Überfallen…

“Bereitschaftsarzt überfallen und verletzt26. Mai 2010, 08:20 UhrBerlin (dpa/bb) – Ein 58 Jahre alter Bereitschaftsarzt ist in der Nacht zum Mittwoch in Berlin-Pankow von zwei Unbekannten überfallen und beraubt worden. Er war vorher durch einen fingi…

Freiwillig

Altbau am Bahnübergang. Ein heruntergekommenes Mietshaus. Schäbige Briefkästen, klapperige Türklingeln, nicht alle lesbar. Ein muffiger, dunkler Flur. Der Arzt wundert sich manchmal, wie schäbig man in dieser Stadt wohnen kann.

Im Treppenhaus schreit ihm eine Männerstimme entgegen. Wütend, aufgeregt: “Bleiben Sie, wo Sie sind. Sie brauchen nicht raufzukommen. Wir brauchen keinen Arzt. Weg mit Ihnen!” Mal sehen, ob ALLE dieser Meinung sind, dort oben. Dritter Stock, große Altbauwohnung, unaufgeräumt, vernebelt, rauchverhangen. Im Wohnzimmer hat sich die Ehefrau verschanzt mit den drei kleinen Kindern. Sie raucht. Der Größte zeigt mir seinen Gameboy. Die Eltern des Patienten sind in der Küche. Er, um den es geht, Vater der Kinder, Sohn der Eltern, der den Arzt so freundlich begrüßte, tobt durch den Flur. Fremdanamnese: Er habe viel gekifft und sei viel rumgezogen die letzten Tage. Immer verworrener und aggressiver geworden. Frau und Kinder bedroht. Sich selbst bedroht. Und, ja, er sei auch schon mal wegen einer Psychose in … gewesen.

Der Arzt lädt den Patienten auf eine Zigarette ein. Der Gesprächsversuch mündet bald in wütenden Schuldzuweisungen zwischen den Familienmitgliedern. Lauter Streit, noch mehr Rauch. Die armen Kinder. In die Psychiatrie? Nie wieder! Nicht freiwillig. Vergiss es! Er läuft weg. Die Frau flüstert: “Jetzt holt er die Messer”. Doch er hat nur Tabak geholt. Der Arzt gibt ihm zwei Möglichkeiten: Zwangseinweisung oder Freiwilligkeit. Nein, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Entweder oder. Zwangseinweisung käme jetzt allerdings völlig unpassend. Dauert ewig. Draussen warten die nächsten Patienten. Und hier geht das schon seit 20 Minuten nicht voran. Schonmal RTW mit Blaulicht rufen. Klare Ansage. Kompromisslos. Wille gegen Wille.

Langsam lichtet sich der Nebel. Die Situation entwirrt sich. Nimmt eine Richtung an: Freiwillig in die Psychiatrie, der Familie zuliebe. Bitte! Kein Gestreite, keine Schuldzuweisungen, kein Geschrei mehr. Als der RTW unten vorfährt packt er seinen Tabak ein und folgt dem Arzt die Treppe runter.

Freiwillig.

Spritzen haben gut geholfen

Samstag nacht. Hausbesuch. Drei Treppen rauf. Großes Wohnzimmer voller Menschen. Frauen mit Kopftüchern, dazwischen ein Baby. Helles Neonlicht. Ein großer Flachbildfernseher beschallt die Szenerie mit Nachrichten auf arabisch. Eine tunesische Großfamilie.

Dazwischen eine Dame, Mitte dreissig, leidend auf dem Sofa ausgestreckt. Kopfschmerzen, Übelkeit, Unruhe. Und immer neue Beschwerden. Aber die Spritzen haben gut geholfen.
Denn der Notdienst war heute schon mal hier. Und gestern war sie im Krankenhaus, davor beim Hausarzt.

Zwar fand jeder etwas anderes. Die Behandlungsscheine sprechen von Gastroenteritis, Migräne, Depression. Und jeder gab etwas anderes. Diclo, MCP, Diazepam. Aber die Spritzen haben gut geholfen.
So soll es wohl weitergehen an diesem Wochenende. Den Notdienst rufen, Spritze bekommen, Ruhe haben.

Jetzt wäre ein ruhiges Gespräch nötig. Über den Umgang mit Belastungen, ein gesundes Umfeld bei Kopfschmerzen, die Unsinnigkeit von Injektionen, die Gefahr von Benzos.
Doch dieses Gespräch wird niemand jemals mit ihr führen. Nicht in unserem Gesundheitssystem.

Der Arzt verschreibt Vomex-Zäpfchen.

Grippewelle …

146 Patienten nach Weihnachten dekompensiert das System:
Einer der 146 Influenza-Kranken hat den Arzt angesteckt. Und so hat er am Sylvesterabend Schnupfen, Halskratzen und Fieber.
So wie all diejenigen, die er in den letzten Tagen, in sieben KV-Notdiensten, behandelt und beraten hat.
Sie haben Pontius und Pilatus angerufen und sind beim Notdienst gelandet. Sie standen im Wartezimmer, auf dem Flur. Und husteten, und schnieften. Schnell rein, Erkältung? Ja, Lunge abhören, Rachen einsehen, Lymphknoten tasten. Wie lange schon? Vier Tage, seit Heiligabend. Fieber dabei? Ja, 38 fünf. Schmerzen beim Husten, Kopfweh, Gliederschmerzen. Das Virus, Influenza. Echte Grippe ist es wohl noch nicht.

Einige wollen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, einige ein Antibiotikum. Doch die meisten sind mit gutem Rat und ein paar symptomatischen Medikamenten-Empfehlungen zufrieden.
Sie können sogar mit der recht schnellen Abfertigung gut leben.
Auch 28 Hausbesuche in zwölf Stunden sind keine Kleinigkeit: Raus aus dem warmen Taxi, durch den dunklen Nebel, im Hausflur zwei Treppen hoch, am Pflegebett der kranken Oma, Papierkram am Couchtisch, mutspendenden Optimismus verteilen und wieder rein ins Taxi. Abhören, anhören und angehustet werden.
Nun denn, trotz Oseltamivir ist der Arzt erkältet und definitiv nicht arbeitsfähig, allein schon wegen der Ansteckungsgefahr.
Er könnte sämtliche Senioren- und Pflege-Heime der Stadt an einem halben Tag verseuchen.
Nun muss Ersatz für die restlichen drei Dienste gefunden werden. Nicht so einfach, wo alle Urlaub haben wollen.

Vier Ärzte sind zwischen Weihnachten und der ersten Januar-Woche im Einsatz. Der Arzt hatte zehn Notdienste am Stück eingeplant. Zudem waren noch einige Praxen geöffnet. Es reichte nicht. Das System ist unter der Grippewelle dekompensiert.

Bluthochdruck-Spirale

Ein häufiger Anblick, eine typische Konstellation: Gepflegte Wohnung, ältere Dame, alleinstehend. Auf dem Tisch: Ein elektronisches Blutdruckmessgerät, einige Schachteln mit Blutdruckmedikamenten und ein akribisch geführtes Blutdruckprotokoll, eng beschrieben in den letzten Stunden.

Die ältere Dame ist beunruhigt, aufgeregt. Gerötetes Gesicht, schnelles Atmen, nervöses Umherlaufen. Der Grund: Ihr Blutdruck ist ausser Rand und Band. Erschreckend hohe Werte hat sie in den letzten Stunden gemessen und aufgeschrieben. Und mit jeder Messung waren die Werte gestiegen. Da half weder Nifedipin noch Nitro-Spray.

Ob das Messgerät vielleicht kaputt ist? Nein, der Arzt misst ganz ähnlich hohe Werte mit seinem alten Riva-Rocci-Blutdruck-Messer.

Das Messgerät ist nicht kaputt. Aber es trägt zu dieser “Bluthochdruck-Spirale” wesentliches bei: Jeder hohe Messwert steigert die Angst der Patientin. Jede Angststeigerung der Patientin steigert den Blutdruck. Und wieder von vorne.

Der Arzt verordnet einen Blutdrucksenker und verbietet das Blutdruckmessen, zumindest für die nächsten Stunden. Er beruhigt und entdramatisiert. Klare Anweisungen, eindeutige Uhrzeiten und zur Beruhigung Einweisung und Transportschein dalassen. Und siehe: Es wirkt.

Fazit: Nicht für alle Patienten sind diese modernen, präzisen, einfachen und preiswerten Messgeräte zu Hause wirklich von Nutzen.

(siehe auch “If you don’t take a temperature you can’t find a fever”)

Fieber?

“If you don’t take a temperature you can’t find a fever” (Rule #10, “House of God” by Samuel Shem).

Dieses zehnte Gesetz aus Shems Klassiker ist so einfach wie wahr: Wenn Du keine Temperatur misst, wirst Du kein Fieber feststellen. Hierzulande kann man es auch folgendermaßen formulieren: “Ein gesunder Mensch ist auch nur ein Mensch, der nicht gründlich genug untersucht wurde”.

Natürlich ist das Fieber-Gesetz im übertragenen Sinne gemeint: Als Arzt steht man, gerade zu Beginn der Weiterbildung, häufig vor der Frage, welche Untersuchungen denn bei welchen Beschwerden und Konstellationen wirklich sinnvoll sind. Je unsicherer der Berufsanfänger desto mehr apparative Untersuchungen wird er einleiten. Schrotschuß-Diagnostik: Irgendwo wird sich schon irgendwas zeigen. Anderenfalls fühlt sich der junge Arzt auf der sicheren Seite und darf in seinem Entlassungsbrief all die aufwendigen Proceduren aufzählen die ohne Ergebnis blieben. Zuguterletzt dient dieses Vorgehen auch der juristischen Absicherung. Schließlich stehen wir alle immer “mit einem Fuß im Knast”.

Der erfahrene Arzt hingegen wird Untersuchungen sparsamer und gezielter einsetzen. Nicht nur, weil ihn seine Erfahrung viele Differentialdiagnosen ausschliessen läßt. Sondern auch weil er weiß, daß viele Untersuchungsergebnisse im individuellen Fall gar keine Konsequenzen hätten.

Aber das Fieber-Gesetz hat auch eine wortwörtliche Richtigkeit: Wie oft wurde der Arzt schon in Alten- oder Pflegeheime gerufen weil es einem Bewohner “nicht gut ging”? Irgendwie. Ganz diffus. Kein Appetit, große Müdigkeit, wollte gar nicht aufstehen. Oder noch krasser: Erbrechen, Unruhe, Delirium. Manchmal sogar Zittern am ganzen Körper, Zähneklappern. Das wird gelegentlich sogar als “Krampfanfall” interpretiert.

Pflegerinnen messen dann meist Blutdruck und Blutzucker, mit verheerenden Ergebnissen. Spätestens dann wird der Notarzt gerufen. Ihm werden ein Wust an Beobachtungen und einige Messwerte geschildert. “Dem Bewohner gehts nicht gut.” “Hat der Bewohner vielleicht Fieber?” (Fühlt mit dem Handrücken an der Wange des Betroffenen) “Nein.” “Haben Sie gemessen?” “Nein.” Oder “Da muss ich in der Kurve nachsehen.”

Seit kurzem hat der Arzt ein Schläfenthermometer im Koffer (10 Euro bei Aldi). Und siehe da: Der Bewohner hat doch Fieber. Oft sogar richtig hohes. Das erklärt dann all die Auffälligkeiten der letzten Tage. Jetzt nur noch die Fieber-Ursache abklären (meist Bronchien oder Harnwege) und schon kann eine kausale Therapie beginnen.

Vor zwölf Jahren, als der Arzt mit seinen Notdiensten anfing, hoffte er, daß das Fiebermessen VOR dem Notarztrufen bald zur Selbstverständlichkeit werden würde. Viel zu oft ist der Besuch im Pflegeheim seither nach dem oben geschilderten Muster abgelaufen. Heute hofft der Arzt nichts mehr.

Aber auch im häuslichen Bereich ist das Fiebermessen in Vergessenheit geraten. Gerade männliche Kranke aus südöstlichen Ländern verweigern das rektale Fiebermessen (Goldstandart) oft mit Empörung. Abgesehen davon ist in vielen Haushalten auch kein Fieberthermometer mehr vorhanden, selbst wenn dort mehrere kleine Kinder leben.

Und das Fazit? Unklare Verschlechterungen des Allgemeinzustandes gehen oft mit Fieber einher. Und Fieber kann man eben nur feststellen, wenn man die Temperatur misst.

Gefährlich?

Können Hausbesuche für den hausärztlichen Notarzt gefährlich werden? Kann man kleine Ärztinnen nachts losschicken? Warum wird dem Arzt manchmal mulmig zumute?

Da war zum Beispiel der Hausbesuch letzte Woche. Schäbiges Hochhaus, fünfter Stock, die Wohnungstür angelehnt. Keine Antwort von drinnen. Chaos, Unordnung und Verwesung schon im Flur der Wohnung. Leere Zwei-Liter-Weinflaschen überall. Wirklich überall. Verdrecktes Geschirr türmte sich in der Küche. Halbleere Pizzakartons. Schimmelteppiche. Der kräftige Russe lag delirant im Nebenzimmer. Aber bevor der Arzt sich um ihn kümmerte durchsuchte er den Rest der Wohnung. Gefasst auf alles, was dort noch lauern könnte.

Da war zum Beispiel das Fixerpaar mit dem Hund. Verwahrloste Wohnung ohne Möbel. Kalter, alter Tabakrauch. Schmierige, trübe Fensterscheiben. Er machte auf schwer krank und entzugig. Wollte Benzodiazepine. Die beiden wurden frech und fordernd als der Arzt ihnen nichts glaubte. Wollten selbst nachsehen, was im Koffer sei. Hätten die Rezeptformulare sicher gerne an sich genommen. Wie wäre eine Rangelei ausgegangen? Wäre mit infizierten Spritzennadeln gedroht worden?

Da waren zum Beispiel immer wieder südländische Männer, die gegen ihre Befindlichkeitsstörungen Spritzen haben wollten aber nur guten Rat bekamen. Den sie nicht verstanden. Auch die wurden schon fordernd. Besonders wenn sie auch noch zehn Euro zahlen müssen.

Da sind zum Beispiel immer wieder überforderte Angehörige von Pflegefällen, denen der Arzt nicht den Gefallen einer Krankenhauseinweisung tun kann.

Und da sind immer wieder große Hunde, verkommene Gebäude, dunkle Flure, unzufriedene Patienten oder Angehörige, gewalttätige Alkoholiker.

Sicher, der Rettungsdienst bringt immer wieder gefährliche Situationen, auf Autobahnen, Baustellen, in Fabriken. Aber der hausärztliche Notdienst ist dafür immer alleine. Unten auf der Straße wartet eine Taxifahrerin. Und ein prallgefüllter Arztkoffer, die dicke Formularmappe mit Rezepten sowie die gesammelten Praxisgebühren eines Tages könnten Begehrlichkeiten wecken.

Ja, Hausbesuche können gefährlich werden. Ja, kleine Ärztinnen sind nachts gefährdeter.

Der Arzt trifft folgende Vorsichtsmaßnahmen: Immer Licht dabei haben. Immer den Rückweg merken. Niemals der Bitte folgen, die Schuhe auf der Schwelle auszuziehen. Niemals eine Wohnung betreten, in der sich ein größerer Hund frei bewegt.

Aber vor allem: Sicher sein, das Richtige zu tun.

Sucht

Ärztestreik. Hausärztlicher Notdienst. Viele Patienten. Rezeptwünsche. Aber vor allem AUs. Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen. An diesem ersten schönen Tag im Jahr.

Dazwischen ein älteres Paar. Gut situiert. Gut gekleidet. Allerdings ist sie eher wortkarg. Sieht irgendwie zu “aufgemacht” aus.

“Nur ganz schnell dazwischen, wir brauchen ein Rezept. Dauert nicht lange.” Ach so?

Worum gehts denn? Er nennt den Namen. “Leider ist die Packung gerade heute zuende gegangen. Schreiben Sie doch bitte eine große auf.” sagt er ganz freundlich.

Leider hat der Arzt das schon zu oft erlebt. Daß er doch bitte eben eine große Packung Schmerzmittel, Hustenblocker, Schlafmittel, Sedativa, Antidepressiva aufschreiben möge. Denn man fahre morgen in den Urlaub. Oder der Vater litte so unter Schmerzen. Man sei bestohlen worden. Und gerade heute habe der Arzt ja geschlossen.

“Temazepam” ist ein suchtauslösendes Beruhigungsmittel, daß man jetzt nicht verschreiben werde, daß wahrscheinlich auch der Haus-Neurologe nicht aufschreiben würde, erklärt der Arzt. Das wissen die beiden natürlich. Aber sie empören sich. Wie immer. Freundlich fangen solche Gespräche an. Zu freundlich vielleicht. Später Empörung. Beschimpfungen manchmal. Was man denn für ein unmenschlicher Arzt sei. Ob man keinen Eid geschworden habe zu helfen. Wessen man die Bittsteller wohl verdächtigen würde. Ein Unding, das man melden werde. Unverschämte Frechheit.

Meist beruhigt sich die Situation wieder, wenn man einen Kompromiss anbietet. Eine Tablette Oxazepam für die Nacht, zum Beispiel. Wieder freundlich: Ob man nicht gleich zwei haben könne.

Diesmal hat sich der Besuch für die Beiden nicht gelohnt. Aber man kanns ja später nochmal versuchen. Oder nächstes Wochenende.

Irgendwann sitzt wieder ein gutgläubiger Anfänger hier.

Aufgeregt

Der Hausarzt hatte die Patientin angemeldet: “Schauen Sie doch bitte mal dort vorbei. Die Dame ist bekanntermaßen etwas aufgeregt. Beruhigen Sie sie einfach.”

In der Wohnung angekommen fand der Arzt die Dame wirklich etwas aufgeregt. Auch atemlos. Die weichen, eindrückbaren Unterschenkel und die feuchten Rasselgeräusche über der unteren Lungenhälfte waren deutliche Hinweise auf eine dekompensierte Herzschwäche. Dazu passte dann auch der Krankenhaus-Entlassungsbrief vom Vorjahr: Global dekompensierte Herzinsuffizienz.

Die Aufregung hatte also einen Grund, der Rettungswagen holte die Dame ab, nachdem sie Nitro und Furosemid bekommen hatte. Und der Arzt merkte sich: Besser ist es ein eigenes Urteil zu bilden.