fällen kommt dem Gegenüber in der überlegenen Position eine größere Verantwortung zu. Wir sehen daher die Einzelne/den Einzelnen nie allein mit ihrer/seiner Verantwortung, sondern immer auch die Mitverantwortung der anderen (bzw. für die anderen).
2. Auch HIV-Positive haben das Recht auf Unvoreingenommenheit.
Viele juristische Auseinandersetzungen um (potenzielle) HIV-Übertragungen finden im Kontext enttäuschter Beziehungswünsche statt. Richter sind auch hier gefordert, Menschen mit HIV unvoreingenommen zu begegnen, ihnen also nicht per se weniger Glaubwürdigkeit beizumessen als Nichtinfizierten. Dazu gehört gegebenenfalls auch, sich vom medial gezeichneten Bild der „verantwortungslosen Positiven“ freizumachen. Wichtig ist, dass sich Öffentlichkeit und Justiz nicht vor den Karren von „Beziehungsabrechnungen“ spannen lassen.
3. Im Spannungsfeld zwischen Recht und Prävention ist ein differenziertes und sensibles Vorgehen nötig.
Die DAH beschäftigt sich mit dem Thema Recht und HIV vor allem aus zwei Perspektiven:
• aus der Perspektive der Menschenrechte
• aus der Perspektive der Prävention.
HIV-Prävention im Sinne von „New Public Health“ will Menschen zum selbstbestimmten und verantwortungsvollen Umgang mit HIV und Aids befähigen. Die deutsche Linie der HIV- und Aidsbekämpfung ist gerade deshalb so erfolgreich, weil sie von der Mündigkeit und Verantwortung jedes einzelnen Menschen ausgeht. Und weil sie z. B. dafür sorgt, dass HIV-Positive nicht stigmatisiert werden, sondern ihre schwierige Situation im Umgang mit dem „gesellschaftlichen Makel“ HIV anerkennt.
Wenn (potenzielle) HIV-Übertragungen juristisch aufgearbeitet werden, müssen Justiz und Medien daher differenziert und sensibel vorgehen – und sollten mögliche Folgen für die Prävention beachten. „Mediale Treibjagden“ auf angeblich verantwortungslose HIV-Positive z. B. verschärfen das Stigma HIV und dürften es Menschen mit HIV eher erschweren, ihren HIV-Status offenzulegen und damit ihren Partner(inne)n einen verantwortungsvollen Umgang mit der Infektion zu ermöglichen.
4. Das veränderte Leben mit HIV erfordert eine veränderte Rechtsprechung.
Die bisherige Rechtsprechung orientierte sich an einem Bild von HIV, das mit hohen Übertragungswahrscheinlichkeiten (zum Beispiel beim Sex ohne Kondom), schnellem Siechtum und Tod verbunden war. Die HIV-Infektion ist aber inzwischen zu einer behandelbaren chronischen Erkrankung geworden. Wer sich heute mit HIV infiziert, kann bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung mit einer annähernd normalen Lebenserwartung rechnen.
Außerdem kann durch eine antiretrovirale Therapie die Übertragungswahrscheinlichkeit wirksam gesenkt werden. Solche Veränderungen müssen stärker in die Rechtsprechung einfließen. Galt bisher das Einbringen eines Kondoms in die sexuelle Kommunikation als ausreichender Beweis, eine HIV-Übertragung verhindern zu wollen, stellt sich die Frage, ob die korrekt angewendete „Viruslastmethode“ heute nicht gleichermaßen bewertet werden müsste, bietet sie doch eine vergleichbare Sicherheit (vgl. hierzu das DAH-Positionspapier „HIV-Therapie und Prävention“ vom April 2009).
Berlin, im August 2010
Silke Eggers, Karl Lemmen, Marianne Rademacher, Holger Sweers, Stefan Timmermanns