Die Erzählung „Hannah Baumanns letzter Morgen“ in sieben Teilen ist tragisch und alltäglich zugleich. Sie beleuchtet eines der großen Probleme unserer Gesellschaft in der Gegenwart und noch viel mehr in der Zukunft: Die späten und zu späten Entscheidungen im Alter und Hochalter.
Das Ende
Morgens fuhr bei Baumanns der Krankenwagen vor und mittags hieß es, Hannah Baumann läge nach einem Schlaganfall im Sterben. Ein Gerücht, das in Windeseile durch die Gartentore und Treppenhäuser der Siedlung stürmte. Die Meldung stimmte und sie stimmte nicht. Als nämlich die Neuigkeit die Wohnungstüren erreichte, lag Hannah Baumann nicht im Sterben, sie war bereits tot. Außerdem hatte ihr letzter Morgen nicht mit einem Schlaganfall begonnen sondern geendet.
Die Wahrheit war, Hannah Baumann war im Bad gestürzt, hatte eine Stunde oder länger nackt auf den Fliesen gelegen und sich nicht rühren können.
Nach einer endlos langen Zeit war ihr Mann gekommen, um die Toilette zu benutzen. Er sah sie im Badezimmer liegen.
Geh, sagte er zu ihr, ich muss mal. Aber seine Frau rührte sich nicht, stattdessen jammerte sie und blieb liegen. Karl Baumann verließ ärgerlich das Bad, ging in die Küche, setzte sich an das Tischchen unter dem Fenster und wartete. Er wartete auf das Frühstück. Als nichts geschah, erhob er sich, schlug unwirsch mit der Hand auf den leeren Tisch und ging hinaus auf den Flur. Dort hob er den Telefonhörer ab und drückte die Acht. Die einstellige Kurzwahl war eine Art Reflex, der trotz allem geblieben war, weil Karl Baumann in den letzten Jahren keine andere Zahl gewählt hatte.
Als sich seine Tochter am anderen Ende meldete, beschwerte er sich bei ihr, er sei hungrig und Mutter trödele im Bad, sie jammere in einem fort. Die Tochter ahnte, was das bedeuten konnte und fuhr los.
Im Elternhaus erwartete sie ihr Vater in der Küche, ungeduldig ging er im Schlafanzug auf und ab. Seine Hose war nass. Die Tochter grüßte kurz und winkte ab, als der Vater sie auf das Frühstück ansprach. Sie hätte gern geschimpft, aber das war sinnlos. Sie sah im Badezimmer nach und entdeckte ihre nackte Mutter, die leise weinte und versuchte zu berichten, was geschehen war.
Hannah Baumann wurde endlich medizinisch versorgt. Ihr Oberschenkel war gebrochen. Der Schlag traf sie erst später – im Krankenhaus.
Vier Stunden nachdem die Tochter bei den Eltern eingetroffen war, um elf Uhr vormittags, klingelte das Telefon bei den Baumanns. Die Tochter nahm das Gespräch an und erfuhr vom Tod ihrer Mutter. Sie holte dem Vater eine Flasche Bier aus dem Keller, damit er für eine Weile zufrieden war und ging ins Bad. Dort setzte sie sich auf den Hocker, stützte ihren Kopf in beide Hände und weinte. Sie fragte sich, was genau in diesem Zimmer Stunden zuvor mit ihrer Mutter geschehen sein mochte?
Genau genommen nicht viel. Der Morgen hatte für ihre Mutter begonnen wie jeder andere Morgen in den letzten Jahren:
Lesen Sie am Wochenende weiter im 2. Teil dieser kleinen Serie!
Edzard Dacher, in meinem Buch Spätvorstellung, hat bewusst versucht, sein Leben rechtzeitig auf das Altern einzurichten. Wie er dazu gekommen ist und ob ihm das immer gelungen ist, können Sie selbst lesen. Klicken Sie hier!