Kampf um den EDSS

Der EDSS wird in jeder klinischen MS-Studie als Mass für die MS-Behinderung verwendet. Oder das meinten wir zumindest. Prof. em. John F. Kurtzke, Erfinder des EDSS sagt, in den Studien werde nicht der EDSS sondern der Neurostatus von Prof. Ludwig Kappos gemessen. Der Neurostatus sei nicht dasselbe und nicht angemessen wissenschaftlich publiziert und referenziert.

I just learned that the unpublished system copyrighted in Switzerland as “neurostatus” has been called and referenced as my EDSS. It is not.

Anfang Jahr veröffentliche John F. Kurtzke den Artikel On the origin of EDSS1 („Der Ursprung des EDSS“), wobei er am Schluss den Neurostatus kritisiert. Damit die Kritik verständlich wird, erläutere ich den Hintergrund zuerst.

EDSS SkalaEDSS Skala | © 2015 Biogen Switzerland AG. Alle Rechte vorbehalten.

Hintergrund

EDSS1

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische, meistens langsame Krankheit. Verschiedenste Symptome kommen und gehen. Oder bleiben. Eine Behandlung der Krankheit wird seit Jahrzehnten fieberhaft gesucht. Die Behandlungserfolge von Therapien müssen gemessen werden. John F. Kurtzke entwickelte als junger Militärarzt in den 50er Jahren die erste MS-Behinderungsmessskala, den EDSS (Expanded Disability Status Scale for multiple sclerosis)1. Kurtzke publizierte den EDSS 1983 (und der Artikel avancierte zum zweithäufigst zitierten MS-Artikel)2. Für den EDSS werden die verschiedensten neurologischen Systeme wie Gangfähigkeit oder Blasenfunktion des Menschen getestet und in eine Skala mit 20 Stufen (von 0 bis 10) unterteilt. Erst diese Skala ermöglichte messbare, klinische MS-Forschung. Ein Meilenstein für die MS-Forschung. Jeder Neurologe kennt den EDSS. Der EDSS machte John F. Kurtzke zu einem der bekanntesten Neurologen.

Der EDSS hat Mängel, beispielsweise wird zu stark auf körperliche und zu wenig auf mentale Funktionen wert gelegt. Doch ein besseres Messprinzip konnte sich nicht etablieren.

Neurostatus3

Anfang der 80er Jahre verbreiterte sich das Interesse an der Erforschung medikamentöser MS-Behandlungen. Der EDSS etablierte sich. Es gab jedoch keinen standardisierten, umfassenden Messablauf zur Bestimmung des EDSS-Wertes. Es bestanden Unklarheiten und Doppeldeutigkeiten. Dies konnte, je nach Prüfer, zu einer anderen Einschätzung führen. Die Folge waren wenig zuverlässig und schlecht wiederholbare Resultate. Ludwig Kappos erkannte dies. Er erstellte einen standardisierten Messablauf, präzisierte die Definitionen und erstellte Richtlinien. Übungsunterlagen wurden erstellt. Dieses System wurde Neurostatus genannt. Neurologen wurden zur Bestimmung des EDSS gemäss den Neurostatus-Unterlagen für klinische MS-Studien trainiert. Das Unternehmen Neurostatus Systems wurde gegründet. Der Neurostatus wurde von Forschern und Sponsoren breit akzeptiert. Der Neurostatus wurde in den letzten 15 Jahren der Standard und bei praktisch allen klinischen MS-Studien angewendet. Bei den meisten Studien müssen die teilnehmenden Neurologen eine Neurostatus-Zertifizierung vorweisen.

Prof. Kappos entwickelte sich zu einem der einflussreichsten Neurologen im Bereich MS.

So weit, so gut?

Kritik von Kurtzke

[…], his
alterations to my FS and EDSS have been major ones that I
could not and would not agree to, had I been asked. And I believe that it is his „EDSS“ – also not mine – that has become
the only system permitted in multicentered drug trials yet still
referenced as being mine; […]

Prof. Kurtzke kritisiert in seinen Artikeln14 den Neurostatus im wesentlichen in drei Punkten:

  1. Der Neurostatus messe durch die geänderten Definitionen nicht den EDSS.
  2. Der Neurostatus mit seinen geänderten Definitionen sei nirgends wissenschaftlich publiziert.
  3. Der Neurostatus würde in den wissenschaftlichen Publikationen als EDSS ausgegeben.

I would suggest that authors, editors, sponsors, and regulating agencies consider issuing appropriate
corrections, and that the authors of “neurostatus” retract
claims and references that theirs is my EDSS.

Als solches fordert Kurtzke:

  • Die ordentliche Publikation des Neurostatus, inkl. Einführung der Neurostatus Skala.
  • Die korrekte Referenzierung des Neurostatus in den Studienpublikationen, inkl. Korrektur der bereits veröffentlichten Artikeln.

Bemerkungen

Ist die Kritik berechtigt oder mischt sich ein gelangweilter, pensionierter Professor ein?

Ist der Neurostatus so wie er jetzt ist, eine berechtigte kostenpflichtige Dienstleistung oder eine Geschäftemacherei durch einen gekidnappten EDSS?

Die Substanz der Kritik hängt vor allem vom ersten Punkt ab: Wie wesentlich sich der Neurostatus-Wert vom EDSS-Wert unterscheidet. Fakt ist. Sie unterscheiden sich. Wie wesentlich kann ich selbst nicht beurteilen.

Formal hat Kurtzke sicher recht, es sind zwei verschiedene Skalen. Als eine vom EDSS abgeänderte Skala muss der Neurostatus wissenschaftlich publiziert werden. Ohne Publikation kann es keine gute wissenschaftliche Auseinandersetzung geben. Für die Informationen müssten alle die Neurostatus-DVD käuflich erwerben. Zu welchem Preis? Zudem könnte die Vertriebsfirma Neurostatus Systems die Herausgabe überhaupt verweigern.

Da keine Veröffentlichung zum Neurostatus – dem akzeptierten Standard – vorhanden ist, können keine klinischen MS-Studien ohne die „Trainingsunterlagen“ der Firma Neurostatus Systems durchführt werden. Die Preise für den Neurostatus sind nicht öffentlich verfügbar. Für MS-Studien grosser Sponsoren wie Novartis sind die Preise sicher kein Problem.

Hier geht es nicht um Open Access. Sondern es ist noch eine Stufe davor: Der Neurostatus fehlt in der wissenschaftlichen Literatur gänzlich.

Wie kann es sein, dass bei exakter Wissenschaft sich alle auf A (den EDSS) beziehen, aber B (den Neurostatus) meinen? Gewohnheit? Vernachlässigbarer Unterschied? Kidnapping des EDSS? Eingeschlichener Fehler?

Ludwig Kappos bemerkt in seiner Antwort, dass die zum Neurostatus beitragenden Wissenschaftler nie einen finanziellen Gewinn aus dem Neurostatus bezogen haben. Die Unterlagen seinen durch das Copyright geschützt worden, weil professionelle Trainingsunterlagen und Webseiten erstellt worden sind.

Wichtig zu bemerken ist, dass die Kritik von Kurtzke nicht auf den Neurostatus als Instrument abzielt, sondern auf die Art und Weise, insbesondere die unwissenschaftliche Verbreitung und Anwendung.

Open Access

Leider sind die Artikel dieser Auseinandersetzung nicht Open Access und stehen somit der Allgemeinheit zum Lesen nicht zur Verfügung. Für die Nachvollziehbarkeit zitiere ich im Anhang die wichtigsten Stellen.

Erfreulicherweise veranlasste Prof. Kurtzke Anfang Jahr die Open Access Veröffentlichung seines fundamentalen EDSS Artikels2, damit er allen frei zugänglich ist. Dies ist sehr schön, doch schade, dass dies eine grosse Ausnahme bleibt.

Fazit

Diese Auseinandersetzung um den EDSS scheint mir recht bemerkenswert.

Wie wird es weitergehen? Wird der Neurostatus veröffentlicht? Werden die bisher veröffentlichten, den Neurostatus verwendenden Artikel korrigiert?

Der Form halber müssten die Artikel korrigiert werden, da die Wissenschaft der Exaktheit verpflichtet ist. (Autos werden auch zu tausenden in die Garagen zurückgerufen, wenn nachträglich Mängel festgestellt werden.)

Wenn man die Forderung von Kurtzke weiterdenkt, würde der EDSS als Begriff an Bedeutung verlieren, da er nur eine Zwischenetappe zum in Studien effektiv gebräuchlichen Neurostatus wäre.

Anhang

Leider sind die Artikel nicht Open Access und erlauben keine eigene Beurteilung. Für die Nachvollziehbarkeit zitiere ich wichtigsten Passagen.

On the origin of EDSS1

This system has not been altered in the ensuing 30+ years;
the scoring in 1984 remains the same in 2014. Since it is still in
rather wide use, I had recently asked the editors of Neurology
if this EDSS paper (Kurtzke, 1983) and its explanatory Apologia
(Kurtzke, 1989a) could be made available without cost to any
reader of the journal. They most kindly agreed, and anyone
can now download a free pdf file of each at www.neurology.org under All Issues for November 1983 and February 1989.

There is, though, a tsetse fly in the ointment.

Accordingly [all] the products of this
endeavor [EDSS and its precursors] are the property of the U S
Federal Government, and, as such, the author has been
informed [by the National Program Director for Neurology in
the VA] that they could not be copyrighted by any person,
institution or organization – at least in the United States…
[but] are in the public domain available without charge for use
by anyone” (Kurtzke, 2008).

I could find nothing
published on it, and that was when I wrote the Neurology
Program Director whose response was noted just above. In constructing this Commentary there was still nothing in the
medical literature, but I had learned from colleagues in
Europe and Australia that in order to be an investigator and
perform the EDSS in sponsored treatment trials required his
certification of successfully passing his examination in his
system, which he had copyrighted in Switzerland. Since it
seemed to me essential for this presentation that I see for
myself what this system entailed, I prevailed on one of them
to send me copies of the documents.

The main document, called “neurostatus ” (see Fig. 3 above)
began with “DEFINITIONS for a standardized neurological
examination [sic] and assessment of Kurtzke’s Functional
Systems and Expanded Disability Status Scale in Multiple
Sclerosis….
by Stacy S. Wu, MD and Prof. Ludwig Kappos, MD
Slightly modified from J.F. Kurtzke, Neurology 1983:33, 1444–52
© [no date] L. Kappos, Department of Neurology, University Hospital,CH-4031 Basel, Switzerland, Version 12/0[?]”

His General Guidelines divided the presentation into:
“Neurostatus (NS)” defining the specific tests he required to
perform his neurologic examination; his “Functional Systems
(FS)”; and his “Expanded Disability Status Scale (EDSS).” all
presented according to his Functional System titles.

His last category “9. Kurtzke’s Expanded
Disability Status Scale” above EDSS 4. is also not mine. He used
ambulation distances as cutoffs rather than nearest level to
performance and beyond 5.0 defined each step under “EDSS
10.0” with no mention at all of any FS scores.

In sum, integral to his system is the prescription for
performing and recording his neurologic examination, and
this, with or without its flaws, has never been part of my
system from its conception in 1953 to the present. Further, his
alterations to my FS and EDSS have been major ones that I
could not and would not agree to, had I been asked. And I believe that it is his “EDSS” – also not mine – that has become
the only system permitted in multicentered drug trials yet still
referenced as being mine; a situation of which readers and think editors have been totally unaware. The only ones who
would have known of the changes were the trialists themselves, all of whom I am sure were convinced that I was
complicit in these changes, or had at least known of and had
approved them.
I submit that his system is by no means the MS rating
system I developed and published, as outlined in this
Commentary. I would suggest that authors, editors, sponsors, and regulating agencies consider issuing appropriate
corrections, and that the authors of “neurostatus” retract
claims and references that theirs is my EDSS.

On the origin of Neurostatus3

Even if we accept this explanation of
the low reliability of the EDSS and the FS that has been
consistently reported in the pertinent literature it is clear that
a standardized, comprehensive neurologic assessment must be
performed as the basis for the determination of the FS and the
EDSS. In our own experience and in the continuous interactions
with neurologists all over the world it has also become clear
that the definitions provided to guide the determination of the
FS and EDSS grades were not always unambiguous or even
consistent. Based on the same findings different examiners
would in good faith come to assignments of different grades.

To propose the most appropriate target-aimed neurological
examination and to improve on the guidance provided for
transforming the findings of this examination into the appropriate FS and EDSS grades, that is – in a nutshell – the origin and
purpose of what in the last nearly 25 years became the
“Neurostatus”.

In the last 15 years, despite its possible shortcomings,
Neurostatus has been broadly accepted by investigators and
sponsors all over the world and has become the standard for
nearly all past and current therapeutic trials in MS.

It is self-evident that the authors of Neurostatus never claimed rights
on the EDSS or its FS. Ownership was claimed for the
teaching and documentation tools of Neurostatus, when
we needed to involve professionals for the production of
audiovisual material, for the creation of documentation
sheets or web based test modules and for data administration. Like Dr. Kurtzke, but voluntarily, the academic investigators involved in the development of Neurostatus have
never had any personal financial benefits from their participation in this work.

Further on the origin of EDSS4

I am fully confident that if he were to present his
complete Neurostatus for publication, it would meet with
a rapid and favorable response by all the editors of this
journal, with ensuing early publication. I would suggest,
should he do so, that his Appendix presenting the details of
his entire system might begin somewhat as follows:

Neurostatus (NS)
[comprising] A standardized examination (NSSE)
consolidated into functional systems (NSFS)
and summarized as the Disability Scale (NSDS)
Modeled after Kurtzke, Neurology 1983;33:1444–52….
©[date] Ludwig Kappos, MD….

Beschreibung des Neurostatus

Im Internet gibt es nicht viele Informationen zum Neurostatus. Eine Quelle sind die Folien How to Do the EDSS von Stephen S. Kamin, MD, New Jersey Medical School. Seite 5 beschreibt den Neurostatus.


  1. Kurtzke, J. (2015). On the origin of EDSS Multiple Sclerosis and Related Disorders, 4 (2), 95-103 DOI: 10.1016/j.msard.2015.02.003, siehe Auszug

  2. Der fundamentale Artikel über den EDSS „Rating neurologic impairment in multiple sclerosis“, Neurology, 1983 ist gemäss meiner Auswertung von 2012, der am zweithäufigsten zitierte Artikel bei MS. Der EDSS-Artikel wurde erfreulicherweise Anfang 2015 als Open Access veröffentlicht. 

  3. Kappos, L., D’Souza, M., Lechner-Scott, J., & Lienert, C. (2015). On the origin of Neurostatus Multiple Sclerosis and Related Disorders, 4 (3), 182-185 DOI: 10.1016/j.msard.2015.04.001, siehe Auszug

  4. Kurtzke, J. (2015). Further to the origin of EDSS (Response to: L. Kappos et al: “On the origin of Neurostatus” Multiple Sclerosis and Related Disorders 2015; 4: 186) Multiple Sclerosis and Related Disorders, 4 (3) DOI: 10.1016/j.msard.2015.04.007, siehe Auszug

Buchbesprechung "La piqûre de trop?"

Um was geht es im Buch? Ist es ein gutes Buch?

Die Journalistin Catherine Riva und der Gynäkologe Jean-Pierre Spinosa haben 2010 das Buch „La piqûre de trop?“ (Eine Spritze zuviel?) [books.ch, amazon.de] veröffentlicht. Das Buch beschreibt die Hintergründe und die Zusammenhänge rund um die „Impfung gegen den Gebärmutterhalskrebs“. Das Buch ist nur auf französisch erhältlich (Deutsche Beschreibung).

Buchdeckel "La piqûre de trop"Buchdeckel „La piqûre de trop“

Harald zur Hausen entdeckte mit anderen, dass Humane Papillomviren (HPV, auch Humane Papillomviren) für den Gebärmutterhalskrebs mitverantwortlich sind. Bis dann war es unvorstellbar, dass Viren Krebs auslösen können. Harald zur Hausen bekam 2008 für seine Entdeckung den Nobelpreis für Medizin.

Immer wenn es um Viren geht, ist der Gedanken an eine schützende Impfung nicht weit. Beim Impfen wird der Körper „quasi vorbereitet und gewarnt“. Einige Impfungen gehören zu den wichtigsten Errungenschaften der westlichen Medizin und haben wesentlich zu unseren hohen Lebenserwartungen beigetragen.

Die Pharmaindustrie, namentlich MSD (Merck in den USA) und GlaxoSmithKline (GSK) haben die Impfungen Gardasil® und Cervarix® gegen die Papillomaviren entwickelt. Die Impfungen wurden 2006 zugelassen. Rasch darauf erfolgten Impfempfehlungen und Impfkampagnen für 13-jährige Mädchen. Die Impfprodukte Gardasil® und Cervarix® erreichten eine hohe Medienpräsenz.

Stellt Gebärmutterhalskrebs wirklich eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit in den Industriestaaten dar? Welche klinischen Daten liegen tatsächlich vor? Und vor allem: wie konnte sich dieser Impfstoff trotz Rekordpreis in geradezu blitzartig kurzer Zeit durchsetzen?

Die Entdeckung des Krebsmitverursachung durch Papillomaviren war einen Nobelpreis wert. Bei den Impfungen Gardasil® und Cervarix® hingegen liegt die Meisterleistung weniger in der Medizin als im Marketing. Bewundernswert was MSD und GlaxoSimthKline (GSK) zu leisten vermochten.

Der Gebärmutterhalskrebs ist nämlich, dank Abstrichen, in westlichen Ländern kein drängendes medizinisches Problem. Vor den Medikamenten war Gebärmutterhalskrebs in der Öffentlichkeit kaum bekannt.

Das Buch beschreibt, die Zusammenhänge und Hintergründe hinter dem Erfolg von Gardasil® und Cervarix®. Welche Akteure mit dabei sind. Öffentliche Aussagen von Ärzten, Journalisten und Gesundheitsbehörden werden mit den Aussagen der Studien und dem wissenschaftlichen Stand verglichen. Der Nähe von Professoren und Ärzten zur Pharmaindustrie wird nachgegangen.

Insbesondere wird auch die Medienberichterstattung in der Schweiz, Frankreich und Deutschland analysiert. Welcher Blickwinkel wurde eingenommen? Welche Zahlen wurden präsentiert? Was sind deren Quellen? Was waren die Themen in den Artikel?

Es wird gezeigt, wie sich Leute – Ärzte, Professoren und Journalisten – „vor den Karren spannen“ liessen. Welche Interessenkonflikte bestehen.

Das Buch arbeitet mit Fakten, nicht mit Emotionen. Das Buch ist gut dokumentiert. Es ist in einem sachlichen Stil geschrieben. Die Aussagen sind gut belegt. Das ist auch nötig, da die Industrie an diesem Buch nicht unbedingt gefallen finden wird. Einzelne können, auch wenn es völlig ungerechtfertigt ist, durch ein Team von Anwälten eingeschüchtert und jahrelang durch erzwungene Verteidigung lahmgelegt werden. Man denke beispielsweise an die Anti-Baby-Pille Jasmin® (Fall des 16-jährigen Mädchen Céline). Das Nachrichtenmagazin „10vor10“ wurde von Bayer verklagt, bis vor Bundesgericht. Und verlor (Tagesanzeiger 2011). Der staatliche Fernsehsender konnte sich eine Verteidigung leisten.

Das Kapitel „Épilogue“ sticht durch seinen anderen Stil hervor. Dieses kurze, 3½-seitige Kapitel fasst das Buch zusammen und kommentiert den Inhalt.

Il est donc impératif que les citoyens apprennent à se méfier des annonces de „catastrophe méconnues“ et à s’informer sans s’en remetter benoîtement aux „experts“. Mais surtout, il est urgent de thématiser la question des conflits d’intérêts, aussi bien dans les rangs des médecins et des scientifiques que dans l’administration et parmi les journalistes qui traitent les sujets de santé.
Es ist also zwingend, dass die Bürger lernen den Ankündigungen von „unbekannten Katastrophen“ zu misstrauen und sich zu informieren ohne sich einfach auf die „Experten“ zu verlassen. Aber vor allem ist es dringend die Fragen der Interessenkonflikte zu thematisieren, bei den Medizinern und den Wissenschaftlern, aber auch bei der Verwaltung und den Journalisten, die Gesundheitsthemen bearbeiten. [Eigene Übersetzung]

Nach dem Buch hat das Interesse der Autoren nicht einfach aufgehört. Neue Erkenntnisse werden auf der Facebookseite „La piqûre de trop?“ veröffentlicht.

Autoren

Catherine Riva ist eine freie Journalisten aus der Westschweiz. Sie wohnt in der Deutschschweiz. Dr. Jean-Pierre Spinosa ist Gynäkologe in Lausanne.

Obwohl das Buch vom Impfen handelt, gehören sie nicht in den Kreis der „Impfgegner“, jener Gruppe die prinzipiell gegen jegliche Impfungen sind.

Medien über das Buch

In den welschen Medien wurde bei der Veröffentlichung über das Buch berichtet, beispielsweise der Beitrag des welschen Fernsehens RTS, 2010 mit den Autoren.

Fazit

Das Buch „La piqûre de trop?“ ist ein sehr gut recherchiertes Buch. Das Buch behandelt die Mechanismen des Gesundheitswesens und der Pharmaindustrie in einer selten gesehenen Tiefe. Investigativer Journalismus par excellence.

Mit der vorgelegten guten Datenlage kann dieses Buch als Lehrstück dienen. Es ist ein sehr gut dokumentierter Fall mit allen Akteuren und deren Schritten. Die im Buch beschriebenen Mechanismen gelten wahrscheinlich auch für andere medizinische Produkte.

Das Buch zeigt, dass es nicht nur im englischen Sprachraum kompetente und kenntnisreiche Medizinjournalisten gibt, sondern auch in der Schweiz. Medizinjournalisten, die selber denken. Journalisten und Ärzte, die den Mut haben Missstände zu benennen.

MS-Medikamente: Einnahmen 2013

Diverse Medikamente sind zur Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassen.

Wie gross sind die Einnahmen aus den MS-Medikamenten? Welche Medikamente erzielen die grössten Einnahmen?

Im Blogartikel Multiple Sklerose: Medikamentenübersicht mit Preisen sind die zugelassen MS-Medikamente mit Preisen und Dosierung aufgelistet.

Die folgende Tabelle listet die Einnahmen aus den 10 meistverkauften MS-Medikamente auf.

# Medikament Hersteller Einnahmen in Mrd. US $
1. Copaxone® Teva 4.3
2. Avonex® Biogen Idec 3.0
3. Gilenya® Novartis 1.9
4. Tysabri® Biogen Idec 1.7
5. Betaseron® Bayer 1.1
6. Tecfidera® Biogen Idec 0.9
7. Rebif® Merck Serono 0.6
8. Ampyra® Biogen Idec 0.3
9. Aubagio® Sanofi 0.2
10. Extavia® Novartis 0.2
Total 14.2

Einnahmen von der 10 meistverkauften MS-Medikamenten. Quelle: Top 10 Multiple Sclerosis Drugs, 18.02.2014 via MS the Cash Cow 2013, 21.02.2014

Solch hohe Umsätze sind bei den stolzen Preisen von MS-Medikamenten mit bis zu USD 50‘000 für ein Jahr nicht verwunderlich. Wenn man zudem bedenkt, dass sie keine Heilung verschaffen, sondern eine weitere, womöglich lebenslängliche, Einnahme notwendig ist.

Begriffe

Wichtig: Die Einnahmen sind nicht der Gewinn.
Die Einnahmen werden auch als Umsatz bezeichnet.

Gewinn = Einnahmen – Ausgaben
oder
Gewinn = Umsatz – Kosten

Das Verhältnis zwischen Gewinn und Einnahmen wird als Gewinnmarge bezeichnet, je höher die Gewinnmarge, desto lukrativer.

Biogen Idec

Das Unternehmen Biogen Idec erzielt mit insgesamt vier Medikamenten die grössten Einnahmen, nämlich erstaunliche 5.8 Milliarden US-Dollar.

Im Jahre 2013 sponserte Biogen Idec den Swiss Research Award for Multiple Sclerosis mit 2 x CHF 20‘000. Angesichts der finanziellen Möglichkeiten, allein aus MS-Medikamenten, erscheint die Preissumme von 2 x CHF 20‘000 als verschwindend kleiner Betrag.

Fazit

Die Multiple Sklerose ist für die Pharmamultis eine lukrative Krankheit. Kein Wunder drängen immer mehr Hersteller auf den Markt. Anfänglich wurde das Feld kleinen, unbekannten Fischen wie Serono und Biogen überlassen. Jetzt kommen die Grossen wie Novartis. Roche steht ebenfalls in den Startlöchern.

Buchbesprechung "Deadly Medicines and Organised Crime" von Peter Gøtzsche [Akt.]

Was ist der Inhalt von Peter Gøtzsches Buch „Deadly Medicines and Organised Crime“? Wer ist Peter Gøtzsche? Ist das Buch lesenswert?

Im neu erschienenen Buch „Deadly Medicines and Organised Crime: how big pharma has corrupted healthcare“ („Tödliche Medizin und organisiertes Verbrechen: Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert hat“) von Peter C. Gøtzsche wird die Pharmaindustrie beleuchtet. Es erscheint ein Jahr nach Ben Goldacre’s Bad Pharma.

Book cover "Deadly Medicines and Organised Crime"Deadly Medicines and Organised Crime | CC BY-SA-NC DES Daughter via flickr

Peter Gøtzsche ist Medizinprofessor in Dänemark, Mitbegründer der Cochrane Organisation und Leiter des Nordic Cochrane Centers. Ein wichtiger Wissenschaftler.

Interessant ist, dass Peter Gøtzsche beide Seiten, jene des unabhängigen Forschers, aber auch jene eines Pharmaangestellten kennt. Wie er im Buch beschreibt, ist es so gekommen, dass er nach seinem Biologiestudium beim Pharmaunternehmen Astra (heute Astra-Zeneca) seinen Berufseinstieg als Pharmareferenten machte.

Pharmareferenten sind gebildete Verkäufer, die den Ärzten die Medikamente des eigenen Unternehmens anpreisen. Sie besuchen und umgarnen Ärzte, so dass die Ärzte möglichst die eigenen Medikamente verschreiben. Pharmareferenten haben in der Regel keine medizinische Ausbildung.

Was Peter Gøtzsche sah, brachte in zum Nachdenken und seine Arbeit stellte ihn vor Gewissenskonflikte. Weckte aber auch sein Interesse und sein kritisches Denken. So nahm er parallel zu seiner Arbeit ein Medizinstudium auf. Sechs harte Jahre mit Doppelbelastung.

Er war fasziniert von der evidenzbasierten Medizin (EBM), welche sich in jener Zeit zu entwickeln begann. Eine Medizin, die sich auf Fakten stützt und nicht auf Hörensagen und pure Meinungen von Autoritäten.

Seine Erfahrungen als ehemaligen Insider der Pharmaindustrie und die Erkenntnisse der evidenzbasierten Medizin machten ihn zu einem Vorkämpfer gegen die Korruption in der Medizin.

In seinem Buch kommt Peter Gøtzsche zum Schluss: die Medizin ist kaputt. Wie schon Ben Goldacre in seinem Buch „Bad Pharma“.

Peter Gøtzsche geht noch weiter und vergleicht die Pharmaindustrie mit der organisierten Kriminalität: Wiederholter, planmässiger Betrug.

Er schreibt mit starken Worten. Nennt Dinge beim Namen.

The main reason we take so many drugs is that drug companies don’t sell drugs, they sell lies about drugs. This is what makes drugs so different from anything else in life…

Als evidenzbasierter Mediziner untermauert er seine Argumente mit Belegen.

Den Kennern der Materie beschreibt er nichts neues.

Man spürt seine ungeheure Wut nach all den Jahren ohne Fortschritte.

Vergleich mit Ben Goldacre’s „Bad Pharma“

Peter Gøtzsche und Ben Goldacre schreiben über das gleiche Thema und kommen zum gleichen Schluss. Beide Bücher deprimieren und machen wütend. Was ist das lesenswertere Buch?

Für mich ist Ben Goldacre’s „Bad Pharma“ das bessere Buch. Ben Goldacre ist für seinen unterhaltsamen Schreibstil bekannt. So ist „Bad Pharma“ unterhaltsam zu lesen, trotz des deprimierenden Inhalts. Zudem legt Ben Goldacre mehr Wert auf die Vermittelung von Hintergrundwissen als auf die Aufzählung von Fakten. Es ist lehrreicher. Man lernt mehr über das Funktionieren der medizinischen Wissenschaft. Lösungsmöglichkeiten werden besser aufgezeigt.

„Bad Pharma“ ist mittlerweile in diverse Sprachen übersetzt worden, auch deutsch.

Peter Gøtzsches Buch „Deadly Medicines and Organised Crime“ bleibt aber ein wichtiges Buch. Die Fakten sind sehr wertvoll.

Die Bedeutung von Peter Gøtzsches Buch ist an den Autoren der beiden Vorwörter ersichtlich. Zum einen Richard Smith, ehemaliger Chefredaktor (Editor-in-Chief) des BMJ und Drummond Rennie, Vizechefredaktor (Deputy Editor) des JAMA. BMJ und JAMA gehören zu den angesehensten Medizinzeitschriften (medical journals). Das Vorwort von Richard Smith kann auf seinem Blog gelesen werden. Es lohnt sich.

Fazit

Peter Gøtzsches Buch „Deadly Medicines and Organised Crime“ ist ein wichtiges Buch. Die Fakten sind sehr wertvoll. Ben Goldacre’s Bad Pharma ist aber lesenswerter.

Die beschriebenen Probleme der Medizin und der Pharmaindustrie sollten alle Leute kennen. Wenn die Probleme nicht genügend Leuten bekannt sind, werden sie auch nicht behoben.

Alle Personen mit Bezug zur Medizin sollten Ben Goldacre’s „Bad Pharma“ lesen.

Nachtrag

[Aktualisierung 06.12.2014: Peter Gøtzsches Buch ist auf deutsch erschienen: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität: Wie die Pharmaindustrie unser Gesundheitswesen korrumpiert. Zudem strahlt das Wissenschaftsmagazin von Radio SRF eine Buchbesprechung aus.]

[Aktualisierung 11.01.2015: Der Infosperber hat ein Kapitel der deutschen Übersetzung abgedruckt: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität, 21. Nov 2014]

Überarbeitete WMA Deklaration von Helsinki 2013, mit verbessertem Versionsvergleich

Die Deklaration von Helsinki (DoH): Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects wurde von der World Medical Association (WMA) an der 64. WMA Generalversammlung, Fortaleza, Brasilien, Oktober 2013 überarbeitet.1

Die Deklaration von Helsinki regelt die ethischen Prinzipien der medizinischen Forschung mit Menschen. Für medizinische Entscheidungen werden gesicherte Daten zu Behandlungen benötigt. Diese Daten können nur mit einer Überprüfung an Menschen gefunden werden. Das ist wichtig, aber auch heikel. Deshalb wurde die Deklaration von Helsinki zur medizinischen Forschung an Menschen im Jahre 1964 vom Weltärztebund (World Medical Association, WMA) geschaffen, welche nun in einer überarbeiteten Version vorliegt.

Die neue Deklaration ersetzt die letzte Version von 2008 von der 59. WMA Generalversammlung, Seoul, Korea, Oktober 2008. Die Texte liegen nur auf englisch vor.

Was hat sich geändert?

Die Unterschiede in neuen Richtlinien zu finden ist nicht einfach. Leider wird häufig kein Versionsvergleich von den Erstellern zur Verfügung gestellt. Das ist Schade, da dann niemand weiss, was sich mit der neuen Version eigentlich geändert hat.

Verbesserter Versionsvergleich

Mein erster Versionsvergleich zeigt grosse Differenzen zwischen den Versionen. Eine Analyse zeigt, dass Textverschiebungen der Grund sind.

Um einen besseren Vergleich zu erhalten, habe ich die beiden Versionen einander strukturell angeglichen.

Der neue, verbesserte Wort für Wort Vergleich (HTML, 196 KiB).

Durch Klicken auf den obigen Link, wird eine statische HTML-Datei mit den Unterschieden angezeigt.

Angleichung der beiden Versionen

Für einen besseren Verglich habe ich die Versionen minimal einander angeglichen; hauptsächlich habe ich die Paragraphen der Version 2008 verschoben. Die Version 2013 habe ich kaum verändert.

Änderungen an der Version 2008:

  • Die Paragraphen an die selbe Position wie in der Version 2013 verschoben.
  • Zwei Paragraphen aufgeteilt und markiert mit [TOx], [FROMx], beispielsweise [TO5‘], [FROM5]. Die verschobenen Teile habe ich mit geschwungenen Klammern „{}“ eingerahmt.
  • Synchronisationspunkte in beiden Versionen eingefügt, beispielsweise [SYNC3-4], wobei die erste Zahl die Paragraphennummer der Version 2008 und die zweite die Paragraphennummer der Version 2013 ist.
  • Sichtbare Leerzeichen „·“ hinzugefügt um den Zeilenumbruch in Übereinstimmung zu bringen.

Änderungen an der Version 2013:

  • Synchronisationspunkte in beiden Versionen eingefügt, beispielsweise [SYNC3-4], wobei die erste Zahl die Paragraphennummer der Version 2008 und die zweite die Paragraphennummer der Version 2013 ist.
  • Sichtbare Leerzeichen „·“ hinzugefügt um den Zeilenumbruch in Übereinstimmung zu bringen.

Umsetzung

Ich habe beide Version heruntergeladen2, diese von Hand in Markdown umgeschrieben und die Versionen minimal angeglichen. Nachher habe ich das folgende Skript, welches Pandoc für die Normalisierung und html2diff für die Formatierung benutzt, aufgerufen.

#!/bin/bash

# Normalize
pandoc -f markdown_phpextra -t markdown_phpextra --atx-headers -o doh2013.sync.norm.md doh2013.sync.md
pandoc -f markdown_phpextra -t markdown_phpextra --atx-headers -o doh2008.sync.norm.md doh2008.sync.md

# Diff
diff -U9999999 --minimal doh2008.sync.norm.md doh2013.sync.norm.md > doh_2008_2013_sync.diff

# Generate pretty HTML
diff2html.py -o doh_2008_2013_sync.diff.html -i doh_2008_2013_sync.diff -a 1

Die nötigen Programme sind alle Open Source und die Daten im Anhang (Open Data). Einer Wiederholung oder einer Verbesserung steht nichts im Wege.

Ich habe früher bereits einen ähnlichen Vergleich für die SAMW Richtlinien: Zusammenarbeit Ärzteschaft – Industrie, Überarbeitung 2013 durchgeführt und konnte von den Vorarbeiten profitieren.

Grund

Ich habe diesen Vergleich erstellt, da ich den folgenden Tweet von Ben Goldacre gesehen habe:

anyone written an interesting commentary on new Declaration of Helsinki yet? Important changes? http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=1760318

Bemerkungen

Der verbesserte Versionsvergleich zeigt die Änderungen viel klarer. Die Änderungen können nun im Detail analysiert werden.

Ausser diesem strukturellen Vergleich habe ich mich noch nicht weiter mit diesem neuen Dokument beschäftigt. Meine inhaltliche Auseinandersetzung liegt noch vor mir. Da andere vielleicht von diesem Wort für Wort Vergleich profitieren können, stelle ich ihn einmal zur Verfügung. So kann es eine Arbeitsteilung geben.

  1. Ich hoffe dieser Nebeneinandervergleich ist hilfreich.
  2. Ich hoffe in Zukunft werden Versionsvergleiche von den Erstellern zur Verfügung gestellt.

  1. World Medical Association (2013). WMA Declaration of Helsinki: Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects JAMA DOI: 10.1001/jama.2013.281053 

  2. Die Deklaration von Helsinki 2008 im Internet zu finden, war gar nicht so einfach. Die Revisionsverwaltung und die Archive könnten wirklich besser sein. 

Überarbeitete WMA Deklaration von Helsinki 2013, mit Versionsvergleich

Die Deklaration von Helsinki (DoH): Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects wurde von der World Medical Association (WMA) an der 64. WMA Generalversammlung, Fortaleza, Brasilien, Oktober 2013 überarbeitet.1

Die neue Deklaration von Helsinki ersetzt die Version von 2008 von der 59. WMA Generalversammlung, Seoul, Korea, Oktober 2008. Die Texte liegen nur auf englisch vor.

Was hat sich geändert?

Die Unterschiede in neuen Richtlinien zu finden ist nicht einfach. Leider wird häufig kein Versionsvergleich von den Erstellern zur Verfügung gestellt. Das ist Schade, da dann niemand weiss, was sich mit der neuen Version eigentlich geändert hat.

Versionsvergleich

[Aktualisierung 22.10.2013: Ich habe den Versionsvergleich verbessert, siehe verbesserten Versionsvergleich.]

Ich habe einen Wort für Wort Vergleich (HTML, 307 KiB) erstellt, um einen Anfang zu machen.

Durch Klicken auf den obigen Link, wird eine statische HTML-Datei mit den Unterschieden angezeigt.

Grund

Ich habe diesen Vergleich erstellt, da ich den folgenden Tweet von Ben Goldacre gesehen habe:

anyone written an interesting commentary on new Declaration of Helsinki yet? Important changes? http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=1760318

Umsetzung

Ich habe beide Version heruntergeladen2 und diese von Hand in Markdown umgeschrieben. Nachher habe ich das folgende Skript, welches Pandoc für die Normalisierung und html2diff für die Formatierung benutzt, aufgerufen.

#!/bin/bash

# Normalizes
pandoc -f markdown_phpextra -t markdown_phpextra --atx-headers -o doh2013.norm.md doh2013.md
pandoc -f markdown_phpextra -t markdown_phpextra --atx-headers -o doh2008.norm.md doh2008.md

# Diff
diff -U9999999 --minimal doh2008.norm.md doh2013.norm.md > doh_2008_2013.diff

# Generate pretty HTML
diff2html.py -o doh_2008_2013.diff.html -i doh_2008_2013.diff -a 1

Ich habe früher bereits einen ähnlichen Vergleich für die SAMW Richtlinien: Zusammenarbeit Ärzteschaft – Industrie, Überarbeitung 2013 durchgeführt und konnte von den Vorarbeiten profitieren.

Bemerkungen

Ausser diesem strukturellen Vergleich habe ich mich noch nicht weiter mit diesem neuen Dokument beschäftigt. Meine inhaltliche Auseinandersetzung liegt noch vor mir. Da andere vielleicht von diesem Wort für Wort Vergleich profitieren können, stelle ich ihn einmal zur Verfügung. So kann es eine Arbeitsteilung geben.

  1. Ich hoffe dieser Nebeneinandervergleich ist hilfreich.
  2. Ich hoffe in Zukunft werden Versionsvergleiche von den Erstellern zur Verfügung gestellt.

  1. World Medical Association (2013). WMA Declaration of Helsinki: Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects JAMA DOI: 10.1001/jama.2013.281053 

  2. Die Deklaration von Helsinki 2008 im Internet zu finden, war gar nicht so einfach. Die Revisionsverwaltung und die Archive könnten wirklich besser sein. 

Karikatur: Dr. COI behandelt im besten Interesse

In welchem Interesse handeln gesponserte Ärzte und Forscher? In jenem der Pharma, der Patienten oder der eigenen?

Bilder sprechen mehr als tausend Worte. Meine erste Karikatur:

Dr. COI behandelt im besten Interesse.Dr. COI (be)handelt im besten Interesse. COI = Conflict of interest = Interessenkonflikt | CC BY-SA Patientensicht.ch

Inspiriert von den Karikaturen von Widmer (WOZ) und Burki (24 heures) wollte ich es selbst einmal probieren.

Da die Arme etwas klein geraten sind, hier ein Ausschnitt mit den Armen:

Dr. COI Ausschnitt mit den ArmenDr. COI Ausschnitt mit den Armen. | CC BY-SA Patientensicht.ch

Im Sport werden die Sponsoren offen und stolz aufs Trikot oder den Rennanzug aufgetragen, z.B. auf dem Trikot von Rennvelofahrer Fabian Cancellara oder dem Rennanzug von Töfffahrer Tom Lüthi. Das Sponsoring ist wahrscheinlich in der Medizin ungleich grösser als im Sport, beispielsweise gibt Novartis jährlich rund 15 Mrd. Dollar für das Marketing aus (unglaubliche 50% mehr als für die Forschung). Doch die Mediziner tragen alle ihre weissen Kittel. Die Sponsoren werden möglichst versteckt und verheimlicht. Von Transparenz gegenüber den Patienten keine Spur. Das sollte nicht sein.

Interessenkonflikte (conflict of interests, COI) entstehen, wenn eine Person neben der Hauptaufgabe, in weitere Aktivitäten involviert ist. Beispielsweise wenn Mediziner auf gesponserten Kongressen weitergebildet werden oder Geschenke erhalten. Insbesondere häufig treten Interessenkonflikte in der akademischen Medizin auf, da viele Studien von der Pharmaindustrie gesponsert sind. Beispielsweise wenn Professoren klinische Studien für die Marktzulassung von Medikamenten der Pharmaindustrie durchführen. Das Heimtückische ist, dass sich Interessenkonflikte subtil und unbewusst auswirken.

[Aktualisierung 19.09.2013: Interview mit Tagesanzeiger-Karikaturist Felix Schaad, Tagesgespräch SRF 19.09.2013. Zu Beginn macht er 5cm² Zeichnungen zum Herantasten.]

BG-12/Fumarsäure/Dimethylfumarat/Tecfidera® Abzockerei [akt. 4]

Wie können Pharmamultis das Schweizer Gesundheitssystem ausnehmen? Was können wir dagegen tun?

Kassensturz 30.04.2013, Gierige Pharmafirma: So zockt sie Schwerkranke ab (Artikel mit integriertem Video, auf Bild klicken zum Schauen der Sendung, 12min)

oder ähnlicher Beitrag der ARD, 30.01.2013, Warum Medikamente vom Markt verschwinden.

[Aktualisierung 05.01.2014: oder Frontal 21, ZDF, 12.11.2013, 7 Min., ab der 32. Minute.]

Anschaulicher könnte es nicht sein, wie unser Gesundheitssystem geplündert werden kann. Bezahlen müssen es Kranke und Gesunde, Arme und Reiche, Alte und Junge.

(Zum Verständnis dieses Blogartikels sollte die obige Kassensturz- oder die Frontal 21-Sendung geschaut bzw der dazugehörige Artikel gelesen werden. Die Kassensturzsendung ist in Mundart. Alle, die Schweizerdeutsch nicht verstehen, können den dazugehörigen Artikel lesen oder die Frontal 21-Sendung schauen.)

Die Empörung ist gross.

Ist BG-12/Fumarsäure/Dimethylfumarat/Tecfidera® von Biogen Idec ein Einzelfall?

Novartis und Roche haben bereits mit den Medikamenten Lucentis und Avastin gezeigt wie die Abzockerei geht. Lucentis ist praktisch das gleiche Medikament wie Avastin, aber 10x teuerer.

Beim kommenden MS-Medikament Alemtuzumab (Lemtrada®) ist das Vorgehen noch dreister. Alemtuzumab ist ein Medikament gegen Blutkrebs (Leukämie). Es heisst MabCampath®. Genzyme ist das Pharmaunternehmen hinter Alemtuzumab (Lemtrada®, MabCampath®).

Als ein Einsatz für Multiple Sklerose klar war, wurde das Medikament MabCampath® kurzerhand vom Markt genommen und damit den Krebskranken weggenommen, siehe Leukämie-Medikament: Marktrücknahme empört Ärzte. SPIEGEL ONLINE. 27. Aug. 2012 oder Warum Medikamente vom Markt verschwinden, ARD, 30.01.2013. Und ist nun als Lemtrada® in der Pipeline für MS.

Liegt die Schuld an den überhöhten Preisen beim Bundesamt für Gesundheit (BAG)?

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat einen Ermessenspielraum. Ist aber letztlich gefangen im Gesetzes-System. Preise werden nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien festgelegt, wie es im KVG-Gesetz festgeschrieben ist. Das Parlament ist für die Gesetze verantwortlich.

Wie funktioniert das marktwirtschaftliche System?

0.5l Mineralwasser im Coop/Migros kostet 50 Rappen, am Bahnhof 5 Franken und in der Wüste vor dem Verdursten?

Wen betrifft es? Wer zahlt die überhöhten Preise?

Die horrend teuren Medikament, praktisch ohne Eigenleistung der Pharmafirma, sind, ausser für die Pharmafirma, völlig unbefriedigend.

Aber haben wir – Patienten, Ärzte, MS-Gesellschaften, BAG, Politiker – überhaupt ein Interesse etwas zu tun?

Hand aufs Herz. Wir können das Problem ignorieren, denn wir tragen die Folgen nicht. Es ist der Prämienzahler, die Gesamtbevölkerung die bluten müssen.

Auch die Patienten trifft es nicht mehr, als die andere Bevölkerung. Alle können wegschauen, ohne einen wesentlichen persönlichen Nachteil zu erleiden. Niemand hat einen (ökonomischen) Anreiz etwas zu tun.

Einzelne von uns profitieren sogar von diesen hohen Preisen. Denn wenn die Pharmafirma im Geld schwimmt, fällt auch etwas auf uns ab. Die Pharmafirma kann sich spendierfreudig zeigen:

  • Ärzten viele schöne Events mit gutem Essen organisieren.
  • Patienten „speziell“ betreuen.
  • Patientenorganisationen grosszügig sponsoren.
  • Forscher mit Forschungsgeld anlocken.
  • Sich gegenüber Beamten und Politikern erkenntlich zeigen.

Bezahlen tun es die anderen.

Machen wir bei diesem korrupten System mit?

Warum sollten wir als MS-Patienten die Taschen von Biogen Idec füllen und die Taschen der Bevölkerung leeren?

Gibt es nicht ein schlechtes Gewissen unnötigerweise Geld (von anderen) zu verschleudern? Wenn es doch Alternativen gibt?

Also, ich finde wir sollten am Thema dranbleiben und etwas unternehmen.

Ein Engagement ist eine Frage des Gewissens.

Was können wir tun?

Das Problem liegt in unserem Verantwortungsbereich. Wir können etwas dagegen tun.

Doch stell Dir vor: Es ist Krieg. Und keiner geht hin.

Für eine Medikamenteneinnahme braucht es vier Voraussetzungen: 1. Die Ärzte müssen ein Medikament verschreiben. 2. Die Patienten müssen einverstanden sein. 3. Die Apotheker müssen das Medikament abgeben. 4. Die Bezahlung ist gesichert.

Doch warum sollten die Ärzte und Patienten das teure Markenmedikament nehmen, wenn es das gleiche zu einem vernünftigen Preis gibt?

Normalerweise kommen die Generika immer nach dem Medikament auf den Markt, hier scheint es gerade umgekehrt zu sein. Warum also nicht weiterhin das Generikum Fumarsäure benutzen?

Konkrete Schritte

  1. Das Medikament Tecfidera® ins Leere laufen lassen. Und Dimethylfumarat nutzen. (sofort machbar)
  2. Das BAG auffordern seinen Ermessenspielraum auszunutzen und von unserem schlechten Gewissen erzählen. (sofort machbar)
  3. Eine Verbesserung der Gesetze anstreben. (langfristig)
  4. „Bund der Prämien- und Steuerzahler“ ins Leben rufen. (mittelfristig machbar)

Wer kann was machen?

Patienten

  • Falls Tecfidera® erwogen wird, auf Tecfidera® verzichten und stattdessen sich um Fumarsäure bemühen.
  • Dem BAG das schlechte Gewissen wegen dem überteuerten Medikament in einem freundlichen Brief mitteilen.
  • Mitpatienten informieren.

Ärzte

  • Auf das Verschreiben von Tecfidera® verzichten und stattdessen Fumarsäure vorschlagen.
  • Die Verschreibung von Fumarsäure unterstützen.

Klinische Forscher, Meinungsführer und Ärzteorganisationen

  • Bei Informationsveranstaltungen für Ärzte und Patienten über Tecfidera® und die Fumarsäure-Alternative sprechen.

MS-Gesellschaft

  • Die Thematik, als Interessenvertreterin der MS-Patienten, aufgreifen.
  • Eigene Ansprechsgruppen – Patienten, Ärzte und Wissenschaftler – über Tecfidera® und die Fumarsäure-Alternative informieren, z.B. via Infoveranstaltungen, Infomaterial (MS-Medic) und Mitgliedermagazin Forte.
  • Den Swiss Research Award for Multiple Sclerosis von Biogen Idec im Namen der MS-Gesellschaft ersetzen. Das Geld von Biogen Idec nicht mehr annehmen und das Preisgeld selbst bereitstellen.

Krankenkassen

  • Verschreibungen von Fumarsäure bezahlen. Denn mit jeder Einnahme von Fumarsäure wird eine Tecfidera®-Therapie gespart. Das zusätzliche, freiwillige Bezahlen rechnet sich schnell.
  • Mit vorhandenem Einfluss in der Politik das System zu korrigieren versuchen.

Biogen Idec

  • Einen den Herstellungs- und Forschungskosten angemessen Preis für Tecfidera® ansetzen.
  • Einen eigenen MS-Forschungspreis vergeben.
  • Der Gesellschaft den fabelhaften und ungerechtfertigten Gewinn zurückgeben.

Volksvertreter

  • Plünderung der Bevölkerung via dem Gesundheitssystem abstellen.
  • Bessere Anreizsysteme schaffen und dadurch die sanfte Korruption und bequeme Blindheit stoppen.
  • (Übermässige) Einflussnahme der Pharmaindustrie auf den Gesetzgebungsprozess einschränken.

Prämien- und Steuerzahler1

  • Sich organisieren und Interessenvertretung wahrnehmen.
  • Druck auf Krankenkassen, Parlamentarier und BAG ausüben.

Medien

  • Über Medikamentenabzockerei und Problematik der sanften Korruption informieren.

Mithelfen

Wer hilft mit?

Jeder Beitrag zählt.

Nachtrag

[Aktualisierung 24.05.2013: Für Tweets zu diesem Thema schlage ich das Hashtag #BG12DMF vor.]

[Aktualisierung 03.06.2013: Biogen Idec scheint unsicher über die Patentlage zu werden und verzögert die Markteinführung in Europa. via MS Research Blog]

[Aktualisierung 18.06.2013: Prof. Gavin Giovannoni hat sich zur Verzögerung von BG-12 geäussert: „They [Biogen-Idec] claim to be a company that has MSers interest at heart and they then decide to delay the launch of an effective drug simply for business reasons.“]

[Aktualisierung 23.06.2013: Haarstreubend! Nur Pharmafirmen können Rekurse gegen vom BAG festgesetzte Preise machen. Die Preise können ja so nur nach oben gehen. Siehe Communiqué Santésuisse. Andernorts gibt es das Verbandsbeschwerderecht. Kürzlich hat das Bundesgericht ausdrücklich das Beschwerderecht der Organisation von Franz Weber, dem Initianten der Zweitwohnungsinitiative zugestanden. Wo kein Kläger, da auch kein Richter. Der santésuisse Verband fordert gleich lange Spiesse. Es ist stossend, dass Krankenkassen und Patientenorganisationen nicht eingreifen können.]

[Aktualisierung 01.07.2013: Biogen hat sich über diesen Blogartikel bei der MS-Gesellschaft beschwert, wie mir ein Mitarbeiter der MS-Gesellschaft an der Mitgliederversammlung mitgeteilt hat. Der Artikel würde fehlerhaft sein. Da der Blog unabhängig ist, haben wir abgemacht, dass Biogen mitgeteilt wird, sie sollen sich direkt melden sollen. Bis jetzt habe ich nichts gehört. So weiss ich nicht, was fehlerhaft sein könnte.]

[Aktualisierung 10.07.2013: Was kosten MS-Medikamente? Ich habe im Artikel Multiple Sklerose: Medikamentenübersicht mit Preisen eine Übersicht zusammengestellt. Der durchschnittliche Preis von sogenannten Basis-Therapie-Medikamenten ist über Fr. 24‘000!]

[Aktualisierung 27.10.2013: Jürgen Erhardt (Dr. rer. nat.) beschreibt auf seiner kleinen Webseite www.dmfms.de wie er eine Therapie mit Dimethlyfumarsäure (DMF) zur Behandlung seiner MS mit Kosten von weniger als 100 Euro pro Jahr macht. Eine praktische Anleitung mit fundierten Informationen.]

[Aktualisierung 12.11.2013: Bericht Neue Karriere eines alten Heilmittels in Berner Zeitung, 4. Nov. 2013]

[Aktualisierung 08.12.2013: Interpellation der GLP-Nationalrätin Margrit Kessler (Patientenschützerin) im Parlament: 13.3442 – Interpellation: Zulassung von Dimethylfumarat für die Behandlung von multipler Sklerose]

[Aktualisierung 05.01.2014: Ich bin seit Dezember 2013 bin ich Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der MS-Gesellschaft. Der Wissenschaftliche Beirat ist gemäss Reglement der MS-Gesellschaft verantwortlich für das Erstellen von Fachinformationen. Ich werde so zu den Informationen zu BG-12 (Tecfidera®, Dimethylfumarat, Fumarsäure) mitverantwortlich sein. Das Ganze ist für mich noch völlig neu. Ich werde sicher versuchen mich bei den BG-12-Informationen (Tecfidera®, Dimethylfumarat, Fumarsäure) zu beteiligen. Wie es konkret aussieht und was ich bewirken kann, ist aber ungewiss. Im WB sind etwa 30 Leute, hauptsächlich Ärzte. Es ist auf jeden Fall spannend.]

[Aktualisierung 05.01.2014: Frontal 21 des ZDF hat am 12. November eine gute Zusammenfassung zur Abzockerei von BG-12 (Fumarsäure, Dimethylfumarat, Tecfidera®) gesendet, 7 Min., Sart ab der 32. Minute.]

[Aktualisierung 13.01.2014: Ich habe am Wochenende am „State of the Art Treffen“ teilgenommen. Dieses Treffen ist eine Weiterbildungsveranstaltung für Ärzte und Forscher im Bereich MS. Die Pharmaindustrie war mit Ständen vertreten.
Ich habe mit Biogen Idec gesprochen. Biogen Idec ist der Hersteller von BG-12 (Tecfidera®). Eine Frau war zuständig für BG-12. Hier meine Fragen und ihre Antworten:
Wann kommt Tecfidera® (BG-12) in der Schweiz?
Sie weiss es nicht. Die Schweizerische Zulassungsbehörde Swissmedic entscheidet. Die Entscheidung ist nicht abhängig von der Europäischen Zulassungsbehörde EMA.
Was wird Tecfidera® (BG-12) in der Schweiz kosten?
Weniger als in den USA. Die Preise werden vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) nach den gültigen Regeln festgesetzt, wie z.B. den sechs Referenzländern.
Der mutmassliche Preise von Tecfidera® (BG-12) hatte eine schlechte Presse. Was meinen sie?
Medien sind halt Medien. Die schreiben was sie wollen.
Gemäss diesen Informationen ist ein Preis um die Fr. 28‘000 zu erwarten.
Zudem habe ich erfahren, dass das MS-Info-Blatt der MS-Gesellschaft für Tecfidera® (BG-12) schon seit einiger Zeit geschrieben ist. Das Infoblatt wird dann veröffentlicht, wenn die Pille zugelassen ist. Es steht nichts drin über Dimethylfumarat aus der Apotheke.
Es ist schade, dass Dimethylfumarat aus der Apotheke nicht erwähnt wurde. Wir müssen überlegen, was wir machen sollen.
]

[Aktualisierung 01.03.2014: BG-12 wurde in der EU am 30.01.2014 zugelassen. BG-12 wurde als neuer Wirkstoff eingestuft. Das bedeutet einen 10-jährigem Schutz vor Generika. Eine EU-Zulassung wird von der Schweiz nicht automatisch übernommen. Die Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic fällt einen eigenen Entscheid. Wann das Präparat effektiv in der EU erhältlich ist hängt nun im wesentlichen vom Hersteller ab. Preise sind noch keine bekannt.]

[Aktualisierung 01.03.2014: Ich wurde schon gefragt, ob ich etwas Biogen Idec habe, da ich über BG-12 (Tecfidera®) schreibe.
Nein, mein Interesse liegt nicht an der Firma Biogen Idec an sich. BG-12 ist das aktuell diskutierte Medikament. Zudem wird zwischen dem Herstellungspreis und dem erwarteten Verkaufspreis ein Riesenunterschied erwartet (bis zu 30x teurer). Zudem finde ich „zufällig“ entdeckte Medikamente interessant. Bei „hergeleiteten“ Medikamenten wird „krampfhaft“ nach der Wirkung gesucht. Bei „zufällig“ entdeckten Medikamenten sprang die Wirkung jemandem ins Auge. Biogen Idec verdient kräftig mit MS-Medikamenten. Im Jahr 2013 erzielte Biogen Einnahmen von 5.8 Milliarden Dollar. Das ist verglichen mit den anderen Herstellern weitaus am meisten.
]

[Aktualisierung 01.03.2014: Im deutschen Ärzteblatt hat Dr. med. Jutta Scheiderbauer, welche selbst an MS erkrankt ist, einen interessanten Brief zu BG-12 veröffentlicht: Multiple Sklerose: Therapeutische Unsicherheit. Sie argumentiert, dass prophylaktisch eingenommene Medikamente ohne unmittelbaren oder belegten langfristigen Nutzen sehr gut verträglich sein müssen.]

[Aktualisierung 11.03.2014: Biogen Idec verkauft das Medikament in Deutschland für € 2‘172 pro Packung (à 56 Pillen). 13 Packungen sind pro Jahr nötig, was einen Jahrespreis von € 28‘309 ergibt, siehe Artikel Multiple Sklerose: Medikamentenübersicht mit Preisen.]

[Aktualisierung 28.03.2014: Die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Ständerates hat einen Bericht zu den Medikamentenpreisen in der Schweiz verfasst: Kritik an Zulassung von Medikamenten: Verfahrensmängel treiben Preise in die Höhe, NZZ, 28. März 2014
„Unpräzise Beurteilungskriterien, widersprüchliche Rechtsvorgaben, ungenügende Ressourcen: Diese Defizite listet ein Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle über die Zulassungsverfahren von Medikamenten auf. Eine wirtschaftliche Versorgung mit Arzneimitteln werde mit den heutigen Verfahren nur beschränkt erreicht. Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats richtet Empfehlungen und Prüfaufträge an den Bundesrat.“
„Die Verwaltungskontrolle kommt zum Schluss, dass «die unklaren Beurteilungskriterien insgesamt die Stellung des BAG gegenüber den oftmals wissenschaftlich und juristisch besser ausgestatteten Arzneimittelhersteller schwächen.»“
Es ist also so, dass gewisse Medikamentenpreise nicht nur aus Patientensicht „seltsam“ sind, sondern auch aus Sicht unserer Volksvertreter. Das ist ein gutes Zeichen, dass sich etwas ändern könnte. Hoffentlich, werden die Reformen bald in Angriff genommen.
]

[Aktualisierung 08.10.2014: Die heutige SRF Radio Sendung Espresso hat einen Beitrag zu Dimethylfumarat und Tecfidera® ausgestrahlt: Kostenexplosion bei MS-Medikation .]

[Aktualisierung 10.10.2014: Der Preis in der Schweiz für Tecfidera® ist nun bekannt. Biogen Idec verkauft das Medikament in der Schweiz für Fr. 1‘844 pro Packung (à 56 Pillen). 13 Packungen sind pro Jahr nötig, was einen Jahrespreis von Fr. 24‘031 ergibt.]

[Aktualisierung 16.10.2014: G-BA: Zusatznutzen von Dimethylfumarat bei Multipler Sklerose nicht belegt, dmsg, 16.10.2014. Der Gemein­same Bundes­aus­schuss (G-BA) ist das oberste Beschluss­g­re­mium der gemein­samen Selbst­ver­wal­tung der Ärzte, Zahn­ärzte, Psycho­the­ra­peuten, Kran­ken­häuser und Kran­ken­kassen in Deut­sch­land. Er bestimmt in Form von Richt­li­nien den Leis­tungs­ka­talog der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung (GKV) für mehr als 70 Millionen Versi­cherte und legt damit fest, welche Leis­tungen der medi­zi­ni­schen Versor­gung von der GKV erstattet werden. In der Schweiz entspräche dies der Aufnahme in die Spezialitätenliste, die ebenfalls über die Vergütung der Krankenkassen entscheidet. Hinweis: Kein Zusatznutzen muss nicht bedeuten, dass es nicht wirken würde. Im Klartext heisst die Aussage des G-BA, dass es für Tecfidera® keine Anhaltspunkte gibt, die zeigen, dass es besser wäre als was jetzt schon auf dem Markt ist. Es stellt in diesem Sinne keine Innovation dar. Dies wird vom G-BA bei der Vergütung berücksichtigt. G-BA-Beschluss, 16.10.2014]

[Aktualisierung 20.06.2015: Kritischer Beitrag über Tecfidera®. Was sind die Langzeitrisiken? Ausgang unbekannt, 3-Sat, nano, 5:57, 01.09.2014]


  1. Wer vertritt die Interessen der Prämienzahler?
    Eigentlich niemand. Es gibt keinen „Bund der Prämien und Steuerzahler“, der mit Nachdruck einschreitet. 

BG-12/Fumarsäure/Dimethylfumarat/Tecfidera® Abzockerei

Wie können Pharmamultis das Schweizer Gesundheitssystem ausnehmen? Was können wir dagegen tun?

Kassensturz 30.04.2013, Gierige Pharmafirma: So zockt sie Schwerkranke ab (Artikel mit integriertem Video, auf Bild klicken zum Schauen der Sendung, 12min)

oder ähnlicher Beitrag der ARD, 30.01.2013 Warum Medikamente vom Markt verschwinden.

Anschaulicher könnte es nicht sein, wie unser Gesundheitssystem geplündert werden kann. Bezahlen müssen es Kranke und Gesunde, Arme und Reiche, Alte und Junge.

(Zum Verständnis dieses Blogartikels sollte die obige Kassensturz-Sendung geschaut bzw der dazugehörige Artikel gelesen werden. Die Fernsehsendung ist in Mundart. Alle, die Schweizerdeutsch nicht verstehen, können den dazugehörigen Artikel lesen.)

Die Empörung ist gross.

Ist BG-12/Fumarsäure/Dimethylfumarat/Tecfidera® von Biogen Idec ein Einzelfall?

Novartis und Roche haben bereits mit den Medikamenten Lucentis und Avastin gezeigt wie die Abzockerei geht. Lucentis ist praktisch das gleiche Medikament wie Avastin, aber 10x teuerer.

Beim kommenden MS-Medikament Alemtuzumab (Lemtrada®) ist das Vorgehen noch dreister. Alemtuzumab ist ein Medikament gegen Blutkrebs (Leukämie). Es heisst MabCampath®. Genzyme ist das Pharmaunternehmen hinter Alemtuzumab (Lemtrada®, MabCampath®).

Als ein Einsatz für Multiple Sklerose klar war, wurde das Medikament MabCampath® kurzerhand vom Markt genommen und damit den Krebskranken weggenommen, siehe Leukämie-Medikament: Marktrücknahme empört Ärzte. SPIEGEL ONLINE. 27. Aug. 2012 oder Warum Medikamente vom Markt verschwinden, ARD, 30.01.2013. Und ist nun als Lemtrada® in der Pipeline für MS.

Liegt die Schuld an den überhöhten Preisen beim Bundesamt für Gesundheit (BAG)?

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat einen Ermessenspielraum. Ist aber letztlich gefangen im Gesetzes-System. Preise werden nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien festgelegt, wie es im KVG-Gesetz festgeschrieben ist. Das Parlament ist für die Gesetze verantwortlich.

Wie funktioniert das marktwirtschaftliche System?

0.5l Mineralwasser im Coop/Migros kostet 50 Rappen, am Bahnhof 5 Franken und in der Wüste vor dem Verdursten?

Wen betrifft es? Wer zahlt die überhöhten Preise?

Die horrend teuren Medikament, praktisch ohne Eigenleistung der Pharmafirma, sind, ausser für die Pharmafirma, völlig unbefriedigend.

Aber haben wir – Patienten, Ärzte, MS-Gesellschaften, BAG, Politiker – überhaupt ein Interesse etwas zu tun?

Hand aufs Herz. Wir können das Problem ignorieren, denn wir tragen die Folgen nicht. Es ist der Prämienzahler, die Gesamtbevölkerung die bluten müssen.

Auch die Patienten trifft es nicht mehr, als die andere Bevölkerung. Alle können wegschauen, ohne einen wesentlichen persönlichen Nachteil zu erleiden. Niemand hat einen (ökonomischen) Anreiz etwas zu tun.

Einzelne von uns profitieren sogar von diesen hohen Preisen. Denn wenn die Pharmafirma im Geld schwimmt, fällt auch etwas auf uns ab. Die Pharmafirma kann sich spendierfreudig zeigen:

  • Ärzten viele schöne Events mit gutem Essen organisieren.
  • Patienten «speziell» betreuen.
  • Patientenorganisationen grosszügig sponsoren.
  • Forscher mit Forschungsgeld anlocken.
  • Sich gegenüber Beamten und Politikern erkenntlich zeigen.

Bezahlen tun es die anderen.

Machen wir bei diesem korrupten System mit?

Warum sollten wir als MS-Patienten die Taschen von Biogen Idec füllen und die Taschen der Bevölkerung leeren?

Gibt es nicht ein schlechtes Gewissen unnötigerweise Geld (von anderen) zu verschleudern? Wenn es doch Alternativen gibt?

Also, ich finde wir sollten am Thema dranbleiben und etwas unternehmen.

Ein Engagement ist eine Frage des Gewissens.

Was können wir tun?

Das Problem liegt in unserem Verantwortungsbereich. Wir können etwas dagegen tun.

Doch stell Dir vor: Es ist Krieg. Und keiner geht hin.

Für eine Medikamenteneinnahme braucht es vier Voraussetzungen: 1. Die Ärzte müssen ein Medikament verschreiben. 2. Die Patienten müssen einverstanden sein. 3. Die Apotheker müssen das Medikament abgeben. 4. Die Bezahlung ist gesichert.

Doch warum sollten die Ärzte und Patienten das teure Markenmedikament nehmen, wenn es das gleiche zu einem vernünftigen Preis gibt?

Normalerweise kommen die Generika immer nach dem Medikament auf den Markt, hier scheint es gerade umgekehrt zu sein. Warum also nicht weiterhin das Generikum Fumarsäure benutzen?

Konkrete Schritte

  1. Das Medikament Tecfidera® ins Leere laufen lassen. Und Dimethylfumarat nutzen. (sofort machbar)
  2. Das BAG auffordern seinen Ermessenspielraum auszunutzen und von unserem schlechten Gewissen erzählen. (sofort machbar)
  3. Eine Verbesserung der Gesetze anstreben. (langfristig)
  4. «Bund der Prämien- und Steuerzahler» ins Leben rufen. (mittelfristig machbar)

Wer kann was machen?

Patienten

  • Falls Tecfidera® erwogen wird, auf Tecfidera® verzichten und stattdessen sich um Fumarsäure bemühen.
  • Dem BAG das schlechte Gewissen wegen dem überteuerten Medikament in einem freundlichen Brief mitteilen.
  • Mitpatienten informieren.

Ärzte

  • Auf das Verschreiben von Tecfidera® verzichten und stattdessen Fumarsäure vorschlagen.
  • Die Verschreibung von Fumarsäure unterstützen.

Klinische Forscher, Meinungsführer und Ärzteorganisationen

  • Bei Informationsveranstaltungen für Ärzte und Patienten über Tecfidera® und die Fumarsäure-Alternative sprechen.

MS-Gesellschaft

  • Die Thematik, als Interessenvertreterin der MS-Patienten, aufgreifen.
  • Eigene Ansprechsgruppen – Patienten, Ärzte und Wissenschaftler – über Tecfidera® und die Fumarsäure-Alternative informieren, z.B. via Infoveranstaltungen, Infomaterial (MS-Medic) und Mitgliedermagazin Forte.
  • Den Swiss Research Award for Multiple Sclerosis von Biogen Idec im Namen der MS-Gesellschaft ersetzen. Das Geld von Biogen Idec nicht mehr annehmen und das Preisgeld selbst bereitstellen.

Krankenkassen

  • Verschreibungen von Fumarsäure bezahlen. Denn mit jeder Einnahme von Fumarsäure wird eine Tecfidera®-Therapie gespart. Das zusätzliche, freiwillige Bezahlen rechnet sich schnell.
  • Mit vorhandenem Einfluss in der Politik das System zu korrigieren versuchen.

Biogen Idec

  • Einen den Herstellungs- und Forschungskosten angemessen Preis für Tecfidera® ansetzen.
  • Einen eigenen MS-Forschungspreis vergeben.
  • Der Gesellschaft den fabelhaften und ungerechtfertigten Gewinn zurückgeben.

Volksvertreter

  • Plünderung der Bevölkerung via dem Gesundheitssystem abstellen.
  • Bessere Anreizsysteme schaffen und dadurch die sanfte Korruption und bequeme Blindheit stoppen.
  • (Übermässige) Einflussnahme der Pharmaindustrie auf den Gesetzgebungsprozess einschränken.

Prämien- und Steuerzahler1

  • Sich organisieren und Interessenvertretung wahrnehmen.
  • Druck auf Krankenkassen, Parlamentarier und BAG ausüben.

Medien

  • Über Medikamentenabzockerei und Problematik der sanften Korruption informieren.

Mithelfen

Wer hilft mit?

Jeder Beitrag zählt.

Nachtrag

Für Tweets zu diesem Thema schlage ich das Hashtag #BG12DMF vor.

Biogen Idec scheint unsicher über die Patentlage zu werden und verzögert die Markteinführung in Europa. via MS Research Blog

Prof. Gavin Giovannoni hat sich zur Verzögerung von BG-12 geäussert: «They [Biogen-Idec] claim to be a company that has MSers interest at heart and they then decide to delay the launch of an effective drug simply for business reasons.»

Haarstreubend! Nur Pharmafirmen können Rekurse gegen vom BAG festgesetzte Preise machen. Die Preise können ja so nur nach oben gehen. Siehe Communiqué Santésuisse. Andernorts gibt es das Verbandsbeschwerderecht. Kürzlich hat das Bundesgericht ausdrücklich das Beschwerderecht der Organisation von Franz Weber, dem Initianten der Zweitwohnungsinitiative zugestanden. Wo kein Kläger, da auch kein Richter. Der santésuisse Verband fordert gleich lange Spiesse. Es ist stossend, dass Krankenkassen und Patientenorganisationen nicht eingreifen können.

Biogen hat sich über diesen Blogartikel bei der MS-Gesellschaft beschwert, wie mir ein Mitarbeiter der MS-Gesellschaft an der Mitgliederversammlung mitgeteilt hat. Der Artikel würde fehlerhaft sein. Da der Blog unabhängig ist, haben wir abgemacht, dass Biogen mitgeteilt wird, sie sollen sich direkt melden sollen. Bis jetzt habe ich nichts gehört. So weiss ich nicht, was fehlerhaft sein könnte.

Was kosten MS-Medikamente? Ich habe im Artikel Multiple Sklerose: Medikamentenübersicht mit Preisen eine Übersicht zusammengestellt. Der durchschnittliche Preis von sogenannten Basis-Therapie-Medikamenten ist über Fr. 24‘000!


  1. Wer vertritt die Interessen der Prämienzahler?
    Eigentlich niemand. Es gibt keinen «Bund der Prämien und Steuerzahler», der mit Nachdruck einschreitet. 

Irving Kirsch: Moderne Antidepressiva sind «Super-Placebos»

Wie gut wirken moderne SSRI, SNRI oder NARI Antidepressiva? Was ist der Wirkmechanismus dieser Antidepressiva? Was sagen Studien? Wer ist Irving Kirsch? Worauf stützt sich die These von Irving Kirsch? Was sind Placebos? Was ist der Placebo-Effekt? Warum wirken Placebos?

Irving Kirsch ist ein britischer Psychologie-Professor an der Harvard Medical School. Zu seinen Forschungsgebieten gehört der Placeboeffekt.

Placebos sind Medikamente ohne Wirkstoff. Scheinmedikamente. Auf englisch werden Placebos häufig als Sugar Pills, also als Zuckerpillen bezeichnet. Das erstaunliche ist nun, dass diese Placebos trotzdem wirken können. Schmerzen werden gelindert und Beschwerden verschwinden. Solche Effekte können erstaunlicherweise physiologisch gemessen werden, z.B. werden die selben Hirnregionen wie bei den «richtigen Medikamenten» aktiviert. Das Interesse am Placebo-Effekt ist in den letzten Jahren erwacht. Wann wirken Placebos? Warum wirken Placebos?

Alle neuen Medikamente müssen zur Zulassung mit Placebos verglichen werden. Sie müssen beweisen, dass der eingesetzte Wirkstoff wirksam ist. Das neue Medikament muss besser wirken als ein Scheinmedikament. Irving Kirsch begann für seine Placeboforschung die Placbogruppen der wissenschaftlichen Literatur der Antidepressiva zu analysieren. Konkret machte er eine Metaanalyse. Er fasste die Daten vieler Studien in einer Metaanalyse1 zusammen.

Bei seiner Recherche fand er, dass Placebos annähernd so gut wirkten wie die Antidepressiva. Er war irritiert, da er die Medikamente vom Pharmamarketing als hochwirksame Medikamente kennenlernte. Er bekam vielfältige Reaktionen: Grosse Ablehnung seiner Methode wie grosse Unterstützung.

Bei der Analyse wurde klar, dass noch mehr Daten vorhanden sein mussten.

Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA verlangt von den Pharmafirmen alle Studienrohdaten vor der Zulassung, damit sie eigene Analysen durchführen kann. Bei der FDA mussten also noch mehr Studiendaten vorhanden sein.

Wie ist es möglich an die zusätzlichen Studiendaten zu kommen?

Ganz einfach, jeder US Bürger kann Einsicht in Behördendaten verlangen. Die USA haben nämlich seit den 70er Jahren ein Open Data-Gesetz, den Freedom of Information Act. Denn es gilt der einfache Grundsatz: Die Regierung und die Behörden der USA sind für ihre Bürger da. So sollen die Bürger auch die Daten ihrer Behörden einsehen können. (In der Schweiz gibt es übrigens seit 2006 das Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) mit der gleichen Funktion.) Ein Forscher aus den USA verlangte Einsicht in die Studiendaten der Antidepressiva der FDA.

Siehe da. Viele Studien wurden gar nicht veröffentlicht. Und dies sind vor allem Studien, die «negative Resultate» zeigten. Die vorhandene wissenschaftliche Literatur war stark irreführend. Schlechte Studien wurden nicht veröffentlicht und gute im Gegenzug mehrfach (publication bias).2

Interessanterweise waren die verheimlichten Studien und die mehrheitlich schlechten Studien nichts völlig neues. Experten aus diesem Forschungszweig war dies bekannt. Nur wurden diese Informationen den «normalen Ärzten» und den Patienten vorenthalten!

Irving Kirsch wiederholte mit den neuen FDA-Studiendaten seine Metaanalyse34. Der Unterschied zwischen Placebos und den Antidepressivas wurde noch kleiner. Zwischen den Antidepressiva und den Placebos gab es einen kleinen, im klinischen Krankheitsalltag kaum feststellbaren Unterschied.

Irving Kirsch fragte sich, was den kleinen Unterschied zwischen den Antidepressivas und den Placebos ausmachen könnte. Er prüfte verschiedene Thesen. Schliesslich konnte er es sich nur erklären, dass Antidepressivas «Super-Placebos» sind. Placebos sind nämlich nicht gleich Placebos. Zweimal täglich ein Scheinmedikament wirkt besser als eines. Und eine Placebospritze wirkt besser als zwei tägliche Scheinmedikamente. Seine Erklärung ist, dass während den Studien die Probanden merkten, ob sie das aktive Medikament mit dem chemischen Wirkstoff oder das Scheinmedikament ohne Wirkstoff erhielten. Jene mit dem aktiven Wirkstoff litten nämlich unter Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Magenbeschwerden, die anderen nicht. Es scheint folgender (unbewusste) Ablauf vorhanden zu sein: Wow, ich habe den aktiven Wirkstoff und mir wird es sicher bald besser gehen. Die Probanden scheinen davon ausgegangen zu sein, dass der Wirkstoff nützt. Diese könnten deshalb einen stärkeren Placeboeffekt entwickelt haben.

Die These von Irving Kirsch, dass Antidepressiva einfach Super-Placebos sind, wird gestützt durch andere Studien. Antidepressiva wurden auch mit Medikamenten aus anderen Bereichen der Medizin, z.B. Medikamenten gegen Magenbeschwerden, verglichen. Das sind also Scheinmedikamente gegen die Depression, aber aktive Medikamente gegen z.B. Magenbeschwerden. Es sind also aktive Placebos. Die aktiven Placebos können auch Nebenwirkungen verursachen. Die aktiven Placebos waren gleich wirksam wie Antidepressivas selbst! Der Unterschied scheint auf dem vorhanden sein von Nebenwirkungen zu beruhen. Zudem ist der Effekt der Antidepressiva nicht Dosis-abhängig, im Gegensatz zu deren Nebenwirkungen.

Die modernen SSRI, SNRI oder NARI Antidepressiva basieren auf der Hypothese, dass die Depression durch einen Mangel am Hirnbotenstoff Serotonin (umgangssprachlich auch Glückshormon bezeichnet) ausgelöst wird (chemical imbalance theorie). Die Theorie: Sorgt man dafür, dass genug Serotonin vorhanden ist, wird das Problem der Depression behoben. Die Theorie tönt auf den ersten Blick einleuchtend und gut. Doch diese in den 50er Jahren entwickelte Theorie ist wohl viel zu simpel, um eine so komplexe Krankheit wie die Depression zu erklären.

Zusammenfassung

  • Die Wirkung der Antidepressivas kommt nicht vom enthaltenen Wirkstoff. Die modernen Antidepressivas sind nichts anderes als Placebos.
  • «Negative Studien» werden verheimlicht.
  • «Positive Studien» wurden mehrfach veröffentlicht.
  • «Mittelmässige Studien» wurden geschönt und als «positive» dargestellt.
  • Eine riesige Marketingmaschinerie, die bis zur Korruption reichte, wurde für die Antidepressivas in Gang gesetzt.

Referenzen

Dieser Artikel basiert auf dem Buch von Irving Kirsch «The emperor’s new drugs»5.

Interessent ist ebenfalls die CBS-Fernsehsendung6 und das Interview7 von Irving Kirsch. Empfehlenswert ist der deutschsprachige Artikel «Des Kaisers neue Drogen»8.


  1. Forschungsartikel: Listening to Prozac but hearing placebo: A meta-analysis of antidepressant medication, Kirsch I, Sapirstein G. , Prevention & Treatment; Prevention & Treatment, 1998, 1(2):2a 

  2. Es ist ein Skandal, dass Studiendaten selektiv veröffentlicht werden. Das wissenschaftliche Prinzip wird komplett unterlaufen. Wissenschaft wird verunmöglicht. Anfang 2013 wurde deshalb die AllTrials-Initiative von Ben Goldacre gestartet, die eine vollständige Veröffentlichung von medizinischen Studien zum Ziel hat. Jetzt die AllTrials-Petition unterschreiben! 

  3. Forschungsartikel: The emperor’s new drugs: An analysis of antidepressant medication data submitted to the U.S. Food and Drug Administration, Kirsch I u.a, Prevention & Treatment, 2002, 5(1) 

  4. Forschungsartikel: Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food and Drug Administration, Kirsch I u.a. , PLoS Med, 26. Feb. 2008, 5(2):e45, doi:10.1371/journal.pmed.0050045 

  5. Buch: The Emperor’s New Drugs: Exploding the Antidepressant Myth, Irving Kirsch, Vintage Digital, 2009 

  6. Fernsehsendung: Treating Depression: Is there a placebo effect?, CBSNews.com, 19. Feb. 2012, Direktlink CBS 

  7. Interview: Do Antidepressants Work? Interview With Irving Kirsch, AARP Bulletin, 2010 

  8. Deutschsprachiger Artikel: Des Kaisers neue Drogen, Der Freitag, 19. Dez. 2009