Grippepanik galore (Update)

Das erste herbstliche Wetter und die Experten kommen aus ihren Löchern. Herbstzeit = Grippeimpfung. In Österreich verbreitet Prof. Kunze seine alljährlichen Panikbotschaften. Heuer also eine “Grusel-Grippe”. Die Kampagnen werden von den Impfstoffherstellern gesponsert und wie im Supermarkt gibt es Rabatt: Die Hersteller geben den Impfstoff um einen Euro billiger ab und die Apotheker legen noch 3 Euro dazu.

Alles ungeachtet von aktuellen Studien, die den Nutzen von Grippeimpfungen gerade für Senioren für überschätzt halten.

Das Team zieht indes aus der Studie nicht die Konsequenz, dass Senioren auf die Grippeimpfung verzichten sollten. Vor allem gebrechliche Menschen sollten sie in Anspruch nehmen, sie sollten sie aber nicht als Lebensversicherung betrachten, sondern weitere Vorsichtsmaßnahmen beachten. Dazu gehöre etwa das regelmäßige Händewaschen, die Vermeidung von Kontakten mit erkrankten Kindern und die Vermeidung von Krankenhausbesuchen während der Grippewelle.

Spielverderber beim Paniken sind die Deutschen:

“Die Situation ist nicht alltäglich, aber das heißt jetzt nicht automatisch, dass unter Nicht-Geimpften eine schwere Grippe-Welle droht”, sagt Susanne Glasmacher, Sprecherin des Robert-Koch-Institutes in Berlin, zum KURIER. “Es gibt keinen Grund für eine Alarmstimmung.” Es handle sich ja nicht um komplett neue Viren, sondern nur um neue Stämme schon bekannter Krankheitserreger: “Das heißt, dass ein gewisser Schutz in der Bevölkerung schon vorhanden ist.” Außerdem sei es für den Einzelnen egal, wie stark die Grippewelle ist: “Sie können auch während einer schwachen Grippewelle an den Folgen einer Infektion sterben.”


Update
Auch in Österreich werden die Prognosen von Prof. Kunze mit Skepsis betrachtet.

Rund 400.000 Menschen jährlich erkranken in Österreich an der Influenza, bis zu 4.000 sterben an den Folgen, rechnet der Sozialmediziner Michael Kunze vor. Zahlen, die nicht ganz unumstritten sind. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl würden damit im Schnitt bis zu 0,07% der österreichischen Bevölkerung jährlich an Influenza sterben. Vergleicht man diese Ziffern, mit denen Impfstoffhersteller gerne für ihre Produkte werben, mit den entsprechenden offiziellen Zahlen aus der Schweiz und Deutschland, die jeweils bei maximal 0,01% der Bevölkerung liegen, drängt sich die Frage auf, ob Österreicher tatsächlich eine derart kränkliche und schwache Grundkonstitution haben, dass sie gleich sieben Mal ­häufiger von der Influenza ­dahingerafft werden als ihre Nachbarn.

Ärzte weiterhin abhängig von Pharmareferenten

Initiativen, die den Einfluss der Pharmaindustrie auf Informationen und Verschreibung kritisch hinterfragen, haben es schwer in Deutschland. Das könnte man aus einer Studie des Ärzteverbands “Virchowbund” folgern, in der Ärzte zum Nutzen und zur Akzeptanz von Pharmareferenten befragt worden sind. Danach bezeichnen nur 11,1% der Ärzte sich als “zurückhaltend” im Umgang mit Pharmaberatern – gegenüber 2006 ein Rückgang um 3%. Am beliebtesten sind die “Fortbildungsangebote” (2008: 77,8% – 2006: 82,8%). Fast 70% bewerten die Übergabe von Medikamentenmustern als sehr positiv. Der Trend zur Vereinsamung hält in den Arztpraxen an: Für 64,6% ist schon der Kontakt zum Pharmareferenten ein positiver Aspekt, 2006 waren es erst 51% der Ärzte, die sich freuten, mal ein anderers Gesicht zu sehen. Möglicherweise sind die Pharmareferenten/-referentinnen auch attraktiver geworden – das wurde leider nicht erfragt.

Für die Sponsoren der Studie, die Pharmakonzerne Bristol-Myers Squibb (BMS), Grünenthal, Merck/Serono, Pfizer und Takeda ein erfreuliches Ergebnis. Trotz Einsparungen im Pharmaaussendienst, der verstärkten Rekrutierung über Leiharbeitsfirmen (“Dienstleister”) und Einschränkungen bei den Motivationsgaben hängen die Ärzte ungebrochen an den Lippen der Pharmaindustrie-Repräsentanten.

Als hätten wir es geahnt

Anfang September haben wir hinter den Äußerungen des Bonner Kardiologen Dr. Sven Waßmann eine Hidden Agenda vermutet. Er hatte sich negativ über den Cholesterinsenker Inegy® geäußert und zwischen den Zeilen deutliche Vorlieben für das Pfizer-Präparat Sortis® anklingen lassen. Zudem schien er sich von Pfizer für seine Vortragsaktivitäten honorieren zu lassen.

Keine drei Wochen später treffen wir Dr. Waßmann wieder. Jetzt gibt er in einer inhaltlich irreführenden Pfizer-Pressemmitteilung ohne jeden Neuigkeitswert zum Thema Sortis® auch ganz offiziell das Sprachrohr von Pfizer:

Das beste Statin in ausreichender Dosierung – so die Behandlungsempfehlung der Herzspezialisten. Leider sei diese Empfehlung in Deutschland schwerer als in anderen Ländern umzusetzen, kommentierte der Kardiologe Dr. Sven Waßmann: “Die Verordnungen von hoch dosierten Statinen – die insbesondere für die Behandlung von Hochrisikopatienten wichtig sind – werden in Deutschland nicht in allen Fällen erstattet und sind daher für die Patienten oftmals mit einer Zuzahlung verbunden”.

Der politische Hintergrund von Waßmanns leidenschaftlichem Einsatz für das Pfizer-Medikament war gestern auch ein Thema im Deutschlandfunk-Beitrag:

Im Jahr 1997 bringt das Unternehmen Pfizer einen neuen Cholesterinsenker auf den Markt: “Sortis”, ein Mittel aus der Gruppe der Statine. Es entwickelt sich schnell zu einem der umsatzstärksten Mittel der Branche. 2002 macht Pfizer damit allein in Deutschland 539 Millionen Euro Umsatz. Doch dann kommt das IQWiG und überprüft die Cholesterinsenker. Dabei kommt heraus: “Sortis” wirkt nicht besser als andere Statine. Die Folge: Die Krankenkassen führen daraufhin für “Sortis” einen Festbetrag ein, zahlen das Medikament also nur noch bis zu einer gewissen Grenze. Pfizer klagt gegen diese Entscheidung, verliert jedoch. Der Umsatz von “Sortis” bricht ein: 2007 lag er in Deutschland nur noch bei 27 Millionen Euro.

Automobile Reproduktivität

Beim Autohersteller Dodge gibt es Rabatt, wenn es nach dem Autokauf mit dem Familienzuwachs klappt. Was SPON ziemlich aufregt – jedoch sein Ziel erreicht. Wer hätte sonst gewusst, dass Dodge in Deutschland Autos verkauft?

Für den anatomisch Vorgebildeten kommt das Angebot nicht überraschend. Verrät doch ein Blick aufs Logo der Marke, worum es eigentlich geht.

Österreich vor den Nationalratswahlen

Österreich wählt am Sonntag einen neuen Nationalrat. Gesundheitspolitisch ist von der neuen Regierung, wie immer sie sich zusammensetzen wird, nicht viel zu erwarten.

Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky hat erklärt, nicht wieder für ein Amt zur Verfügung zu stehen. Kein Verlust, war sie doch in Sachen Gesundheitsreform ein Totalausfall. Meine Prognose: Ihr Nachfolger wird es angesichts des Filzes im Gesundheitswesen nicht besser machen.

Die Parteien haben den Wählern allerlei finanzielle Bonbons versprochen. Bis hin zum Wegfall der Mehrwertsteuer für Arzneimittel. Einen Vorgeschmack gaben SPÖ und ÖVP am Mittwoch im Nationalrat mit dem Beschluss, die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel zu halbieren. Auch in Deutschland eine alte Forderung der Pharmaindustrie. Dies kostet zwichen 300 und 350 Millionen Euro und besonders die maroden durch Vetternwirtschaft durchsetzten Krankenkassen profitieren davon. So wird der Reformdruck verringert, statt erhöht. Selbstredend erhalten sie weiterhin eine seit 1997 geltende Beihilfe aus dem Bundesbudget, die eigens dazu geschaffen wurde, um ihnen die Belastung durch die hohe Mehrwertsteuer zumindest teilweise auszugleichen. Beim österreichischen Patienten wird am wenigsten ankommen, da die Pharmaindustrie die Senkung sicher nur zum Teil an die Kunden weitergeben wird.

In Österreich widmet sich die Verbraucherorganisation Verein für Konsumenteninformation (VKI), vergleichbar mit der deutschen Stiftung Warentest, verstärkt der Gesundheitsversorgung. Ärzte, Arzneimittel, Apotheken – die Tester des VKI fanden nicht selten mangelhafte Transparenz und Qualität der Leistungen und Produkte. Dies hat in dem, vorsichtig ausgedrückt, freundschaftlichen Klima zwischen Pharmaindustrie, Regierung, Sozialversicherunge und Ärzteverbänden, nach einem Bericht von medianet.at zu harschen Reaktionen geführt.

Besonders bemerkenswert:

“Von der Pharmig gab es eine Klagsandrohung, wir würden mit den Tests Laienwerbung betreiben.”

Absurd, wenn man hier im Blog immer wieder mit Staunen verfolgt, wie in Österreich die Mitglieder des Verbands der pharmazeutischen Industrie (Pharmig) keine Gelegenheit auslassen im trickreich das Verbot der Laienwerbung zu umgehen. Kommunikation ist halt nur dann gut, wenn man das Ergebnis bestimmen kann.

Aktuelles Thema des VKI sind die Medikamentenpreise. Der VKI fand bei rezeptfreien Arzneimitteln zum Teil drastische Preissteigerungen in diesem Jahr.

In Deutschland sind die Preise für verschreibungsfreie Medikamente frei gegeben. Ausserdem sind Versandapotheken seit einiger Zeit zugelassen worden. Zwar wird immer wieder bemängelt, dass dies nicht zu einem verstärkten Wettbewerb geführt hätte, aber im Vergleich zu unserem Nachbarland erscheinen die Preise geradezu günstig.

Spitzenreiter in Sachen Teuerung bei den rezeptfreien Präparaten war in Österreich das Pharmaunternehmen Solvay, das für Pankreoflat® Dragees den Preis für eine 25-Stück-Packung um 198,8% von 4,15 auf 12,40 Euro erhöhte. Hierzulande beträgt der Apothekenverkaufspreis für 100 Tabletten 30,15 Euro. Wem der Magen allzusehr drückt kann auch eine N3-Packung mit 200 Tabletten für regulär 52,43 Euro erwerben. In Versandapotheken sind 100 Stück Pankreoflat® schon für unter 20 Euro zu bekommen – umgrechnet 60% preiswerter als in Österreich.

Die Mehrwertsteuer erscheint da als das kleinste Problem.

Für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Selbstmedikation

Der B.A.H.-Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller, verleiht Rolf Becker als Verleger der erfolgreichsten Gesundheitszeitschriften Deutschlands den Selbstmedikationspreis für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Selbstmedikation.

Das Blog “Stilstand” nimmt sich mit einer großartigen Analyse einer hanebüchenen Pressemeldung die PR-Texterin des Wort&Bild-Verlags (u.a. “Apotheken Umschau”) zur Brust.

(via)

Patienten-Information.de: Gut gemeint, schlecht gemacht

Das Internetangebot der Tagesschau weist auf den Relaunch eines medizinischen Informationsportals hin, das sich ab sofort an Patienten richtet. Es soll insbesondere im Hinblick auf die finanzielle Interessenlage der Informationsanbieter eine neuartige Transparenz bieten:
Dass Gesundheitsportale pharmagesponsert sind, ist nicht unüblich. Gefährlich werde es aber laut Sylvia Sänger vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), wenn der Nutzer die Pharmasponsoren nicht erkennt. Denn: “Wer Geld gibt, hat auch Interessen.” […]

Patienten-Information.de: Gut gemeint, schlecht gemacht…

Das Internetangebot der Tagesschau weist auf den Relaunch eines medizinischen Informationsportals hin, das sich ab sofort an Patienten richtet. Es soll insbesondere im Hinblick auf die finanzielle Interessenlage der Informationsanbieter eine neuartige Transparenz bieten:

Dass Gesundheitsportale pharmagesponsert sind, ist nicht unüblich. Gefährlich werde es aber laut Sylvia Sänger vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), wenn der Nutzer die Pharmasponsoren nicht erkennt. Denn: “Wer Geld gibt, hat auch Interessen.”

[…]

Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und das ÄZQ haben deshalb ihr Internetangebot www.patienten- information.de komplett neu gestaltet. […] Das überarbeitete Portal soll sich vor allem an Patienten richten und ihnen helfen, einfach und schnell an verlässliche Informationen zu allen wichtigen Gesundheitsthemen zu gelangen. “Wir wollen mit unserem transparenten Portal ein Gegengewicht zu allen unseriösen Seiten bilden”, sagt Sänger, die sich um die Betreuung des Portals kümmert.

Das klingt gut. Also schnell auf www.patienten-information.de gesurft und den beliebten Suchbegriff “Cholesterin” eingegeben. Unter den zuoberst gefundenen Informationsangeboten wie zu erwarten auch der folgende Treffer:

Linkaufnahme: 27.08.2008 | Letzte Überprüfung:10.09.2008

Inhalt der Information:
Die Publikation bietet ausführliche Informationen über Ursachen, Krankheitsverlauf, Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten sowie Therapie bei Cholesterinstörungen.

Informationsanbieter:
Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung von Fettstoffwechselstörungen und ihren Folgeerkrankungen DGFF (Lipid-Liga) e.V.
[…]
http:// www.lipid-liga.de/

Sponsoren:
Keine Sponsoren angegeben. Die Finanzierung erfolgt durch Mitgliedsbeiträge und Spenden.

Keine Sponsoren angegeben? Bereits ein Klick auf den Link “Förderer” auf der Lipid-Liga-Homepage hätte genügt, und es hätte sich ein anderes Bild ergeben:

* Almased Wellness GmbH, Bienenbüttel [Anm. d. Verf.: Den Lesern dieses Blogs ist das Produkt vertraut durch den lustigen Auftritt des stellvertretenden Vorsitzenden der Lipid-Liga, Prof. Aloys Berg, in Hademar Bankhofers Sendung auf TW1]
* AstraZeneca GmbH, Wedel
* B. Braun Medizintechnologie GmbH, Melsungen
* Dr. Falk Pharma GmbH, Freiburg
* Emmi Frischprodukte AG, Luzern, Schweiz
* essex pharma GmbH, München
* EuroMedix POC nv/sa, Leuven, Belgien
* Fresenius Medical Care Deutschland GmbH, Bad Homburg
* Genzyme GmbH, Neu-Isenburg
* HEXAL AG, Holzkirchen
* Merck Pharma GmbH, Darmstadt
* MSD Sharp & Dohme GmbH, Haar/ München
* Pfizer GmbH, Karlsruhe
* ratiopharm GmbH, Ulm
* Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Berlin
* Solvay Arzneimittel GmbH, Hannover
* Trommsdorff GmbH & Co. KG Arzneimittel, Alsdorf
* Unilever Deutschland GmbH, Hamburg

Auch sonst ist die Interessenlage der Lipid-Liga kein großes Geheimnis:

Doch der “Informationsfilm” der Lipid-Liga wurde von Pfizer produziert, einem Pharma-Giganten, der 2003 mehr als ein Viertel seines gesamten Umsatzes allein mit einem Cholesterin-Senker gemacht hat. Nach den Sponsoren der Lipid-Liga gefragt, räumt auch Weizel ein: “Das sind die Hersteller der Lipid-senkenden Präparate, die aber keinerlei Einfluss haben auf das, was wir sagen.”

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Update, 1.10.2008

Das für das Portal verantwortliche ÄZQ (Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin) teilt uns mit, dass die Lipid-Liga-Informationsseiten mittlerweile entsprechend angepasst wurden.

Zu recht weist das ÄZQ darauf hin, dass es keinen direkten Link von den (vor einigen Jahren entstandenen) durch patienten-information.de verlinkten Informationsseiten der Lipid-Liga zu der Liste der Förderer gibt, sondern dass der Umweg über die (vor wenigen Jahren neu gestaltete) Homepage der Lipid-Liga notwendig ist.

Das macht das Dilemma deutlich, das durch die Einbeziehung externer Informationsanbieter entsteht. Leser dieses Blogs wissen, dass die Wahrheit über die finanziellen Hintergründe solcher Informationsanbieter sehr häufig noch weit weniger offen präsentiert wird, als dies aktuell bei der Lipid-Liga der Fall ist. Sinnvoll erscheint es mir deswegen, Anbieter, die ihre Finanzierung nicht offenlegen, von vorneherein aus dem Angebot auszuschließen.

Quo vadis…?

Heute abend 18.30 in einem mittelgroßen deutschen Supermarkt.

Doc Blog steht bewaffnet mit Pizza und Parmesan an der Kasse. Vor mir ein Mann, ca. Mitte 40, nicht wirklich gepflegt aussehend. Dabei ein kleiner Junge, ca. 8 oder 9 Jahre alt, offensichtlich sein Sohn, zumindest gut bekannt mit dem Mann.

Der Junge deutet auf die verschiedenen Artikel an der Auslage, zeigt auf Schokolade und Kaugummis, möchte aber nichts davon haben. Dabei wird er von dem Mann “geneckt”, m. E. recht laut und distanzlos, aber der Junge hatte seinen Spaß.

Dann nahm der Mann eine kleine Flasche Korn aus dem obersten Regal, legte sie aufs Band und meinte: “Das können wir ja auch nochmal mitnehmen.”
Junge: “Wie heißt das?”
M: “Berentzen.”
J: “Heißt das wirklich Berentzen?”
M: “Berentzen oder so. Da gibt es viele Namen. Nenn es Steckrüben. Sag’ Mama, ich habe Steckrüben gekauft. Haha…” (War natürlich ein Noname Produkt)
J: “Steckrüben? Das sind keine Steckrüben.”
M: “Kannste Mama aber sagen.”
J: “Hmm. Das ist Bier!”
M: “Das ist doch kein Bier, das ist… Hustensaft.”
J: “Haha, das ist doch kein Hustensaft.”
M: “Doch, natürlich, kannst Du mir glauben.”
J: “Dann gib mir, ich habe auch Husten.” (Und hustete recht überzeugend).
Der Vater wies seinen Sohn dann an, den Geldschein der Kassierin zu geben, nahm noch Filter oder sowas für Zigaretten mit (war ziemlich billig) und dann war ich dran.

Ich sah beim Rausgehen aus dem Laden noch, wie die beiden zu ihren Fahrrädern gingen und die Sache war für mich erledigt. (Dachte noch, gut, immerhin fährt er kein Auto.)

Aber dann, an der ersten Ampel, da wartete der Junge auf seinem Fahrrad auf grün, der Vater stand, das Fahrrad zwischen den Beinen und kippte sich den Korn rein! 18.45 Uhr ! Während der Sohn (?) dabei war! Am hellichten Tag und in der Öffentlichkeit. Und warf die leere Pulle dann an die Hauswand…

Also, da fehlen mir echt die Worte.
Dieser arme Junge, der zugegeben nicht besonders gewitzt klang, aber hey, wen wundert das? Was sind das wohl für Bedingungen, unter denen der aufwachsen muss? Kenne weder ihn noch seine Familie, obwohl der Laden direkt in der Nähe meines Hauses liegt und in der Klinik waren die beiden in meinem Dienst auch noch nicht.

Aber rückblickend war der Vater (?) im Laden wohl schon betrunken, was die distanzlose Art erklärt. Er scheint Alkohol gewöhnt zu sein, was die noch recht beherrschte Art erklärt.

Ich möchte hier keine Diskussion über Alkoholabhängige und wie diese zu behandeln sind anzetteln. Dafür bin ich gewiß nicht kompetent genug.

Ich bin einfach aufrichtig schockiert und traurig, denn nach dem kurzen Einblick in sein Leben, habe ich das Gefühl, daß dieser Junge bereits im Spiel des Lebens verloren hat, bevor es für ihn wirklich angefangen hat. Ich will nicht sagen, daß er von seinen Eltern nicht geliebt wird oder ähnliches. Es geht mir um die Vermittlung von Werten, Normen und Bildung.

Meine Kinder wachsen zweisprachig auf, weil ich die Möglichkeiten dazu habe. Das ist schön und gut (hoffe ich), aber sicher nicht von jedem zu erwarten. Im Gegenteil, viel mehr läuft doch über Reden, Erzählen, (Vor)Lesen, Spielen etc. Wieviel Zeit hat wohl der Vater für diese wichtigsten Aktivitäten, ja Pflichten eines Elternteils? Wenn er um 18.45 sich wortwörtlich schon einen “hinter die Binde kippt”?

Vielleicht liege ich mit meinen ganzen Befürchtungen auch vollkommen daneben, und alles ist gut. Aber diese so kurze Episode hat mich doch sehr zum Nachdenken gebracht.
All das ist ja in Deutschland zur Zeit Thema: Alkohol (auch bei Jugendlichen), soziale Kompetenz, Pisa, G8, Reformierung der Studiengänge, Kinder im sozialen Abseits etc.
Deshalb die Frage “Quo vadis”? Quo vadis, puer? Quo vadis, pater? Quo vadis, societas?

Als Arzt sieht man diese Art von Problemen ja allzuoft, und in 90% der Fälle kann man daran nichts ändern. Kann nicht in bestehende Strukturen eingreifen, so auch hier. Trotzdem fühle ich mich schlecht, weil ich keine Chance habe, für den Jungen etwas zu ändern.

Doc Blog