Berichterstattung über Antidepressiva: neue Diskussionsbeiträge

Fountoulakis K: The media and intellectuals’ response to medical publications: the antidepressants’ case. Annals of General Psychiatry 2013, 12:11 doi:10.1186/1744-859X-12-11

Abstract

During the last decade, there was a debate concerning the true efficacy of antidepressants. Several papers were published in scientific journals, but many articles were also published in the lay press and the internet both by medical scientists and academics from other disciplines or representatives of societies or initiatives. The current paper analyzes the articles authored by three representative opinion makers: one academic in medicine, one academic in philosophical studies, and a representative of an activists’ group against the use of antidepressants. All three articles share similar gaps in knowledge and understanding of the scientific data and also are driven by an ‘existential-like’ ideology. In our opinion, these articles have misinterpreted the scientific data, and they as such may misinform or mislead the general public and policy makers, which could have a potential impact upon public health. It seems that this line of thought represents another aspect of the stigma attached to people suffering from mental illness.

Stellungnahme der DGPPN zur ARD-Reportage „Gefährliche Glückspillen – Milliardenprofite mit Antidepressiva“:

Die Sendung hat in Deutschland ein großes Medienecho ausgelöst und viele Patientinnen und Patienten, die mit Antidepressiva behandelt werden, erheblich verunsichert. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) nimmt dies zum Anlass, um über die Chancen und Risiken der Behandlung von Depressionen mit SSRI aufzuklären.

Abstillen und Psychopharmaka

Abstillen und Psychopharmaka Wenn eine psychopharmakologische Medikation bei einer stillenden Patientin erforderlich wird, stellen sich immer zwei Fragen: 1. Geht das Psychopharmakon in die Muttermilch über? Fast immer ja. So wie auch fast alle Psychopharmaka plazentagängig sind. Das liegt daran, dass Psychopharmaka immer die Blut-Hirn Schranke passieren können müssen, sonst würden sie ja nicht an … … Weiterlesen

Korrektes Wording in der Psychiatrie

In Arztbriefen liest man ja immer mal wieder Versuche, die Realität zu beschreiben, die über den eigenen grammatikalischen oder psychologischen Furor stolpern. Hier die Auflösung, was geht und was man statt dessen manchmal liest: Die Realität: Maria sagt: “Ich sauge Staub.” Korrekte indirekte Rede: Maria sagt, sie sauge Staub. Korrekte indirekte Rede in der Vergangenheitsform: … … Weiterlesen

Hoffnung für Borderliner

Verlauf und Prognose der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD10 F60.3) sind günstiger, als oft angenommen:

Offensichtlich verschwindet die Störung bei vielen im Lauf des Lebens, weil die Betroffenen Selbstheilungskräfte entwickeln, die es ihnen ermöglichen, die Krankheitssymptome zu kompensieren (RAHN).

Der Langzeitverlauf der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist besser als der Kurzzeitverlauf: über 40% der jemals-remittierten Borderline-Patienten erhielten zum Zeitpunkt eines Sechs-Jahres-Follow-up einen GAF-Wert im guten Bereich, und über 65 % hatten ein gutes allgemeines psychosoziales Funktionsniveau erreicht oder beibehalten. Das psychosoziale Funktionsniveau von remittierten Patienten verbesserte sich im Lauf der Zeit. Insgesamt ergibt sich ein positiveres Bild zur Entwicklung der Borderline-Persönlichkeitsstörung als in früheren Studien (ZANARINI).

Fast die Hälfte stationärer Borderline-Patientinnen wünscht sich Arbeit in einem helfenden Beruf, 18% arbeiten in einem solchen. Es gibt keine Studien, in denen Zusammenhänge zwischen Borderline-Struktur und dem Ergreifen eines helfenden Berufs untersucht wurden. Daher ist keine Aussage darüber möglich, wie groß die Chance beruflichen Erfolgs oder wie hoch das Risiko des Scheiterns ist. Bei entsprechender Fähigkeit zur Selbstfürsorge und Distanzwahrung (die man durchaus erlernen kann) stellt die Diagnose allein kein absolutes Ausschlusskriterium dar (DULZ).

Das schulische und berufliche Ausbildungsniveau der Diagnosegruppe F60.3 entsprach 2004 in etwa dem der deutschen Durchschnittsbevölkerung. Die BPS findet sich fast nie als Begründung für einen Rentenantrag. 40% der an BPS erkrankten Bevölkerung leben hoch funktionsfähig. Eine Heilung der BPS erscheint möglich und setzt die psychosoziale Integration voraus. Die Nachhaltigkeit einer einmal erreichten Remission stützt sich wiederum essenziell auf eine umfassende soziale und individuell adäquate berufliche Integration. Eine dem individuellen Niveau der Patienten angemessene soziale wie berufliche Integration hilft, negative Prägungen zu bewältigen. Eine zufriedenstellende, erfolgreiche berufliche Funktion ist für Patienten mit BPS sogar ausschlaggebendes Merkmal für einen guten psychosozialen Status. Eine intensive psychosoziale Begleitung und Analyse beruflicher Schwierigkeiten ist aber unverzichtbar, um krankheitsbedingte Ursachen aufzudecken und zu verarbeiten (GESCHER).

Quellenangaben auf der Folgeseite

“Hoffnung für Borderliner” vollständig lesen

Wer kennt ein gutes Psychotherapie-Lehrbuch für Einsteiger?

Ich wurde unlängst von einer jungen Ärztin nach einem Buch gefragt, das demjenigen, der lernen will, als Therapeut Psychotherapie zu machen, einen guten Einstieg ermöglicht. Entweder verhaltenstherapeutisch oder allgemein angelegt. Ich habe die Romane von Yalom erwähnt und ein Kurzlehrbuch der Verhaltenstherapie, wußte aber so recht keine gute und gut lesbare Empfehlung. Womit habt ihr […]

Irving Kirsch: Moderne Antidepressiva sind «Super-Placebos»

Wie gut wirken moderne SSRI, SNRI oder NARI Antidepressiva? Was ist der Wirkmechanismus dieser Antidepressiva? Was sagen Studien? Wer ist Irving Kirsch? Worauf stützt sich die These von Irving Kirsch? Was sind Placebos? Was ist der Placebo-Effekt? Warum wirken Placebos?

Irving Kirsch ist ein britischer Psychologie-Professor an der Harvard Medical School. Zu seinen Forschungsgebieten gehört der Placeboeffekt.

Placebos sind Medikamente ohne Wirkstoff. Scheinmedikamente. Auf englisch werden Placebos häufig als Sugar Pills, also als Zuckerpillen bezeichnet. Das erstaunliche ist nun, dass diese Placebos trotzdem wirken können. Schmerzen werden gelindert und Beschwerden verschwinden. Solche Effekte können erstaunlicherweise physiologisch gemessen werden, z.B. werden die selben Hirnregionen wie bei den «richtigen Medikamenten» aktiviert. Das Interesse am Placebo-Effekt ist in den letzten Jahren erwacht. Wann wirken Placebos? Warum wirken Placebos?

Alle neuen Medikamente müssen zur Zulassung mit Placebos verglichen werden. Sie müssen beweisen, dass der eingesetzte Wirkstoff wirksam ist. Das neue Medikament muss besser wirken als ein Scheinmedikament. Irving Kirsch begann für seine Placeboforschung die Placbogruppen der wissenschaftlichen Literatur der Antidepressiva zu analysieren. Konkret machte er eine Metaanalyse. Er fasste die Daten vieler Studien in einer Metaanalyse1 zusammen.

Bei seiner Recherche fand er, dass Placebos annähernd so gut wirkten wie die Antidepressiva. Er war irritiert, da er die Medikamente vom Pharmamarketing als hochwirksame Medikamente kennenlernte. Er bekam vielfältige Reaktionen: Grosse Ablehnung seiner Methode wie grosse Unterstützung.

Bei der Analyse wurde klar, dass noch mehr Daten vorhanden sein mussten.

Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA verlangt von den Pharmafirmen alle Studienrohdaten vor der Zulassung, damit sie eigene Analysen durchführen kann. Bei der FDA mussten also noch mehr Studiendaten vorhanden sein.

Wie ist es möglich an die zusätzlichen Studiendaten zu kommen?

Ganz einfach, jeder US Bürger kann Einsicht in Behördendaten verlangen. Die USA haben nämlich seit den 70er Jahren ein Open Data-Gesetz, den Freedom of Information Act. Denn es gilt der einfache Grundsatz: Die Regierung und die Behörden der USA sind für ihre Bürger da. So sollen die Bürger auch die Daten ihrer Behörden einsehen können. (In der Schweiz gibt es übrigens seit 2006 das Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) mit der gleichen Funktion.) Ein Forscher aus den USA verlangte Einsicht in die Studiendaten der Antidepressiva der FDA.

Siehe da. Viele Studien wurden gar nicht veröffentlicht. Und dies sind vor allem Studien, die «negative Resultate» zeigten. Die vorhandene wissenschaftliche Literatur war stark irreführend. Schlechte Studien wurden nicht veröffentlicht und gute im Gegenzug mehrfach (publication bias).2

Interessanterweise waren die verheimlichten Studien und die mehrheitlich schlechten Studien nichts völlig neues. Experten aus diesem Forschungszweig war dies bekannt. Nur wurden diese Informationen den «normalen Ärzten» und den Patienten vorenthalten!

Irving Kirsch wiederholte mit den neuen FDA-Studiendaten seine Metaanalyse34. Der Unterschied zwischen Placebos und den Antidepressivas wurde noch kleiner. Zwischen den Antidepressiva und den Placebos gab es einen kleinen, im klinischen Krankheitsalltag kaum feststellbaren Unterschied.

Irving Kirsch fragte sich, was den kleinen Unterschied zwischen den Antidepressivas und den Placebos ausmachen könnte. Er prüfte verschiedene Thesen. Schliesslich konnte er es sich nur erklären, dass Antidepressivas «Super-Placebos» sind. Placebos sind nämlich nicht gleich Placebos. Zweimal täglich ein Scheinmedikament wirkt besser als eines. Und eine Placebospritze wirkt besser als zwei tägliche Scheinmedikamente. Seine Erklärung ist, dass während den Studien die Probanden merkten, ob sie das aktive Medikament mit dem chemischen Wirkstoff oder das Scheinmedikament ohne Wirkstoff erhielten. Jene mit dem aktiven Wirkstoff litten nämlich unter Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Magenbeschwerden, die anderen nicht. Es scheint folgender (unbewusste) Ablauf vorhanden zu sein: Wow, ich habe den aktiven Wirkstoff und mir wird es sicher bald besser gehen. Die Probanden scheinen davon ausgegangen zu sein, dass der Wirkstoff nützt. Diese könnten deshalb einen stärkeren Placeboeffekt entwickelt haben.

Die These von Irving Kirsch, dass Antidepressiva einfach Super-Placebos sind, wird gestützt durch andere Studien. Antidepressiva wurden auch mit Medikamenten aus anderen Bereichen der Medizin, z.B. Medikamenten gegen Magenbeschwerden, verglichen. Das sind also Scheinmedikamente gegen die Depression, aber aktive Medikamente gegen z.B. Magenbeschwerden. Es sind also aktive Placebos. Die aktiven Placebos können auch Nebenwirkungen verursachen. Die aktiven Placebos waren gleich wirksam wie Antidepressivas selbst! Der Unterschied scheint auf dem vorhanden sein von Nebenwirkungen zu beruhen. Zudem ist der Effekt der Antidepressiva nicht Dosis-abhängig, im Gegensatz zu deren Nebenwirkungen.

Die modernen SSRI, SNRI oder NARI Antidepressiva basieren auf der Hypothese, dass die Depression durch einen Mangel am Hirnbotenstoff Serotonin (umgangssprachlich auch Glückshormon bezeichnet) ausgelöst wird (chemical imbalance theorie). Die Theorie: Sorgt man dafür, dass genug Serotonin vorhanden ist, wird das Problem der Depression behoben. Die Theorie tönt auf den ersten Blick einleuchtend und gut. Doch diese in den 50er Jahren entwickelte Theorie ist wohl viel zu simpel, um eine so komplexe Krankheit wie die Depression zu erklären.

Zusammenfassung

  • Die Wirkung der Antidepressivas kommt nicht vom enthaltenen Wirkstoff. Die modernen Antidepressivas sind nichts anderes als Placebos.
  • «Negative Studien» werden verheimlicht.
  • «Positive Studien» wurden mehrfach veröffentlicht.
  • «Mittelmässige Studien» wurden geschönt und als «positive» dargestellt.
  • Eine riesige Marketingmaschinerie, die bis zur Korruption reichte, wurde für die Antidepressivas in Gang gesetzt.

Referenzen

Dieser Artikel basiert auf dem Buch von Irving Kirsch «The emperor’s new drugs»5.

Interessent ist ebenfalls die CBS-Fernsehsendung6 und das Interview7 von Irving Kirsch. Empfehlenswert ist der deutschsprachige Artikel «Des Kaisers neue Drogen»8.


  1. Forschungsartikel: Listening to Prozac but hearing placebo: A meta-analysis of antidepressant medication, Kirsch I, Sapirstein G. , Prevention & Treatment; Prevention & Treatment, 1998, 1(2):2a 

  2. Es ist ein Skandal, dass Studiendaten selektiv veröffentlicht werden. Das wissenschaftliche Prinzip wird komplett unterlaufen. Wissenschaft wird verunmöglicht. Anfang 2013 wurde deshalb die AllTrials-Initiative von Ben Goldacre gestartet, die eine vollständige Veröffentlichung von medizinischen Studien zum Ziel hat. Jetzt die AllTrials-Petition unterschreiben! 

  3. Forschungsartikel: The emperor’s new drugs: An analysis of antidepressant medication data submitted to the U.S. Food and Drug Administration, Kirsch I u.a, Prevention & Treatment, 2002, 5(1) 

  4. Forschungsartikel: Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food and Drug Administration, Kirsch I u.a. , PLoS Med, 26. Feb. 2008, 5(2):e45, doi:10.1371/journal.pmed.0050045 

  5. Buch: The Emperor’s New Drugs: Exploding the Antidepressant Myth, Irving Kirsch, Vintage Digital, 2009 

  6. Fernsehsendung: Treating Depression: Is there a placebo effect?, CBSNews.com, 19. Feb. 2012, Direktlink CBS 

  7. Interview: Do Antidepressants Work? Interview With Irving Kirsch, AARP Bulletin, 2010 

  8. Deutschsprachiger Artikel: Des Kaisers neue Drogen, Der Freitag, 19. Dez. 2009 

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Depot Neuroleptika Depotneuroleptika können in manchen Fällen praktischer sein als oral gegebene Neuroleptika, namentlich, wenn der Patient diese Applikation bevorzugt und eine orale Medikation auf praktische Schwierigkeiten trifft. Eine Depotmedikation ist jedoch ungeeignet, wenn der Patient die Medikation an sich nicht wünscht. Depotgaben gehen, anders als die Tablettenform, regelmäßig mit der Gefahr einher, dass ein … … Weiterlesen

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Um pharmama, die sich gerade von ihrer google-Werbung befreit hat, zu unterstützen, habe ich mich mal bei flattr registriert. Da kann man ein monatliches Budget (3€, 5€, 8€ oder irgendwas anderes) einzahlen, und im Laufe des surfens auf die Content Ersteller verteilen, deren Beiträge man gut findet. Wenn man zum Beispiel 5€ im Monat dafür […]