Ein Beitrag von Peter Wiessner.
Sex zwischen Männern – in Osteuropa und Zentralasien gibt es so etwas einfach nicht. Folglich braucht es dort auch keine darauf zielenden HIV-Präventionsprogramme. So sieht man es in der Region auf offizieller Seite.
Vom 22. bis 24. November 2010 richteten nun die Vereinten Nationen in Kiew eine Konferenz zum Thema aus. Titel: „Eine versteckte Epidemie: HIV bei MSM und Transgender in Osteuropa und Zentralasien“. 150 Personen aus 15 Ländern der Region nahmen daran teil, darunter Regierungsvertreter, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), und Transgender (TG).
Die Konferenz sollte verdeutlichen, dass es auch in dieser Region MSM und TG gibt und diese Gruppen in HIV-Programmen unbedingt berücksichtigt werden müssen. Anlass war ein von UNAIDS und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) erstellter Aktionsplan zur Förderung eines universellen Zugangs für MSM und TG zu HIV-Prävention, Versorgung und medikamentöser Behandlung.
Die Erde ist keine Scheibe. Oder doch?
Die auf der Konferenz präsentierten Zahlen waren so eindeutig, dass es wundert, weshalb MSM und Transgender in den HIV-Programmen so vieler Länder nicht angemessen berücksichtigt werden. Nach Angaben des Globalen Forums für MSM mit HIV (www.msmgf.org) haben MSM weltweit ein 19-fach höheres HIV-Infektionsrisiko als die Allgemeinbevölkerung. Trotzdem fließen nur 1,2 Prozent der global für HIV-Prävention und -Versorgung ausgegebenen Gelder in Programme für diese Gruppe. Nur einer von 20 HIV-positiven MSM hat Zugang zu HIV-Medikamenten, und lediglich ein Viertel aller Länder weltweit berücksichtigt MSM und TG in ihren HIV/Aids-Strategien.
Auch in Osteuropa und Zentralasien werden diese Gruppen „übersehen“ – obwohl in den Städten der Region die HIV-Prävalenz bei MSM zehnmal höher ist als in der übrigen Bevölkerung. Wenn man diese Zielgruppe nicht endlich wahrnimmt und in HIV-Programme einbezieht, wird sich die kritische Situation weiter verschlechtern.
HIV-Prävention für diese Gruppen setzt voraus, dass die Politik ihre Existenz nicht länger verleugnet beziehungsweise sie nicht weiter kriminalisiert. Viel zu lange hat man sie einem „unmoralischen Lebensstil des Westens“ zugeordnet. Verlautbarungen der Kirchen tragen dazu bei, dass diese Sichtweise bestehen bleibt. In einigen Ländern der Region, beispielsweise in Russland, gelten Homo- und Transsexualität als psychiatrische Erkrankungen. Homosexuelle Handlungen können verfolgt und bestraft werden. Entsprechend hoch ist das Maß an Diskriminierung und Selbststigmatisierung.
Die Entwicklung von Präventionsangeboten wird dadurch erschwert. In Weißrussland beispielsweise gibt es zwar eine Nicht-Regierungsorganisation (NGO), die HIV-Prävention für MSM betreibt, und ein Kommunikationszentrum für diese Männer. Doch das Justizministerium verweigerte die Registrierung der NGO als eine für MSM, und das Kommunikationszentrum läuft offiziell als „Beratungszentrum“. Das MSM-Selbsthilfezentrum in Kiew, das auch Vor-Ort-Arbeit anbietet, befindet sich versteckt in einem Hinterhof. Kein Schild weist darauf hin – die Nachbarn sollen nicht wissen, was sich hinter der Tür verbirgt.
Man könnte darüber lachen, würden nicht Menschen mit ihrem Leben bezahlen
Mehrere Referenten betonten, wie schwierig es sei, konkrete Angaben zu MSM und zu HIV-Übertragungen in dieser Gruppe zu erhalten. Zugleich verwundert es nicht, dass MSM ihr Sexualverhalten im Verborgenen halten und bei Test und Behandlung oft weniger „anrüchige“ Übertragungswege angeben: Gerade beim medizinischen Personal ist oft eine sehr abfällige Haltung zu beobachten. All das trägt dazu bei, den Schwindel aufrechtzuerhalten, wonach es in der Region keine nennenswerte Epidemie unter MSM gebe und folglich auch keine HIV-Programme zu starten und zu fördern seien.
Nach Schätzungen von NGOs, der WHO und von UNAIDS leben in der Ukraine derzeit 177.000 bis 430.000 Männer, die Sex mit Männern haben. Zwischen 3 und 15 Prozent von ihnen dürften HIV-infiziert sein – dies übersteigt die Zahlen der offiziellen Statistiken um mehr als das Hundertfache.
Vollkommen außer Acht gelassen werden Settings, in denen es gehäuft zu Sex zwischen Männern kommt. Laut Olena German, Mitarbeiterin einer in ukrainischen Gefängnissen engagierten NGO, berichten 85 bis 90 Prozent der Häftlinge von homosexuellen Kontakten, aber lediglich 2 Prozent von ihnen definieren sich als schwul. 20 Prozent der Gefangenen böten Sex gegen Geld an. Die HIV-Prävalenz unter den derzeit 152.000 Gefangenen wird auf 3,5 bis 12 Prozent geschätzt.
Auf der Konferenz wurden viele weitere Beispiele dieser Art präsentiert. Sie ließen überdeutlich werden: In Osteuropa und Zentralasien muss dringend gehandelt werden, zielgruppenspezifische Prävention muss in den Fokus rücken. Den Organisatoren der Konferenz gebührt großes Lob, dass sie für dieses Anliegen ein Forum geschaffen haben.