Arztbesuch mit Hindernissen – Eine Übersicht der Stiftung Gesundheit zeigt: Barrierefreie Praxen sind nicht immer leicht zu finden

Dieses Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der Stiftung Gesundheit, Dr. Peter Müller, ist am 20. Februar 2013 im Magazin des Kölner Stadtanzeigers, Nr. 43, erschienen. Das Gespräch führte Silke Offergeld.

Herr Müller, die Stiftung Gesundheit hat gerade eine Übersicht über die Barrierefreiheit von Arztpraxen erstellt. Aber was bedeutet das Schlagwort eigentlich genau?

PETER MÜLLER Auf jeden Fall viel mehr als nur „rollstuhlgerecht“. Es gibt neben Mobilitätseinschränkungen – vom Angewiesensein auf einen Stock, Rollator oder elektrischen Rollstuhl – ja auch Hörschädigungen, Sehbehinderungen und kognitive Einschränkungen. In den USA spricht man von „Accessibility“, also Erreichbarkeit, Zugänglichkeit – das beschreibt besser, worum es geht. Dafür sind Behindertenparkplätze genauso wichtig wie Gebärdendolmetscher und taktile Leisten.

Jahresrückblick Teil II: Barrierefreiheit im Fokus

Nach meiner Rundumrückschau im ersten Teil meines Jahresrückblicks geht es jetzt um ein Thema, das mir und auch meinen Kolleginnen und Kollegen hier in der Stiftung Gesundheit ganz besonders am Herzen liegt: Barrierefreiheit, genauer Barrierefreiheit in der ambulanten medizinischen Versorgung. Wie Sie vielleicht bereits aus meinem Blog der ersten Januarwoche wissen, haben wir uns auch für 2013 in diesem Bereich viel vorgenommen.

Bei allen guten Vorsätzen wollen wir aber nicht vergessen, dass sich gerade im Bereich der Barrierefreiheit im vergangenen Jahr viel bei der Stiftung Gesundheit und der Stiftung Gesundheit Fördergemeinschaft getan hat. Aber warum ist uns dieses Thema so wichtig?

2013 soll barrierefrei werden

Der Jahreswechsel ist der rechte Moment für gute Vorsätze. Ich schlage vor: Lassen Sie uns im Jahr 2013 Barrieren einreißen.

Denn davon gibt es viele. Mein frommer Wunsch ist, dass gleichermaßen Menschen mit Bewegungseinschränkungen, Hör- und Sehbehinderungen wie auch kognitiven Einschränkungen keine Hindernisse mehr überwinden müssen, um öffentliche Einrichtungen zu nutzen: den Personennahverkehr, den Fernverkehr, das Einwohnermeldeamt… Oder sich beim Arzt und Zahnarzt ihrer Wahl behandeln zu lassen. Damit dieser Wunsch in Erfüllung gehen kann, muss jedoch noch viel getan werden.

Publikumspreis: Ihre Stimme für unser Projekt „Barrierefreie Praxis“

„Ohne Moos nix los“ – dieser Spruch trifft nicht nur bei Brettspielen zu, sondern auch im wahren Leben eines gemeinnützigen Projekts. Aus diesem Grund haben wir uns mit unserem Projekt „Barrierefreie Praxis“ für den „Aspirin Sozialpreis“ der Bayer Cares Foundation beworben. Damit möchten wir zum einen das Projekt und damit das gesamte Thema Barrierefreiheit weiter bekannt machen. Zum anderen würde das Preisgeld – so wir denn gewinnen – natürlich helfen, das Projekt noch weiter voranzubringen.

Barrierefreie Versorgung im ambulanten Sektor

Patienten, die auf der Suche nach einem Arzt sind, möchten wissen, wo sie einen bestimmten Facharzt in ihrer Nähe finden, wie die Sprechzeiten sind und vielleicht auch wie es um die medizinische Reputation der Arztes bestellt ist. Für Menschen mit Behinderungen kommt dazu noch die Überlegung, welche Arztpraxis für sie überhaupt zugänglich ist. Liegt die Praxis im ersten Stock ohne Aufzug, können Rollstuhlfahrer sie nicht erreichen. Gibt es keine Orientierungshilfen können, sich sehbehinderte Patienten schwer zurechtfinden. Und das sind nur zwei von vielen möglichen Hindernissen.

Wie ist das mit der freien Arztwahl vereinbar und gibt es einen Rechtsanspruch auf barrierefreie medizinische Versorgung? Mit diesem Thema habe ich mich vor kurzem anlässlich des 13. Deutschen Medizinrechtstags auseinandergesetzt.

Menschen mit Behinderung die freie Arztwahl sichern

Wer eine Behinderung oder chronische Erkrankung hat, ist auf eine optimale und wohnortnahe, medizinische Versorgung angewiesen. Die Probleme beginnen jedoch oftmals schon am Eingangsbereich: Die Praxis ist nur über Stufen erreichbar, bietet keine Informationen in leichter Sprache, hat keinen speziellen Behandlungsstuhl oder kein Blindenleitsystem. Daher ist das Recht auf freie Arztwahl für Menschen mit Behinderung derzeit noch sehr eingeschränkt. Aktuell verfügen nur etwa ein Drittel aller Arztpraxen in Deutschland über einzelne Komponenten der Barrierefreiheit. Sehr viel weniger sind gänzlich ohne Barrieren eingerichtet. Hier besteht noch großer Handlungsbedarf. Die Hürden sind zwar vielfältig, doch sie sind vermeidbar. Gerade wer eine Praxis neu gründet oder einen Umbau bestehender Räume plant, hat die Möglichkeit, von Anfang an auf die entsprechenden Standards zu achten.

Barrierefrei Spiele – Und wie sieht es zu Hause mit der Inklusion aus?

4280 Athleten aus 166 Nationen nehmen an den diesjährigen Paralympics in London teil. Drei Tage vor Ende der Spiele haben deutsche Sportler bereits 46 Medaillen gewonnen, darunter 13 goldene. Noch nie waren die Paralympics in der Öffentlichkeit so präsent wie in diesem Jahr. Faszinierend finde ich vor allem, dass Inklusion, die selbstverständliche Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben, hier kein Problem darstellt: Sowohl das Olympic Village mit seinen Wettkampfstätten als auch das Paralympische Dorf sind durchweg barrierefrei eingerichtet. Das sind in diesem Fall nicht nur Schlafstätten – das Dorf bietet ein Kino, einen Supermarkt, eine Postfiliale, ebenso wie ein Krankenhaus und vieles mehr. Behinderte und nicht-behinderte Athleten trainieren ganz selbstverständlich nebeneinander.

Patientenrechtegesetz – Barrierefreiheit sicherstellen!

Menschen mit Behinderungen können nur dann an der Gesellschaft teilhaben, wenn sie medizinisch ausreichend versorgt sind. Patientenrechte spielen hier eine wichtige Rolle. Wer seine Rechte als Patient nutzen möchte, der muss sie zunächst einmal überhaupt kennen. Auf der Tagungsreihe „Teilhabe braucht Gesundheit“, die ich von November 2010 bis September 2011 durchgeführt habe, wurde unter anderem bemängelt, dass Patientenrechte momentan in unterschiedlichsten Rechtsgebieten erfasst sind, teilweise nur unvollständig.

Kein Raum für Sozialromantik

Da fragte dieser Tage tatsächlich ein Zeitungs-Kolumnist, ob Baumaßnahmen im Sinne der Barrierefreiheit, also Absenken von Bordsteinkanten für Rollstuhlfahrer, Anbringen taktiler Bodenelemente für die Orientierung Blinder, überhaupt „solidarisch“ seien. Oh meine Güte – das war gar nicht als rhetorische Provokation gemeint! Der groteske Argumentationsklimmzug lautete, man solle doch sei­ne Solidarität nicht mit Geld für Baumaßnahmen ableisten, sondern ganz herzig einem Blinden über die Straße helfen. Was für ein Kolum­nisten-Unfug! Es geht nicht darum, je­mandem im Sonnenuntergang über die Straße zu helfen. Es geht um orga­nisatorische Vorsorge für selbstver­ständliche gleichberechtigte Teilhabe.

Wenn ein Arzt einen gehörlosen Patienten hat…

… hat er zunächst ein Kommunikationsproblem. Eine befreundete Ärztin erzählte mir neulich, dass „Gott sei Dank“ ein Dolmetscher dabei war, als sie einen gehörlosen Patienten behandelte. Gerade im Gesundheitswesen kommt es oft zu Missverständnissen bei der Kommunikation. Deswegen hat der Deutsche Gehörlosenbund e.V. eine Broschüre mit Tipps zum Umgang mit gehörlosen Patienten veröffentlicht.

Deutsche Gebärdensprache lernen viele gehörlose Menschen von der Pike auf. Sie besitzt eine eigene Grammatik, die sich grundlegend von der gesprochener Sprachen unterscheidet und ist nicht etwa eine Universal-Sprache, wie viele meinen.