Die Geschichte der »Augenmigräne« – Über die Einheit episodisch wiederkehrender Anfälle

»Es dauert 50 Jahre, um eine falsche Vorstellung aus der Medizin herauszubekommen und 100 Jahre, um eine richtige in der Medizin hineinzubekommen.« Dieses Zitat, des englischen Vaters der Neurologie und »Tollhaus-Theoretikers«, den einige in den Rang eines Albert Einsteins erhoben, könnte sich als zu optimistisch erweisen. Erst knapp 150 Jahre nachdem er für eine Idee warb, setzt sie langsam durch: die Einheit elektrischer Entladungen im Nervengeflecht der grauen Substanz. Prolog Im Internet kommt immer mal wieder der Begriff »Augenmigräne« auf. So auchweiter

Vorboten der Migräne verschmelzen mit ihren Auslösern

Licht-, Geruchs- und Lärmempfindlichkeit treffen auf Licht, Gerüche und Lärm: eine neue klinische Studie belegt, dass Vorboten der Migräneanfälle sich systematisch mit Auslösern decken. Das stärkt die Kipppunkt-Theorie der Migräne, die einen Mechanismus angibt und ein Verschmelzen von Vorboten mit Auslösern vorhersagt.  Als wir ein Kipppunkt-Modell für Migräne vorschlugen, gab es nur kleinere Studien sowie unzählige Anekdoten. Doch weder mathematische Theorien noch Anekdoten klären empirischen Fragen. Deswegen wurde nun in einer retrospektiven Kohortenstudie mit 1010 Migräne-Patienten nachgeschaut – und es finden sich tatsächlich systematisch Belege, dieweiter

Krankheit und Dynamik in Zeiten mobiler Gesundheitsdienste

Vor etwa 170 Jahren erhob die Physiologie den Anspruch eine „organische Physik“ zu sein. Als dieser Anspruch Mitte der 1970er Jahre mit dem Begriff „dynamische Krankheit“ im Grunde neu formuliert wurde, hielten ihn viele längst für verjährt. Erst heute mit dem Aufkommen mobiler Gesundheitsdienste sehen wir Anzeichen, dass dieser Anspruch noch erfüllt werden könnte.  Krankheiten werden manchmal mit einem Adjektiv versehn. Eine schwere Krankheit, ein unheilbare Krankheit oder auch eine häufige Krankheit. So wird ein Bezug zur Verlaufsform genommen oder etwas über die Verbreitungweiter

Entwicklung zentraler Mustergeneratoren als physiologisches Modell der Migräne

Über das, was ich drei Monate am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden mache. Man muss nicht Migräneforschung als Physik oder Ingenieurwissenschaft begreifen. Aber man kann. Ich bin gerade Gast am besagten MPI in Dresden in der Abteilung Biologische Physik. In dieser Zeit kann ich ein zeitlich begrenztes Projekt durchführen. Vorgenommen habe ich mir die Entwicklung zentraler Mustergeneratoren vom Arbeitsmodell zum physiologischen Modell der Migräne. Das sind die ersten zwei Schritte eines größeren Projektes. Das Teilziel dieses begrenzten Projektes ist ein minimales physiologischesweiter

Workshop über Cortical Spreading Depression und verwandte neurologische Phänomene

Am Wochenende geht es los nach Kanada zum Workshop über Cortical Spreading Depression (CSD) und verwandte neurologische Phänomene. Kurz gesagt ist CSD ein wichtiges pathophysiologische Phänomen des Hirns. Kortikale Gehirnzellen “verhungern” kurzzeitig und diese Depression breitet sich aus. Ich hatte über CSD, Migräne und die letzten offenen Fragen schon im November 2013 geschrieben. Wir hoffen einige davon nun angehen zu können. Wir werden diese nicht in einer Workshopwoche lösen, aber vielleicht doch eine Road Map für die kommenden Jahre abstecken können. (Link zumweiter

“Übererregung”, “Hemmung” und “Reaktionsfähigkeit” bei Migräne

Wir haben eine neue Veröffentlichung in PeerJ* in der wir den bei Migräne oft genutzten Charakterisierungen  wie “Übererregung”, “Hemmung” und “Reaktionsfähigkeit” auf den systemmedizinschen Grund gehen. Eine seltene Mutation bei Migräne führt zu Funktionsveränderungen in den Natriumkanälen der Zellmembran.† Dadurch verändert sich die Geschwindigkeit mit der sich der Kanal öffnet und wieder schließt. Soviel zu den Veränderungen in einem großen Molekül. Was aber passiert daraufhin in einer Gehirnzelle? Was passiert im Nervengewebe? Was im Gehirn als ganzes Organ? Was im Körper? Welcheweiter

Wie Gehirnzellen Dampf ablassen

Übererregung der Nervenzellen bei Migräne und Schlaganfall kann als idealisierter thermodynamischer Kreisprozess beschrieben werden. Wir veröffentlichten ein neues Manuskript auf arXiv. Niklas Hübel und ich untersuchen dort eine Erweiterung der klassischen Theorie von Hodgkin und Huxley (Nobelpreis 1963). Diese Theorie beschreibt in ihrer sprünglichen Fassung Nervenimpulse (Spikes). Spikes sind die Basis auf der die ganze Kommunikation zwischen Nervenzellen aufbaut, also die Bits und Bytes der Gehirnfunktionen. Der zugrundeliegende Mechanismus für einen Spike ist ein Alles-oder-Nichts-Phänomen, was man auch mit “Anregbarkeit”weiter

Welche wissenschaftliche Idee ist bereit für den Ruhestand? Elektrische Ersatzschaltbilder.

Jedes Jahr fordert uns Edge mit einer Frage heraus. “Welche wissenschaftliche Idee ist bereit für den Ruhestand?” heißt sie dieses Jahr. Leider antworten auf Edge viele ausweichend, zumindest nicht in dem Sinn der Frage: Für welche wichtige Wahrheit finden Sie bei anderen nur wenig Zustimmung? Die Frage ist also konkret. Gesucht wird eine wissenschaftliche Idee. Meine kurze Antwort: die Sprache der elektrischen Schaltbilder für Vorgänge an den Zellwänden. Auf meinen Vorschlag, das will ich sofort gerne zugeben, wäre ich alleine vielleicht nie gekommen undweiter

Abbrennen einer Lunte – unbelebte Modelle in der Biologie

Ein explosibles Gasgemisch, ein Stück passives Eisen in nicht zu konzentrieter Salpetersäure und ein lebender Nerv im Ruhezustand haben miteinander gewisse Ähnlichkeiten. Gegenüber kleinen vorübergehenden Störungen ist ihr Zustand stabil; überschreitet aber die Störung eine gewisse Größe, so tritt ein Ereignis ein, das man beim explosiblen Gemisch als „Entzündung“, beim passiven Eisen als „Aktivierung“, beim Nerv als „Erregung“ bezeichnet. In allen drei Fällen bleibt das Ergebnis nicht auf den Ort der Störung beschränkt, sondern es breitet sich über das ganzeweiter