Frau Namenlos

Wieder mal mache ich mich schlaftrunken auf den Weg zur Notaufnahme.
„Zugang mit Polizei!“ hatte Marvin am Telefon angekündigt.
Zugang mit Polizei, um fünf Uhr morgens am Wochenende, das kann nur Eines bedeuten: Ein Besoffener, der entweder eins aufs Maul bekommen oder selber randaliert hat. Oder auch eine Alkohol-Blutentnahme, aber dann hätte Marvin nicht von einem Zugang gesprochen. Wie dem auch sei, wenn die Polizei im Spiel ist, kann man sich auf Einiges gefasst machen. Von Widerworten über handfeste Bedrohungen bis hin zu Tätlichkeiten ist alles möglich und in der Regel ist man froh, dass die Herren in Grün so lange dabei sind, bis man den Patienten unter Kontrolle hat.
Okay. Kittel übergeworfen, kurz aufs Klo und los gehts.
Auf alles bin ich gefasst, nicht aber auf die betagte Dame – auf den ersten Blick geschätzt mindestens fünfundachtzig Jahre alt – die da mit Mantel, Stock und Hut auf einem Stühlchen sitzt und mich mit treuen Augen anschaut.
„Guten Tag, Frau…“
„Vergessen Sie es,“ sagt der eine Polizeibeamte, „Sie weiß Ihren Namen nicht!“
„Aha?“
„Sie ist um halb vier Uhr morgens auf einer Bank gesessen und auf den Bus gewartet!“
„Wo wollte sie hin?“
„Das wusste sie nicht so genau. Abgesehen davon war weit und breit keine Bushaltestelle.“
„Ein später Nachtschwärmer hat sie gefunden und angesprochen,“ berichtet der zweite Polizist, „dem kam die ganze Sache spanisch vor, also hat er uns angerufen. Aber was machen wir nun mit ihr?“
Tja, das ist eine gute Frage.

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